Alljährlich im April lockt das Roadburn Festival Tausende von Besucher*innen nach Tilburg im Süden der Niederlande. Im Laufe der Jahre wurde es zu einem Underground-Musikereignis mit einem fast schon legendären Ruf. Wir sprachen mit dem künstlerischen Leiter Walter Hoeijmakers über seine Vision für das Festival, die Folgen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine für solche Events und über einige Bands, auf die er sich besonders freut.
woxx: Wenn man sich das diesjährige Line-up des Roadburn Festivals anschaut, finden sich dort sowohl bekannte Namen als auch Bands, die es für viele wohl erst noch zu entdecken gilt. Wie werden die Bands ausgewählt?
Walter Hoeijmakers: Beim Roadburn versuchen wir, Heaviness neu zu definieren und wollen dabei auf eine Entdeckungsreise gehen. Einerseits würdigen wir Bands, die seit langem für neue Wege der Heaviness stehen und über die Jahre hinweg Wellen geschlagen haben. Andererseits suchen wir nach neuen, aufregenden Bands, die dasselbe tun, aber noch nicht die Gelegenheit hatten, vor einem größeren Publikum zu spielen. In diesem Sinne sind wir um ein ausgewogenes Line-up bemüht.
Gibt es hierfür klar definierte Kriterien?
Wir lassen uns dabei eher von unserem Bauchgefühl leiten. Die meisten der Bands auf dem Roadburn Festival haben ein gewisses Feuer in sich. Sie sind sehr leidenschaftlich, was ihre Kunst, ihre Musik angeht, sie verspüren die Dringlichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Das ist sehr wichtig für die Auswahl der Bands. Wir haben ein Auge darauf, was im Underground passiert und beobachten, ob es Stilrichtungen gibt, die gerade aufblühen, vorwärtstreiben und eine Eigendynamik entwickeln.
In Interviews verweisen Sie manchmal auf die dunklen Elemente in der Musik, die für Sie wichtig sind. Könnten Sie näher erläutern, was das emotional und ästhetisch für Sie bedeutet?
Ein großer Teil der Underground-Musik ist ziemlich düster, was den Klanghorizont und die damit verbundenen Gefühle anbelangt. Mit „dunkel“ meine ich nicht die dunklen Künste im Sinne von Leuten, die den Teufel anbeten oder so. Ich spreche von Menschen, die diese Art von Musik machen, um mit all den Schwierigkeiten in ihrem persönlichen Leben oder in der Welt zurechtzukommen. Meistens ist die Musik ein Spiegelbild ihres Kampfes mit dem Alltag. Sie machen Musik, weil sie sich Gehör verschaffen wollen, aber sie wollen sie auch als Katharsis nutzen. Sie wollen bestimmte Gefühle, Ängste oder einen Zustand des Unbehagens, der inneren Unruhe in ihrem Leben loswerden, und sie benutzen die Musik als Werkzeug dafür. Wenn Menschen Musik als Mittel zur Lebensbewältigung einsetzen, entsteht eine Art Spannung, die die Musik interessant macht, weil sie so echt ist. Für mich persönlich ist das die Musik, die ich am meisten mag und der ich beim Roadburn Festival eine Plattform geben möchte. Die meisten dieser Musiker*innen sind interessant, weil sie Musik in Kunst verwandeln. Sie führen den Hörer in eine neue Welt. Das war von Anfang an ein sehr wichtiger Teil von Roadburn: Wir möchten, dass die Leute, die unser Festival besuchen, auf eine Entdeckungsreise gehen, nicht nur in Bezug auf neue Musik, sondern dass sie auch neue Dinge in sich selbst entdecken. Und diese Art von düsterer Musik ist das perfekte Vehikel dafür.
„Wir achten darauf, ob es Stilrichtungen gibt, die gerade aufblühen, vorwärtstreiben und eine Eigendynamik entwickeln.“
Vertrauen Sie immer auf Ihr eigenes Urteilsvermögen, wenn es um die ästhetischen Aspekte bei der Auswahl einer bestimmten Band geht, oder haben Sie manchmal Angst, dass eine Band und ihr Auftritt sich als klischeehaft und kitschig herausstellen könnte?
Ich vertraue mir mehr oder weniger selbst, aber es ist immer gut, mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Wir hinterfragen uns ständig selbst und sprechen uns untereinander ab, um sicherzustellen, dass wir bei unserer Auswahl so treffsicher wie möglich sind. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass Roadburn zu einem Klischee verkommt. Wenn man die Poster und die Designs für das Festival als Beispiel nimmt, die Art und Weise, wie wir die Bands präsentieren, dann wollen wir immer etwas neues, anderes machen. Wir wollen Grenzen verschieben, und dazu zählt eben auch, dass man sich von der üblichen Ästhetik entfernt, die man von einem Festival wie Roadburn erwarten würde.
Haben Sie ein bestimmtes künstlerisches Konzept im Kopf, das Sie für jede Ausgabe des Festivals ändern, oder lassen Sie sich eher von dem leiten, was Sie gerade als interessant empfinden?
Es ist eine Kombination aus beidem. Wir haben ein Gespür dafür, was im Underground passiert und was wir beim Festival jedes Jahr repräsentieren und reflektieren wollen. Aber natürlich passiert so viel, und die Musik entwickelt sich ständig weiter, es gibt einen Austausch zwischen bestimmten Genres und Stilrichtungen. Wir spiegeln also einerseits das wider, was im Underground gerade passiert, und andererseits wollen wir auch ganz bewusst bestimmte Elemente herausstreichen, die wir für wichtig halten. Und dann wiederum, um auf die Frage zurückzukommen, die Sie zuvor gestellt haben, müssen wir sehr vorsichtig sein, dass wir nicht zu einem Klischee werden, belehrend oder elitär wirken oder so. Und das ist etwas, worüber wir jedes Jahr viel nachdenken und sprechen.
Sie haben also kein bestimmtes Thema, das Sie in den Mittelpunkt einer bestimmten Ausgabe des Festivals stellen?
Wir haben ein bestimmtes musikalisches Thema, das darauf beruht, was gerade an Neuem passiert. In den letzten Jahren ist viel elektronisch basierte Musik entstanden. Es lässt sich ein Wandel von den eher auf schweren Riffs und Gitarren basierenden Bands hin zu Bands beobachten, die mit Elektronik oder einer Mischung aus bestimmten Genres experimentieren. Deshalb konzentrierte das Festival sich im vergangenen Jahr ziemlich stark auf den Einfluss elektronischer Musik im Underground. Und 2023 beobachten wir, dass die Menschen verunsichert sind, was die Zukunft angeht, aufgrund der Pandemie, der globalen Krise, des Krieges in der Ukraine und so weiter. Dies spiegelt sich auch im Underground wider. Es gibt viele Bands, die wieder härtere Musik machen, mehr Punk, Post-Punk, Black Metal; es gibt auch eine Menge düsterer Folk-Musik, die all das anspricht, was gerade passiert. Viele Musiker*innen verspüren den Drang, sich Gehör zu verschaffen. Sie äußern ihre Meinung künstlerisch, bringen ihre Anliegen durch Musik zum Ausdruck. Das ist das, was wir in diesem Jahr akzentuieren wollen: Wir wollen die Dringlichkeit widerspiegeln, die wir im Moment wahrnehmen, die Dringlichkeit der Musiker*innen, sich Gehör zu verschaffen.
Das ist interessant, denn man könnte sich ja auch vorstellen, dass Formen der Realitätsflucht kultiviert werden, vor allem wenn man von Metal als musikalischem Genre spricht.
Ich würde eher sagen, dass die gesellschaftliche Entwicklung die Kunst beflügelt. Es gibt viele jüngere Bands, die aufgrund der globalen Krise und der post-pandemischen Situation künstlerisch aufblühen. Sie sagen ihre Meinung, sind progressiv und wollen nach vorne blicken, anstatt sich reaktionär und konservativ auf die alten Zeiten zu berufen und so zu tun, als wäre gestern alles in Ordnung gewesen. Genau darum geht es beim Roadburn Festival 2023 – musikalisch und künstlerisch voranzuschreiten. Und deshalb hat das diesjährige Line-up auch viele weniger bekannte Bands, denn wir suchen ganz bewusst nach diesen jungen und spannenden Bands.
Verglichen mit anderen Festivals für Heavy Metal oder extreme Musik scheint das Roadburn für ein sehr inklusives Programm zu stehen. Es sind viel mehr Frauen auf der Bühne als bei üblichen Metal-Festivals, queere Einstellungen haben eine Plattform, es spielen nicht nur Bands aus Europa und Nordamerika und so weiter. Inwieweit achten Sie bei der Planung speziell auf solche Aspekte?
Zunächst einmal ist das für uns keine Alibiangelegenheit, wir versuchen also nicht, eine Checkliste abzuhaken. In den letzten Jahren haben viele Frauen verdammt interessante Projekte gestartet, die musikalisch und künstlerisch genau in das Roadburn-Universum passen. Auch die Queer-Community schlägt hohe Wellen, wenn es um eine bestimmte, sehr harte und extreme Form von Musik geht. Es ist eine blühende Szene. Wir wollen ihnen allen eine Plattform geben, nicht weil sie queer sind, nicht weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Kunst. Sie haben musikalisch und künstlerisch viel zu sagen, aber sie sind auch die Stimme dieser aktuellen Generation von jungen Frauen, von queeren Menschen. Indem wir ihnen eine Plattform geben, bekommen wir ein diverseres Publikum, mehr Frauen, mehr Menschen aus der LGTBQI-Community. Mit diesem Ansatz wurden wir also tatsächlich immer inklusiver, aber immer auf der Grundlage von Kunst und Musik.
Würden Sie Roadburn demnach als ein politisches oder, sagen wir: politisch bewusstes Festival betrachten? Oder ist ihr Anspruch schlicht, dass sich die Leute einigermaßen vernünftig und menschlich verhalten?
Ich glaube eher, dass es von Letzterem herrührt, dass Roadburn ein „safe harbour“ für Menschen ist, die bestimmte Dinge teilen. Und wenn man zukunftsorientierte Musik und Kunst anbietet, zieht man auch zukunftsorientierte Menschen an. Wir hatten nie vor, Roadburn zu einem explizit politischen Festival zu machen, aber natürlich ist es sehr offensichtlich, wo Roadburn steht. Wir wollen inklusiv sein, wir wollen vielfältig sein, wir wollen fortschrittliche Musiker*innen zu Gast haben und ihnen eine Plattform für ihre Ideen und ihre Kunst bieten.
Wirkt sich auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine auf das Festival aus?
Natürlich sind wir davon betroffen. Fangen wir mit dem Publikum an: Wir hatten immer einige Leute aus Russland und der Ukraine, die nun nicht mehr zum Festival kommen können. Und normalerweise hätten wir ein größeres Augenmerk auf bestimmte russische und ukrainische Künstler*innen gelegt. Wir werden „White Ward“ aus der Ukraine zu Gast haben, und wir haben auch Këkht Aräkh von dort eingeladen, aber letztere können aufgrund von Visaproblemen nun doch nicht kommen. Russische Bands können gar nicht kommen, was wirklich schade ist, denn es gibt natürlich auch russische Künstler, die Teil der dortigen Opposition sind und sich gegen diesen Krieg engagieren. Zum Beispiel ist eine russische Band wie Shortparis sehr interessant und sie äußert ihre Meinung zum Krieg sehr deutlich. Sie wäre die perfekte Band für Roadburn, und warum sollte man so eine Band nicht gerade jetzt auf dem Festival haben?
„Wenn Menschen Musik als Mittel zur Lebensbewältigung einsetzen, entsteht eine Art Spannung, die die Musik interessant macht, weil sie so echt ist.“
In den vergangenen Jahren ist „Redefining heaviness“ zum Motto des Festivals geworden. Was bedeutet Heaviness für Sie heutzutage im musikalischen Sinne?
Normalerweise denkt man, wenn man von Heaviness spricht, an laute, schwere Gitarren, schwere Gitarrenriffs, gespielt von Typen in Jeansklamotten mit Bärten – all diese Metal-Bands, wie ich sie immer noch sehr liebe. Aber als künstlerischer Leiter des Festivals fühlte ich mich irgendwann sehr dadurch eingeschränkt, immer dieselben musikalischen Stilrichtungen zu bedienen. Dadurch wurde in der Tat alles ein bisschen klischeehaft, zu einem vorhersehbaren Geschäft. Dabei gibt so viel mehr, was Heaviness ausmacht, sei es elektronische Musik oder Heavy Psych oder Folk oder Jazz oder Singer-Songwriter. Die können auch sehr heavy sein. Es gibt auch viel Heaviness in der Stille. Heaviness muss nicht zwingend durch laute Amps verstärkt werden, sie kann auch durch einen Singer-Songwriter, durch sanfte Stimmen oder durch hypnotische Musik ausgedrückt werden. Der Grund, warum wir Redefining Heaviness als Motto gewählt haben, ist also, dass jeder wissen soll, dass es bei Roadburn heutzutage um Heaviness in allen Formen und Ausprägungen geht, ohne Einschränkung durch bestimmte Stilrichtungen.
Eine Band wie die kenianisch-ugandische Industrial-Grindcore/Noise-Band Duma, die bei der letztjährigen Ausgabe des Festivals auftrat, ist wahrscheinlich ein gutes Beispiel für das, was Sie sagen. Deren Musik basiert stark auf Samples, Synthesizern und sonstigen elektronischen Klangelementen, aber sie definiert sich als Metal-Band.
Duma kommen aus der Metalszene Kenias und Ugandas, aber sie haben einen anderen Blick darauf als die meisten ihrer westlichen Kollegen. Sie machen elektronische Musik, aber diese ist tief von der Metal-Ästhetik durchdrungen. Deshalb haben wir Duma und Deafkids eingeladen, gemeinsam an einem Auftragswerk, einem unserer „commissioned projects“, zu arbeiten. Da Deafkids aus Brasilien kommen, haben sie ebenfalls eine andere Vorstellung davon, wie Metal klingen sollte. Wenn man über eine durchschnittliche Heavy-Band oder eine Heavy Post-Rock/Post-Metal-Band spricht, hat man sofort eine Idee davon im Kopf, wie das wohl klingen mag. Und Bands wie Duma und Deafkids spielen mit diesen Vorstellungen. Sie verschieben die Grenzen und brechen die musikalischen und ästhetischen Gesetze. Im Fall von Duma kommt diese verrückte, eindringliche Mischung aus Elektronik und Metal-Ästhetik dabei heraus.
Sie haben 2018 mit der Vergabe von Auftragswerken begonnen. Was ist die Idee dahinter?
Zum einen wollen wir uns von anderen Festivals unterscheiden. Wir wollen den Roadburn-Besuchern etwas ganz Besonderes bieten, etwas, das sie bei keinem anderen Festival erleben. Wir bieten ihnen neue Musik von Bands, die sie kennen und deren neue Kompositionen sie bei uns zum ersten Mal hören. Zum anderen wollen wir den Musiker*innen die Möglichkeit geben, sich künstlerisch weiterzuentwickeln, indem sie etwas Besonderes für das Roadburn Festival schaffen. Als wir 2018 damit anfingen, gab es zwei bemerkenswerte Entwicklungen im musikalischen Underground. Es gab eine florierende und aufregende isländische Black-Metal-Szene. Zur gleichen Zeit gab es in Finnland die ganze Tampere-Szene um „Oranssi Pazuzu“ und „Dark Buddha Rising“. Es lag also auf der Hand, die isländische Black-Metal-Szene für das eine Auftragsprojekt und die genannten Bands für das andere zu wählen. Es waren alles junge, spannende Musiker mit frischen Ideen. Danach haben wir beschlossen, mit diesen Auftragswerken weiterzumachen. Im Jahr 2023 werden wir uns mehr auf den Underground konzentrieren, denn aufgrund der Pandemie hatten viele der kleineren Bands weniger Gelegenheit zu spielen und sich weiterzuentwickeln.
„Als künstlerischer Leiter des Festivals fühlte ich mich irgendwann sehr dadurch eingeschränkt, immer dieselben musikalischen Stilrichtungen zu bedienen.
Inwieweit hat die Pandemie die Bedingungen für die Organisation eines solchen Festivals verändert?
Die Pandemie und die geopolitische Lage haben die Musikindustrie und insbesondere die Livemusikindustrie völlig verändert. Heutzutage ist es eine große Herausforderung, ein Festival zu organisieren, weil die Kosten steigen. Es ist auch sehr schwierig geworden, weil Bands, Konzertveranstalter, Manager und Booker bis hin zu den Zulieferern, die für die Organisation von Festivals benötigt werden, mental erschöpft und finanziell am Rande der Pleite sind. Sie hatten kaum Zeit, sich von der Pandemie zu erholen, denn als sich in Europa alles öffnete, kam der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende geopolitische Krise. Es ist also für alle sehr hart und schwierig, und das wirkt sich auf die Stimmung hinter den Kulissen aus.
Trifft das auch auf die Organisation von Tourneen zu?
Tourneen sind finanziell sehr riskant, und viele Bands, die sich noch nicht von der Pandemie erholt haben, haben nicht die finanziellen Mittel, um überhaupt etwas zu riskieren. Also steigen die Gebühren und Ticketpreise wie verrückt. Alles, was vor der Pandemie in der Live-Musikbranche als normal gelten konnte, sieht sich jetzt in Frage gestellt. Ich glaube, dass viele Leute, die gerne auf Underground-Konzerte gehen, keine Ahnung haben, was hinter den Kulissen vor sich geht und wie drastisch die Dinge sich tatsächlich verändert haben. Es dauert ewig, eine Tournee fertig zu buchen. Die ganze Infrastruktur ist so teuer, dass es für Bands schwer ist, mit einem schmalen Budget zu touren. Der Kartenverkauf läuft meist schleppend. Wenn Bands und Veranstalter zu ängstlich werden, dass keine Leute kommen, werden Shows abgesagt. Bei den Festivals konzentriert man sich auf ein paar wirklich große Namen, bei denen man sicher sein kann, dass die Tickets sich verkaufen werden. Aber auch diese größeren Bands haben während der Pandemie viel Geld verloren und haben ihre Gagen daher teils verdoppelt und verdreifacht. Wenn also viele Festivals die großen Headliner gebucht haben, haben sie im Vergleich zu 2019 weniger Geld für den Rest des Line-ups. Auch kleinere Bands aus den USA sind dann häufig nicht mehr dabei. Das sieht man sofort, wenn man sich die kleineren Bühnen anschaut, weil es dort viel mehr kleinere, lokale Bands gibt. Das sind nicht mehr die Line-ups, die wir gewohnt waren.
Gilt das auch mit Blick auf die potenziellen Konzertbesucher?
Eine bestimmte Altersgruppe geht tendenziell nur noch zu den bekannten Bands. Und die Altersgruppen ab, sagen wir, 40, 50 plus – Leute mit Hypotheken, einem Auto, Kindern und so weiter – die sonst immer auf Underground-Konzerten waren, sind seit der Inflation sehr viel vorsichtiger beim Geldausgeben geworden. Zudem haben während der Pandemie viele die Haltung entwickelt, dass es doch auch schön ist, zu Hause zu bleiben und dort mit Freunden den Freitag- oder Samstagabend zu verbringen. Das Verhalten der Menschen hat sich verändert, und auch die Art und Weise, wie sie ihre Freizeit verbringen wollen.
Kommen wir auf das diesjährige Festival zurück. Können Sie einige der Bands nennen, auf die Sie sich besonders freuen?
Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, dieses Line-up zusammenzustellen. Es war nicht einfach aufgrund all der Umstände, die wir gerade besprochen haben. Noch nie zuvor mussten wir so viele Herausforderungen und Fallstricke bewältigen, um es zu schaffen. Es hat ewig gedauert. Deshalb bin ich besonders stolz auf das diesjährige Programm. Ich persönlich freue mich sehr auf Julie Christmas, denn ihr Auftritt ist bereits seit 2019 in Planung. Außerdem gibt es eine britische Anarcho-Punk-Band namens Bad Breeding, auf die ich mich sehr freue. Extrem gespannt bin ich auch auf Boy Harsher, eine Band, die ich wirklich liebe. Toll wird es zudem, Deafheaven zu sehen, wenn sie das gesamte „Sunbather“-Album von 2013 spielen. Ich freue mich zudem sehr auf die niederländische Band DeWolff, weil ich die heavy seventies liebe und das eine junge Band ist, die in dieser Ära verwurzelt ist – das ist also ein persönlicher Favorit.
Bei der Vorbereitung auf das Interview bin ich über einen bestimmten Ausdruck gestolpert, die sogenannte „Roadburn-Angst“. Was ist denn damit gemeint?
Es ist die Angst, etwas zu verpassen. Es bedeutet, dass die Leute beim Roadburn möglichst alle Bands sehen wollen.
„Ich glaube, dass viele, die gerne auf Underground-Konzerte gehen, keine Ahnung haben, was hinter den Kulissen vor sich geht und wie drastisch die Dinge sich verändert haben.“
Haben Sie einen Rat für die Besucher, wie sie dieser Angst begegnen können?
Man sollte sich einfach treiben lassen, sich nicht zu sehr vorbereiten. Manche Leute planen, jeden Tag zehn bestimmte Bands zu sehen. Sie rennen von einem Auftritt zum nächsten. Ich sage immer, sucht euch eine, zwei oder drei Bands pro Tag aus, die ihr wirklich sehen wollt, und lasst euch dann einfach treiben. Trefft Leute, redet miteinander und seht euch Bands an, die nicht auf eurer Liste stehen, euch aber vielleicht umhauen werden. Wenn du nicht wie verrückt durch die Gegend rennst, um alles zu sehen, sondern dich auf ein paar Bands konzentrierst, wirst du auf dem Roadburn vielleicht Freunde fürs Leben finden, weil du spannende Menschen triffst.
Eine englische, mehr als doppelt so lange Fassung des Interviews findet sich hier: “Heaviness, unrestricted by genre”.
Als Walter Hoeijmakers (57), künstlerischer Leiter des Roadburn-Festival, dieses 1999 zusammen mit dem damaligen Mitorganisator Jurgen van den Brand ins Leben rief, war es nur ein Konzertabend mit einigen Bands, die er persönlich kannte. Ursprünglich aus einem gleichnamigen Blog hervorgegangen, der sich mit Stoner, Doom und Psych beschäftigte, entwickelte sich das Festival im Laufe der Jahre zu einem international renommierten Underground-Event für Extreme und Heavy Music im weiteren Sinn. Heutzutage kommen jährlich rund 5.000 Besucher, um vier Tage lang die niederländische Stadt Tilburg und einige ihrer wichtigsten Kulturstätten in Beschlag zu nehmen. Neben den Konzerten gibt es auch Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und in diesem Jahr erstmalig auch eine Tanzperformance. Das Festival findet 2023 vom 20. bis 23. April statt.
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