Die Welt ist kompliziert – deshalb ist man zuweilen dankbar für simple Erklärungen. Doch dieses Bedürfnis macht auch Verschwörungsdenken attraktiv. Teil VI unserer Serie über das „Postfaktische“.
Was unter Verschwörungsdenken zu verstehen sei, ist durchaus nicht unumstritten. Manche Beispiele scheinen eher eindeutig: So hat die woxx im vergangenen Sommer ein Porträt über zwei „Anti-Chemtrail“-AktivistInnen veröffentlicht. Eine von ihnen hatte eine Petition gegen die angebliche Ausbringung von absichtlich krankmachenden Chemikalien durch Flugzeuge lanciert.
Die aktuelle politische Großwetterlage hat allerdings dazu geführt, dass das Geraune um reale und angebliche Verschwörungen mittlerweile breitere Aufmerksamkeit findet. Mit Donald Trump wurde in den USA etwa ein Mann zum Präsidenten gewählt, der behauptet, der Klimawandel sei ein Schwindel, „der von und für die Chinesen geschaffen worden ist, um die Wettbewerbsfähigkeit der US-Produktion zu zerstören“. Trump hatte dies schon am 6. November 2012 via Twitter mitgeteilt. Ebenso beteiligte er sich an der Verbreitung der Verschwörungstheorie, Barack Obama sei nicht in den USA geboren. Nach seiner Wahl erklärte er das knappe Ergebnis damit, illegale Einwanderer hätten sich zu seinen Ungunsten an dem Urnengang beteiligt.
Die Frage, weshalb Verschwörungsideologien heute Hochkonjunktur haben, beschäftigt eine Vielzahl von Forschern. Der niederländische Religionswissenschaftler Stef Aupers und der Sozialwissenschaftler Alan Schink, der gerade eine ethnographische Forschung zu Verschwörungsdenken und Internet durchführt, sind zwei von ihnen.
Aupers zufolge liegt die sich verfestigende Konspirationsmentalität vor allem in einem nicht eingehaltenen Versprechen der Wissenschaft begründet: Sie würde sich oftmals verheddern und könne ihren Anspruch auf aufeinander aufbauende Resultate, die zu einem stetigen, nicht-brüchigen Wissensfortschritt führen, nicht halten.
Verwirrende Wissenschaft
Wissenschaft schafft demnach nicht nur Orientierung, sondern kann auch verwirren. Jeder der Zeitung liest, kennt das aus eigener Erfahrung: So liest man immer wieder von Studien zum selben Thema, die völlig konträre Ergebnisse präsentieren: Kaffee ist gesund, Kaffee ist schädlich; die Luftverschmutzung hat in den letzten Jahren zugenommen, die Luftverschmutzung hat abgenommen; Trump hat die Wahlen gewonnen weil er sich als erigierter Phallus beworben hat, Trump ist Präsident, weil die postmoderne Philosophie unseren Sinn für die Realität zerstört hat.
Dass Natur- und Geisteswissenschaften nicht selten also eher als „Verunsicherungsagentur“ erscheinen denn als Eindeutigkeit produzierende Maschinerie, liegt aber nicht zuletzt an der notwendigen methodologischen Debatte innerhalb der Forschung selbst. Das Anzweifeln von Wissen, der Multiperspektivismus und innerwissenschaftliche Debatten gehören zum Grundwerkzeug ernstzunehmender Forschung unabdingbar dazu.
Doch nicht zuletzt, was anfänglich als große Stärke postmoderner Denker in einem postkolonialen Kontext gesehen wurde – die Gleichwertigkeitsannahme von unterschiedlichem Wissen – zeigt heute seine Schwächen. Kritiker behaupten, damit sei der Weg mit vorbereitet worden, etwa die Existenz „alternativer Fakten“, wie die Trump-Beraterin Kellyane Conway es nannte, allererst behaupten zu können. Wie mit dem Erbe der Postmoderne umzugehen ist, wird deshalb auch aktuell und kontrovers in der Philosophie, unter anderem von Denkern des neuen beziehungsweise spekulativen Realismus sowie dem Konstruktivismus nahestehenden Philosophen diskutiert.
Die Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Verbreitung solch unvereinbarer Angaben, schreibt Aupers. Informationen, die widersprüchlich sind, erwecken die Neugierde in einer knappen Aufmerksamkeitsökonomie. Wer würde sich schon die Sendung „Kloertext“ anschauen, wenn sich alle Gäste stets nur zunickten. Die meisten Medienformate sind auf Dissens und Konflikt ausgerichtet. Was den Unterhaltungswert steigert, führt mit solch spektakulären Formaten jedoch nicht unbedingt zu einem Mehr an kritischem Bewusstsein. Vielmehr erodiere die Zuversicht in Politik, Wissenschaft und letztlich in die Gesellschaft insgesamt, wie Aupers meint. Für den in Leuven arbeitenden Soziologen steht angesichts dieser Analyse fest: Verschwörungsdenken ist ein spezifisch modernes Phänomen. Wenngleich die Sicht der meisten Verschwörungstheoretiker eine andere ist: Unter dem Stichwort „Lügenpresse“ wird Journalisten vorgeworfen, Widerspruch zu unterschlagen, um nicht näher bezeichnete „Eliten“ zu unterstützen.
Vermeintlich rational
Ähnlich sieht dies Alan Schink, der an der Universität Salzburg seine Doktorarbeit schreibt. Eine tiefer liegende Ursache für das Phänomen des Verschwörungsdenkens sieht er in Individualisierungs- und Rationalisierungsprozessen der letzten 200 Jahre. „Der Mensch tritt zunehmend als individueller und rationaler Akteur aus einem mythisch-magischen und einem religiösem Weltbild heraus“, erklärt Schink. Die ideologische Zentrierung auf den Menschen als ein freies und politisches Subjekt stelle eine wesentliche Bedingung des neuzeitlichen Verschwörungsdenkens dar. „Wenn die ‚verborgenen Kräfte‘ weltlicher und gesellschaftlicher Ereignisse nicht mehr magisch oder theologisch, sondern primär politisch gedeutet und legitimiert werden, bekommt auch das Verschwörungsdenken eine neue Bedeutung“, so Schink, es erscheine durch den Bezug auf politische Kategorien als rationaler Denkmodus.
Zieht man jedoch den NSA-Skandal, Tschernobyl oder die Behauptungen des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush über die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak in Betracht, dann wird deutlich, das Verschwörungen, zumindest jedoch komplexe Geheimhaltungen, nicht ausschließlich die Hirngespinste irgendwelcher Obskurantisten sind. Weil Verschwörungen, gezielte Fehlinformationen und politische Geheimoperationen auch real existieren, kann sich Stef Aupers zufolge das Verschwörungsdenken konsolidieren. Es kommt zu einer Normalisierung dieser Denkform. Dies wird zusätzlich in manchen Milieus – unter politischen Gesichtspunkten sowohl rechts als auch links – gefördert, indem jene, die den offiziellen Informationen der Medien Glauben schenken (der sogenannte „Mainstream“) vorschnell als naiv gelabelt werden. Dies gilt wohl insbesondere seit den ersten Wikileaks-Veröffentlichungen im Jahre 2007.
Bewältigungsstrategie
Für Alan Schink sind typische Verschwörungsdeutungen unserer Zeit gerade solche, die den gegenwärtigen politischen, ideengeschichtlichen und technologischen Wandel integrieren. Dabei können „Verschwörungsdeutungen zu 9/11 aus konspiratologischer Sicht als der Gründungsmythos des 21. Jahrhunderts betrachtet werden“ meint Schink. Aber auch die „Chemtrails“-Geschichten reihen sich in ihrer Färbung in derzeit typische Verschwörungsmuster ein. Aus Sicht ihrer Anhänger „besorgniserregende persistente Himmelsphänomene – in diesem Fall weiße Streifen – werden als Zeichen eines dahinterliegenden Komplotts gedeutet“, erläutert Schink: Dessen Akteure würden dann oftmals als mächtige „Eliten“ aus Militärs, Konzernen oder Regierungen präsentiert. In der gegenwärtigen soziohistorischen und ökonomischen Konstellation seien solche Deutungen für nicht wenige Menschen überzeugend.
Aupers und Schink jedoch verurteilen konspirologisches Denken nicht gänzlich als paranoid. Sie weigern sich, die Anhänger solchen Denkens pauschal individuell zu pathologisieren. Sie sehen in solchem Denken eine wie auch immer problematische „nachvollziehbare Bewältigungsstrategie“ in Bezug auf eine kognitiv hochkomplexe Welt, in der viele überfordert sind, betonen also auch das gesellschaftliche Element, das zu diesem Denken führt. Vieles kann nicht mehr in einfachen kausalen Zusammenhängen erklärt werden, wie etwa die Struktur der globalen Ökonomie.
„Sozialwissenschaftler sollten nicht den Fehler begehen, Verschwörungstheorien nur als ideologische und ‚falsche‘ Denkformen zu begreifen. Jeder Erkenntnisakt, ob im Alltag oder in der Wissenschaft, ist immer auch Komplexitätsreduktion im Mechanismus der Sinnkonstruktion“, sagt Schink. Er lehnt deshalb pejorative Bezeichnungen, wie die von „den Verschwörungsgläubigen“ ab. Verschwörungstheoretiker bilden ihm zufolge keine homogene, klar umrissene soziale Gruppe und seien nicht lediglich „die andern“ einer an sich „normalen“ Gesellschaft. Auch sei es als Kulturwissenschaftler sinnvoll – um aktuelle politische und diskursive Mechanismen unserer Gegenwartskultur aufzudecken –, die Frage aufzuwerfen, welche gesellschaftliche oder politische Funktion die Bezeichnung einer Deutung als „Verschwörungstheorie“ im gegenwärtigen Diskurs erfüllt. Jedoch will sich Schink nicht wiederum so verstanden wissen, dass Verschwörungsdenken unproblematisch sei.
Der Sozialwissenschaftler weist überdies auf die Bedeutung einer relativ breiten Verfügbarkeit eines Internetzugangs sowie die zunehmende kommunikative Vernetzung seit Anfang der Jahrtausendwende hinsichtlich der Verbreitung von Verschwörungsdenken hin. „Sie verstärken einerseits die Sichtbarkeit von alternativen Welt- und Wirklichkeitsdeutungen sowie andererseits die Community-Bildung, die mit diesen Alternativen verbunden sind“, so Schink. Die neuen Netzwerkmedien sprengten die Deutungshoheit der traditionellen Massenmedien und ihrer Experten-Systeme. Dies erleichtere die kommunikative Verbreitung alternativer Deutungen durch „Amateure“. Schink zieht ein nicht erbauliches Fazit: „Die Debatte um sogenannte „Fake News“ spiegelt diesen Umstand wider – der traditionelle Journalismus steckt – ebenso wie die globale Ökonomie und in westlichen Gesellschaften auch zunehmend das politische System – in einer tiefen Vertrauenskrise.“