Politische Bildung: Konstantes Hinterfragen

In den letzten Jahren sind Demokratieverdrossenheit, Verschwörungstheorien und soziale Medien verstärkt in den Fokus des Zentrum fir politesch Bildung (ZpB) geraten. Die woxx hat mit dessen Direktor Marc Schoentgen über aktuelle Herausforderungen gesprochen.

„Es ist Aufgabe politischer Bildung, unangenehme oder kontroverse Themen aufzugreifen“, sagt Marc Schoentgen im Gespräch mit der woxx. Das tut das ZpB etwa im Rahmen der hier abgebildeten Aktivität „DemokratieLabo“.
 (Fotos: ZpB)

woxx: Das Zentrum für politische Bildung besteht nun schon seit sechs Jahren. Wie haben sich Ihre Themenschwerpunkte und Zielgruppen in diesen Jahren verändert?


Marc Schoentgen: Wir haben einige Basic-Themen, die sind immer noch die gleichen wie am Anfang. In den letzten Jahren sind unsere Inhalte aber immer wieder von der politischen Aktualität bestimmt worden. Das war erstmals der Fall, als Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Da kamen sowohl bei den Jungen wie bei den Älteren Fragen auf wie: Was bedeutet das für die Demokratie? Was bedeutet das für die Politik insgesamt? Damit verbunden waren auch gewisse Ängste. Das zweite Ereignis, das sich auf unsere Aktivitäten ausgewirkt hat, war die Pandemie. Damit hängen auch Themen wie Fake News, die Wichtigkeit von Medienbildung und die Konsequenzen der Digitalisierung zusammen. Letzteres ist nicht nur ein Thema für uns, sondern auch ein Mittel, das wir im Rahmen unserer Arbeit nutzen. In den letzten sechs Jahren hat sich also sehr viel getan, was unsere Themenschwerpunkte betrifft. Anfangs waren wir ganz auf den formalen Bildungsbereich ausgerichtet und diesbezüglich haben wir auch immer noch ein großes Angebot. Zunehmend als Zielgruppe in den Blick geraten sind Kinder und Jugendliche in nicht-formalen Strukturen, in Jugendhäusern etwa. Und dann sind die Erwachsenen mittlerweile eine für uns sehr viel wichtigere Zielgruppe, als das zu Beginn der Fall war. Was wir bis vor zwei Jahren noch nicht so auf dem Schirm hatten, waren Verschwörungstheorien, Menschen, die an der Demokratie zweifeln, oder auch etwa Filterblasen. Davon sind ja auch Personen über 40 betroffen. Unser Fokus liegt allerdings immer noch darauf, Kinder und Jugendliche auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Allgemein besteht ein großes Interesse an politischer Bildung. Das Vorurteil, dass Jugendliche sich für nichts interessieren, ist in meinen Augen nicht gerechtfertigt. Die Herausforderung besteht darin, das richtige Format und die richtige Sprache zu finden, um Menschen mit politischer Bildung zu erreichen.

Wie erreicht man denn diejenigen, die sich nicht eh schon für die von Ihnen behandelten Themen interessieren?


Diese Schwelle zu überwinden, ist in der Tat nicht einfach. Wir haben jetzt ein neues Tool, das ab Januar zum Einsatz kommt: die Super-Wal-Kiermes, ein rot-weiß gestreiftes Kirmeszelt im Retrostil, mit dem wir versuchen, Menschen auf Dorffesten, in Einkaufzentren und so weiter auf spielerische Weise zu erreichen.

Sie haben vorhin die non-formalen Strukturen angesprochen. Sind Sie auch in der Jugendstrafanstalt Unisec aktiv? Beziehungsweise findet dort Ihres Wissens überhaupt politische Bildung statt?


Die Jugendlichen werden dort unterrichtet, wie viel Instruction civique oder Education à la citoyenneté allerdings im Schulalltag Platz findet, weiß ich allerdings nicht. Wir als ZpB sind dort bis jetzt noch nicht interveniert und haben auch kein darauf zugeschnittenes Angebot. Das, was wir für die Regelschule und die Jugendhäuser ausgearbeitet haben, wird aber auch in solchen Kontexten genutzt. Auch in der Jugendpsychiatrie etwa. Was Interventionen durch das ZpB in der Unisec betrifft: Was nicht ist, kann ja noch werden, je nach Nachfrage durch die Institution. Es wäre auf jeden Fall interessant, mit inhaftierten Jugendlichen über den Rechtsstaat zu diskutieren. Auch sie haben ein Recht, über ihre politischen Rechte aufgeklärt zu werden. Viele von ihnen sind entweder bereits wahlberechtigt oder stehen kurz davor, es ist also wichtig, ihnen zu vermitteln, dass auch ihnen dieses Recht zusteht. Sie sind ja Bürger und Bürgerinnen wie alle anderen und sind auch genauso ein Teil unserer Gesellschaft.

„Ich denke es gibt vieles, das für Jugendliche heutzutage relevanter ist als das, was auf dem Schulprogramm steht.“

Ohne den Altersdurchschnitt der ZpB-Mitarbeiter*innen zu kennen: Wie bleiben Sie darüber informiert, was Kinder und Jugendliche heutzutage bewegt, wie sie ihre Freizeit verbringen, woher sie ihre Informationen beziehen?


Die jüngste Person in unserem Team ist Mitte zwanzig, vom Alter her sind wir also in der Tat weit weg von den 15-Jährigen. Zum einen lesen wir die jährlich publizierten Jugendberichte sowie Studien aus dem Ausland. Eine zweite wichtige Informationsquelle für uns ist das Lehrpersonal, welches ja im täglichen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ist. Wir kommen durch unsere Workshops – DemokratieLabo, DemocraCity – aber auch selbst in Kontakt mit dieser Zielgruppe. Das ist immer eine gute Gelegenheit, um zu fragen: Was ist euch wichtig in der Politik, in der Gesellschaft? Was wünscht ihr euch für eure Zukunft? Da muss man aber unentwegt dranbleiben, weil es neue gesellschaftliche Trends gibt. Auch weil der digitale Bereich sich im ständigen Wandel befindet.

Sie bieten auf Ihrer Internetseite ein Tool an, um Fake News besser als das zu erkennen, was sie sind. Gleichzeitig wird in der Schule kein solch konsequentes Hinterfragen von Lerninhalten gefördert. Lässt unser aktuelles Schulsystem ausreichend Raum, um Quellen zu überprüfen und Informationen zu hinterfragen?


Ich will Ihnen nichts vormachen: Das ist sehr unterschiedlich je nach Fach und je nach Klassensaal. Doch unabhängig von dem, was in der Schule passiert: Das Buch ist längst nicht mehr die einzige Informationsquelle der Schüler, parallel wird immer auch im Internet recherchiert. Unter Jugendlichen ist es ein Reflex, sich per Smartphone stets auf die Suche nach zusätzlichen Informationen zu begeben. Sie lassen sich dann etwa Mathe oder Geschichte über einen Youtube-Kanal erklären oder nutzen Social Media oder Chatgruppen. Die Herausforderung besteht darin, diese Informationen durch Quellenüberprüfung richtig einzuordnen und zu bewerten. Selbst ein Schulbuch beinhaltet nicht immer die ganze Wahrheit, es handelt sich immer nur um eine Auswahl. Die zentrale Kompetenz, die die Medienbildung vermitteln soll, ist das konstante Hinterfragen. Das ist eine transversale Kompetenz, die in jedem Fach gefördert werden muss.

Marc Schoentgen arbeitete als Geschichtslehrer, bevor er 2016 zum Direktor des damals neu gegründeten Zentrums fir politesch Bildung ernannt wurde.

Dieses Hinterfragen stößt angesichts eines Kanons, der durchgenommen und anschließend geprüft werden muss, jedoch an seine Grenzen.


Ja. Es stellt sich immer die Frage: Richten wir uns nach den Interessen der Schüler und Schülerinnen oder nach einem Kanon, der irgendwann von irgendjemandem aufgestellt wurde. Ich denke es gibt vieles, das für Jugendliche heutzutage relevanter ist als das, was auf dem Schulprogramm steht. Deshalb plädiere ich dafür, stärker von den Interessen der Schüler auszugehen. Auch von ihren politischen Interessen. Was in der Ausstellung „Le passé colonial du Luxembourg“ thematisiert wird, findet man zum Beispiel in keinem Schulbuch. Einzig der Kolonialismus anderer Länder wird thematisiert, nicht aber unser eigener. Es braucht leider immer seine Zeit bis neue Forschungsergebnisse ihren Weg in die Schulen finden. Auch die politische Bildung muss sich fragen, wo ihre Themenschwerpunkte über den Kanon hinaus liegen. Sollte sie sich mit der Frage des Kolonialismus oder der Erinnerung an den Kolonialismus befassen? Von dort aus lässt sich ein Bogen schließen zu: Gibt es denn auch heute noch eine kolonialistisch geprägte Sicht auf Afrika? Das sind Fragen, mit denen wir uns durchaus befassen müssen. Es ist Aufgabe politischer Bildung, unangenehme oder kontroverse Themen aufzugreifen. Gender und Klima etwa sind heute Themen der politischen Bildung. Das war vor fünf Jahren noch nicht so sehr der Fall. Im Gegensatz zum Schulsystem können wir als ZpB aktuelle Diskurse sehr viel schneller in unser Angebot aufnehmen.

„Im Gegensatz zum Schulsystem können wir als ZpB aktuelle Diskurse sehr viel schneller in unser Angebot aufnehmen.“

Wie würden Sie etwa die Aktionen der Letzten Generation mit Jugendlichen thematisieren?


Wir würden erst einmal Fragen stellen: Findet ihr die Aktionen gerechtfertigt? Sind die potenziellen Rechtsverletzungen gerechtfertigt? Wie weit kann man als außerparlamentarische Opposition gehen? Ist es legitim Gewalt anzuwenden? In den 1970er-Jahren wurde eine ähnliche Diskussion über die Rote Armee Fraktion geführt. Auch bezüglich der Letzten Generation fragen manche: Sind das Terroristen? Sind sie eine Gefahr für die Staatsordnung? Je nach Perspektive werden diese Aspekte unterschiedlich bewertet oder gar instrumentalisiert. Wer benutzt das Wort Klimaaktivist? Wer das Wort Klimaterrorist? Da steckt ja eine bestimmte politische Absicht dahinter. Das wäre die Diskussion, die wir mit Jugendlichen führen würden.

Sie haben vorhin Menschen erwähnt, die an der Demokratie zweifeln. Sind diese Menschen einfach nicht in den Genuss von ausreichend politischer Bildung gekommen oder was könnten die Ursachen dafür sein?


Schwierige Frage. Es wäre schon etwas anmaßend zu sagen, das liege an einem Mangel an politischer Bildung. Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen anfangen, an etwas zu zweifeln. Das hat nicht unbedingt etwas mit Bildung zu tun. Politische Bildung ist auf jeden Fall nicht das Allheilmittel gegen Demokratieverdrossenheit oder gegen Zweifel am politischen System. Sie kann aber einen Beitrag dagegen leisten. Ein Mensch kann jedenfalls alles über Demokratien wissen, was es zu wissen gibt, und sich trotzdem radikalisieren. Dann stellt sich auch noch die Frage: Was heißt überhaupt Demokratie? Und was heißt es, an der Demokratie zu zweifeln? Brauchen wir diesen Zweifel nicht sogar? Institutionen zu hinterfragen, ist ja eigentlich unterstützenswert. Wenn dieses Hinterfragen Ausmaße annimmt wie bei den Corona-Demos, wenn auf einmal Demokratie an sich in Frage gestellt wird, dann kann man das allerdings nicht mehr konstruktiv nennen.

Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Menschen in den sozialen Medien mehr mit Meinungen in Berührung kommen, die den ihren widersprechen, als in ihrem persönlichen Umfeld. Wieso dennoch diese Tendenz, Filterblasen als etwas Problematisches darzustellen? Müsste das ZpB dieser mangelnden Nuancierung nicht etwas entgegenstellen?


Im Rahmen der Medienbildung wird vermittelt, wie kritisch mit Quellen und dem Phänomen Internet umzugehen ist. Das heißt nicht, dass wir Internet oder Social Media verdammen. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, keine Frage. Wir stellen auf unserer Internetseite ein Tool zur Verfügung, mit dem man ermitteln kann, ob man in einer Filterblase steckt. Das geht über die sozialen Medien hinaus und kann zum Beispiel auch damit zusammenhängen, dass man außer Google nie eine andere Suchmaschine nutzt. Wer über die Wirkweise von Filterblasen und Algorithmen Bescheid weiß, kann weniger leicht instrumentalisiert werden. Zu dem anderen Aspekt, den Sie genannt haben: Klar, wenn ich immer nur mit den gleichen Freunden rede, bin ich ebenso in einer Bubble. Das ZpB reduziert Meinungsbildung deshalb keinesfalls auf den digitalen Raum. Bei unserer Aktivität, dem DemokratieLabo, gibt es die Aufgabe: Wo kommen deine Meinungen her? Wer beeinflusst dich in deinen Meinungen? Neben den sozialen Medien sind das natürlich auch die Eltern, die Freunde und so weiter. Es ist aber tatsächlich so, dass ein größeres Interesse in puncto Meinungsbildung im Internet besteht. Eltern und Lehrkräfte fühlen sich dieser gegenüber zum Teil sehr hilflos. Unser verstärkter Fokus darauf hat also auch damit zu tun.

Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Rolle der sozialen Medien in der Politisierung der Jugendlichen?


Extrem. Es ist ihre Hauptinformationsquelle. Es würde mich wundern, wenn viele Jugendliche Wahlabende besuchen, Wahlbroschüren oder -programme durchlesen oder die Internetseiten der Parteien besuchen würden. Diese Zeiten sind vorbei. Jugendliche informieren sich bei ihren Peers: Was schreiben meine Freunde in der Whatsapp-Gruppe? Was sagen Influencer auf Instagram und Tiktok? Das ist die Realität. Dessen sind sich viele nur noch nicht bewusst. Ich hoffe, dass die politischen Parteien sich dessen bewusst sind. Auch für die Medien und die Schule stellt das eine Herausforderung dar.


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