Eine niedrige Einsatzschwelle der Polizei mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und eine Dynamik der Randale, die keine Grenzen mehr kennt: Auch die Anwohner*innen der betroffenen Viertel mussten die Zeche bezahlen.
Bis zum heutigen Tag ist der G20-Gipfel vom Juli 2017 in Hamburg ein Thema, insbesondere in den Stadtteilen der westlichen Innenstadt, rund um die Messehallen. Dort war damals der Austragungsort der Konferenz, und hier konzentrierten sich auch die Proteste.
Die Polizeistrategie war auf Eskalation angelegt, man wollte mit allen Mitteln unerwünschte Aktivitäten von Protestierenden verhindern, vom Zeltlager bis zur Straßenblockade. Anfang Juni 2017 verfügte die Hamburger Polizeiführung – nicht etwa die rotgrüne Stadtregierung – für die Tage des Gipfels, den 7. und 8. Juli, ein umfassendes Versammlungsverbot in einem 38 Quadratkilometer großen Stadtgebiet zwischen Flughafen, Messehallen und den großen Hotels für die Delegationen, verteilt über die gesamte Innenstadt. Alleine die saudi-arabische Delegation buchte beispielsweise ein komplettes mehrstöckiges Vier-Sterne-Hotel.
Die Stadtregierung gab der Polizeiführung um Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde freie Hand, so dass Entscheidungen über das Versammlungsrecht keinerlei politischer Kontrolle unterlagen. Die Einsatzschwelle für die 31.000 zur Gipfelsicherung mobilisierten Polizist*innen war niedrig, der Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln aus geschlossenen Einheiten in Kampfmontur war ebenso wie der von den 21 Wasserwerfern vor Ort häufig und heftig. Polizeihubschrauber waren rund um die Uhr im Einsatz, insbesondere über dem Karo- und dem Schanzenviertel, den beiden alternativ geprägten, an die Messehallen direkt angrenzenden Stadtteilen. Balkone und Schaufenster waren dort überall mit „No-G20“-Plakaten behängt.
Am Freitagabend, dem ersten Gipfeltag, konzentrierte sich die Polizei auf die Abschottung der Elbphilharmonie gegen Protestierende. In dem 880 Millionen teuren, neuen Konzerthaus wurde für die Stadtchefs und ihre Entourage Beethovens „Ode an die Freude“ wunderschön gesungen. Aber selbst auf dem angrenzenden Fluss hielten Polizeiboote Protestierende auf Schiffen auf Distanz. Den Tag über hatten Polizeieinheiten gewaltsam Blockaden auf den An- und Abfahrtswegen der Delegationen zerschlagen.
Seit fünf Tagen schon waren Zeltlager geräumt, Ansammlungen im Schanzenviertel unterbunden, selbst kleine Versammlungen unter massiver Gewaltanwendung aufgelöst worden. Wer nicht protestieren wollte, war aus der Stadt abgereist, sofern möglich – große Firmen hatten ihren Mitarbeitenden frei gegeben, der öffentliche Nahverkehr war durch die massiven Polizeisperrungen zusammengebrochen. In dieser Situation sammelten sich immer mehr den Tag über von der Polizei malträtierte Protestierende im Schanzenviertel, errichteten Barrikaden gegen die anrückende Polizei.
Die Angestellten einer Tankstelle wurden attackiert, als sie das Anzünden der Zapfsäulen verhinderten.
Die süddeutschen Polizeieinheiten im Abschnitt Schulterblatt hatten keine Erfahrung mit den jährlichen Stadtteilfesten rund um die Rote Flora. Und hatten deshalb Angst vor den alkoholisierten Zaungästen auf den Dächern und Baugerüsten. Vor allem waren die süddeutschen Einheiten irritiert, dass die Protestierenden auf den Straßen nicht wie gewohnt vor ihnen flüchteten, wenn sie losstürmten – sondern sich ihnen entgegenstellten und sich wehrten. Die Einsatzkräfte verweigerten den Befehl der Polizeiführung, das Schanzenviertel zu räumen. So entstand über drei Stunden lang eine polizeifreie Zone.
Zunehmend beteiligten sich im Laufe der Zeit Jugendliche, Anwohner*innen, Demonstrierende und erlebnisorientierte Tourist*innen am Ausräumen von Ladenfilialen und an den Feuern auf der Straße. Um 20.30 Uhr hatte niemand mehr die Kontrolle über das Geschehen. Einige legten Feuer in drei Geschäften, die in Wohnhäuser integriert waren, andere löschten wiederum. Große Barrikadenfeuer drohten auf Wohngebäude überzugreifen. Die Angestellten einer Tankstelle wurden attackiert, als sie das Anzünden der Zapfsäulen verhinderten.
Von oben die Polizeihubschrauber, von den großen Einfallstraßen her die Wasserwerfer und Polizeieinheiten, und direkt vor den Balkonen der Anwohner*innen Feuer auf der Straße. Und keine Feuerwehr kam durch. Einige verließen aus Angst vor Hausbränden ihre Wohnung. Um 23.30 Uhr explodierten plötzlich Blendschock-Granaten in Gebäudefluren – Antiterroreinheiten der Polizei, sogenannte Sondereinsatzkommandos, durchkämmten mit Sturmgewehren im Anschlag das Schanzenviertel von Haus zu Haus, drangen in Wohnungen ein. Die Straßen leerten sich sofort.
Am nächsten Tag kam es vor der Roten Flora inmitten des Stadtteils zu erregten Diskussionen zwischen aufgebrachten Anwohner*innen und Aktiven aus dem autonomen Zentrum. Auch Andreas Blechschmidt, der eine der Demonstrationen angemeldet hatte, stellte sich der Diskussion auf der Straße. Er wurde in einigen Medien persönlich angegangen. Der für den Eskalationskurs der Polizei verantwortliche Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde wurde nach dem Gipfel zum Leiter der gesamten Hamburger Schutzpolizei befördert.
Anklagen und Urteile
Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat bislang über 850 Ermittlungsverfahren gegen rund 1.150 bekannte Personen und 1.590 Verfahren gegen unbekannte Beschuldigte eingeleitet. Insgesamt wurden bisher rund 280 Anklagen erhoben, Hamburger Gerichte fällten über 130 Urteile. Sechs Angeklagte wurden zu Haftstrafen ohne und 59 zu Haftstrafen mit Bewährung verurteilt. Gegenüber den Sicherheitsbehörden scheint der Aufklärungswille weniger stark ausgeprägt: 94 von 154 Ermittlungsverfahren gegen Polizist*innen wurden eingestellt, in keinem einzigen Fall wurde Anklage erhoben. Letzteres ist auch nicht mehr zu erwarten.