Toxische Männlichkeit und die Normalisierung sexualisierter Gewalt entstehen nicht in einem Vakuum. Davon handelt ein 2018 erschienener Dokumentarfilm, der nun auf Netflix gestreamt werden kann.

© Multitude Films
„She is so raped right now.“ Als in „Red Roll Red“ dieser Satz fällt, ist das nicht etwa aus Bestürzung. Der Sprechende platzt in dem Moment vielmehr vor Vergnügen. Er ist einer von zahlreichen Jugendlichen, die in der Nacht vom 12. August 2012 in Steubenville unterwegs waren. Auch das 16-jährige Mädchen von dem der Jugendliche spricht, aus Gründen der Anonymität gemeinhin als Jane Doe bezeichnet, war unter ihnen. „Red Roll Red“ handelt von ebenjener Nacht, rekonstruiert die Geschehnisse und zeigt Interviews mit Zeug*innen. Den roten Faden bildet Alexandria Goddard, eine Reporterin, die damals durch ihre Artikel die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Fall lenkte. Nachdem ihr ein kurzer Artikel zugeschickt worden war, der von einem rezenten Fall sexualisierter Gewalt in Steubenville handelte, wurde sie hellhörig. Bei den zwei Verhafteten handelte es sich immerhin um von der ganzen Stadt gefeierte Football-Spieler.
Dass der Fall 2012 derart viel mediale Aufmerksamkeit erhielt, ist vor allem Goddards Arbeit zu verdanken. Trent Mays and Ma’lik Richmond hatten die stark alkoholisierte Jane Doe in besagter Nacht mehrmals vergewaltigt. Sie taten dies im Beisein zahlreicher Gleichaltriger, die das Geschehen filmten, fotografierten und auf Twitter kommentierten. Der oben zitierte Satz ist einem Video entnommen, das eine Gruppe von Jugendlichen machte, nachdem Mays und Richmond , die fast bewusstlose Jane Joe tragend, zur nächsten Privatparty aufgebrochen waren. Es ist wegen solcher Videos, dass derart viel über den Tathergang bekannt wurde.
Es griff also nicht nur niemand ein: Scheinbar waren sich die Jugendlichen der Illegalität der Geschehnisse derart wenig bewusst, dass sie sie ganz ungehemmt öffentlich dokumentierten. Die Fotos und Videos zeigen lachende Menschen, in den Textnachrichten wurde mit einer Mischung aus Belustigung und Abwertung über Jane Doe geschrieben. Die Beschuldigten gaben sogar nonchalant mit den Vergewaltigungen an.
Goddard las die Tweets, zitierte sie in ihren Artikeln und erntete dafür scharfe Kritik von einigen Stadtbewohner*innen – nur einer von vielen Versuchen, die gefeierten Football-Stars in Schutz zu nehmen. In der Berichterstattung war damals immer wieder von „Rape Culture“ die Rede. Damit werden Kontexte bezeichnet, in denen sexualisierter Gewalt normalisiert und gerechtfertigt wird. Der Fall in Steubenville ist ein Paradebeispiel dafür: Jane Doe wurde für die Vergewaltigungen zum Teil selbst verantwortlich gemacht, Mays und Richmond als die eigentlichen Opfer gesehen, da durch die Vorwürfe ihre Football-Karriere gefährdet wurde. Dabei kommen nicht nur die jugendlichen Zeug*innen nicht gut weg, „Red Roll Red“ zeigt auch, inwiefern ihr Verhalten durch die Gesellschaft um sie herum gefördert wurde.
Jane Doe selbst kommt im Film aus verständlichen Gründen nicht zu Wort. Gleichzeitig wird die potenzielle Wirkung der medialen Ausmerzung ihrer Erfahrungen thematisiert. Trägt jeder Artikel, jeder Film möglicherweise zu einer Retraumatisierung der jungen Frau bei? Nichtsdestotrotz ist die Wichtigkeit eines Films wie „Red Roll Red“ nicht zu verleugnen. Die Doku enthält zwar keine neuen Informationen, doch er trägt dazu bei, die Schweigekultur rund um Vergewaltigungsfälle noch stärker ins öffentliche Bewusstsein zu tragen – und zu brechen.
Netflix
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