Sie wollen unsere Sehgewohnheiten irritieren und so eine kritische Distanz gegenüber der Manipulierbarkeit filmischer Bilder begünstigen: dazu greifen FilmemacherInnen zu vielfältigen Methoden. Letzter Teil unserer Serie über das „Postfaktische“.
Illusion, Manipulation, das Nebeneinander von verschiedenen Wahrheiten und Wirklichkeiten, die Bekräftigung von Vorurteilen und Stereotypen – all diese Elemente sind aus Diskursen rund um die Filmkunst nicht wegzudenken. Das beginnt bereits damit, dass filmische Bilder immer schon artifiziell gestaltet sind, idealerweise auf eine möglichst unauffällige Weise. Allein dieser Umstand kann ein gewisses Unbehagen auslösen. Von „unsichtbarem Schnitt“ und „Kontinuität“ ist dann beispielsweise die Rede: Um ein möglichst ungestörtes Eintauchen in die Filmwelt zu gewährleisten, sollen die einzelnen Einstellungen aufeinanderfolgen, ohne den Erzählfluss zu beeinträchtigen; das Publikum soll nicht daran erinnert werden, dass es gerade einen Film anschaut. Mit dieser Form ihrer Macht haben sich FilmemacherInnen immer wieder in ihren Werken sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene auseinandergesetzt.
Je nach Filmform stellt sich diese Problematik in etwas anderer Weise. Eine dokumentarische Darstellung beispielsweise kann von den RezipientInnen nur dann als solche akzeptiert werden, wenn die Bilder zumindest den Anschein haben, im Verhältnis zu einer unbeeinflussten Wirklichkeit zu stehen. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm: Während es ersteren nur als diesen Film gibt, behauptet die dokumentarische Wiedergabe, dass das Abgebildete auch unabhängig vom Film existiert. In Zeiten „alternativer Fakten“ stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Auftrag von Dokumentarfilmen. Besteht heute eine größere Verpflichtung, die Realität bzw. Wahrheit wiederzugeben? Ist das überhaupt möglich?
Schaut genau hin
Dem Film-Aktivisten Joe Berlinger zufolge kommt Dokumentarfilmen heute eine zentrale Rolle zu. In Folge der schwindenden Bedeutung des Printjournalismus, komme die Rolle investigativer Berichterstattung zunehmend DokumentaristInnen zu, erkärte der Aktivist gegenüber dem amerikanischen Magazin „Fast Company“. In seinen Filmen befasst sich Berlinger mit Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, wobei die Beweislage der ihnen zur Last gelegten Taten seiner Meinung nach unklar war. „Paradise Lost: The Child Murders at Robin Hood Hills“ (1996) dokumentiert die Geschichte dreier Männer, die wegen dreifachen Mordes im Todestrakt saßen. Der Film löste eine breite öffentliche Empörung aus und der Fall wurde wieder aufgerollt. Aufgrund einer dann durchgeführten DNA-Probe wurden die Angeklagten 2011 freigesprochen. Berlinger zufolge können Dokumentarfilme auf eine Problematik aufmerksam machen und Menschen zum Handeln motivieren. Im betreffenden Falle kann ein Film etwa neue Impulse für einen Gerichtsprozess liefern.
Wie ein Dokumentarfilm gestaltet sein muss, um „alternativen Fakten“ etwas entgegen stellen zu können und die Glaubwürdigkeit der Medien wieder herstellen zu helfen, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander. Der “LA Times” gegenüber erklärte der Filmemacher Theo Anthony, dass er Probleme mit üblichen Dokumentarfilmformaten habe. Die Vorstellung, ein Problem zu präsentieren, das innerhalb der Filmlaufzeit gelöst werden kann, zeuge von einer bevormundenden Haltung. Durch den Einsatz allegorischer, „verrätselter“ Erzählformen könne es vermieden werden, den Eindruck vorgefertigter Lösungen und universeller Wahrheiten zu erzeugen. Durch eine solche Ambivalenz könnte ein Film ein Bewusstsein für seine eigene Gemachtheit schaffen und einem bloßen Konsummieren entgegenwirken.
Eine solche Herangehensweise lässt sich auch beim Werk des österreichischen Filmemachers Michael Haneke erkennen. Auch wenn es sich hierbei ausnahmelos um Spielfilme handelt, lässt sich doch der Anspruch erkennen, die ZuschauerInnen aus ihrer passiven Rolle herauszulocken. Der Film „Funny Games“ (1997; Remake 2003) etwa handelt von einer Familie, die von zwei Männern in ihrem Ferienheim festgehalten und gefoltert werden. Dabei dominiert ein selbstreflexiver Umgang mit Konventionen des Psychothrillers. So kommentiert der Protagonist das Geschehen immer wieder mit Aussagen wie „Wir wollen dem Publikum doch etwas bieten, nicht wahr?“ An manchen Stellen sprechen die Protagonisten das Publikum gar direkt an („Sie wollen doch ein richtiges Ende mit plausibler Auflösung oder?“). Durch ein solches Durchbrechen der sogenannten vierten Wand wird nicht nur das Medium als solches thematisiert, die RezipientInnen werden regelrecht ins Geschehen impliziert.
Die erste Einstellung von Hanekes Films „Caché“ (2005) zeigt den Ausschnitt eines Wohnviertels: Häuser, davor eine Straße, auf der Autos parken und vorbeifahren. Das Bild ist unbewegt, minutenlang erfolgt kein Schnitt. Plötzlich ist eine Stimme zu hören, dann eine zweite. Die sich unterhaltenden Menschen sind nicht zu sehen. Indirekt wird dem Publikum vermittelt, dass es sich beim betrachteten Film um Bildmaterial handelt, das sich zwei Figuren aus dem Film „Caché“ gerade anschauen.
Mit solchen und ähnlichen Strategien lädt Haneke die BetrachterInnen immer wieder dazu ein, medialen Bildern zu misstrauen. Er versucht ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es sich bei jeder audiovisuell vermittelten Information nicht so sehr um eine objektiv gegebene Realität handelt, als vielmehr um eine gefilterte, bruchstückhafte Selektion. Nach Hanekes Auffassung kann Kunst keine Lösungen, dafür aber produktive Fragen anbieten. Wahrheit ist, wenn überhaupt, nur in Fragmenten erfahrbar, so die Ansicht des Künstlers.
Irritation durch Hybridität
Als eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion figuriert „Medium Cool“ (1969) von Haskell Wexler. Im Zentrum steht John Cassellis, ein Kameramann des Chicagoer Fernsehsenders WHJP. In der Anfangsszene wird Cassellis gezeigt wie er, von einem Tonmann begleitet, eine schwerverletzte Person in ihrem kaputten Auto filmt. Nach getaner Arbeit meint Cassellis gelassen: “better call an ambulance” – „ruf besser mal einen Krankenwagen“. Als dem Kameramann im Verlauf des Films bewusst wird, wie sehr Bildmaterial manipuliert werden kann, weigert er sich im Weiteren, seine Rolle als passiver Betrachter fortzuführen und entscheidet sich statt dessen für ein politisches Engagement. Auf diese Weise befasst sich der Film mit dem Verhältnis von Leben und Kunst, sowie der ethischen Verantwortung von JournalistInnen. Wexler wollte ein Bewusstsein dafür schaffen, inwiefern Filme unsere Wahrnehmung und unser Verhalten beeinflussen. Es wurden zum Teil Aufnahmen von Demonstrationen Ende der Sechzigerjahre benutzt, wodurch der Film das Spiel mit der vermeintlichen Authentizität noch einen Schritt weiter treibt als „Caché“. Nicht nur wird ein Film im Film gezeigt: von einem Moment zum nächsten wird aus einem fiktionalen Bild ein dokumentarisches. Durch diese Kontextverschiebung wird das Publikum potenziell aus seiner passiven Haltung herausgerissen.
Solche Versuche, Fiktion und Dokumentation miteinander zu kombinieren, gibt es seit Beginn der Filmgeschichte und noch immer stellen sie eine besondere Herausforderung dar. In sogenannten hybriden Dokus wird beispielsweise auf Bildmaterial, Fotografien, Interviews, Bilder aus fiktionalen Filmen, Privatvideos oder Werbeaufnahmen zurückgegriffen. Mit solchen Mitteln sollen ZuschauerInnen animiert werden, ihre Sehgewohnheiten zu hinterfragen. Im Film „Empathy“ (2003) kombiniert die Regisseurin Ami Siegel Fiktion, Screen Tests und dokumentarisches Interview. Der Film bringt Mitschnitte der Therapiesitzungen einer Voice-Over Schauspielerin mit Aufnahmen von Schauspielerinnen, die gerade für ihre Rolle in „Empathy“ vorsprechen, zusammen. Auch drei Psychoanalytiker, die über den Voyeurismus in ihrem Berufsstand sprechen, in welchen wiederum auch die BetrachterInnen des Films „Empathy“ impliziert ist, kommen darin vor. Auf diese Weise thematisiert der Film die Machtdynamiken zwischen TherapeutIn und PatientIn, InterviewerIn und interviewter Person, RegisseurIn und DarstellerIn, sowie Publikum und Dargestellten.
Aufgrund ihres potenziellen Vermögens, Unrechtmäßigkeiten aufzudecken, verschiedene Perspektiven auf eine Thematik zu ermöglichen und unseren Blick für die Manipulierbarkeit medialer Inhalte zu schärfen, kommt (Dokumentar-)Filmen ein hoher Stellenwert zu. Wird, wie in „Funny Games“ und „Medium Cool“, eine fiktionale Figur unerwartet zu einem Teil unserer Realität, stellt sich, wie in „Caché“, ein Bild durch eine Fokusverschiebung als etwas Anderes dar als zunächst gedacht, wird, wie in „Paradise Lost“, auf einen Missstand hingewiesen und aktive Aufklärungsarbeit geleistet, kann dies beim Publikum einen Denkprozess auslösen. Die Hervorhebung, Kombination oder Gegenüberstellung verschiedener filmischer Gestaltungsmittel und Medienformen kann zudem ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es sich beim Abgebildeten immer nur um eine mögliche Sichtweise handelt, die genauso gut auch hätte anders aufbereitet werden können. In jedem Fall wird den RezipientInnen eine gewisse Wachsamkeit und Denkleistung abverlangt.
Dennoch: Es kann nur darüber spekuliert werden, ob solche filmische Strategien langfristig einen kritischen Umgang mit audiovisuellen Informationen begünstigen oder gar helfen, das Vertrauen in die Medien wieder herzustellen. Auch bleibt die Frage offen, ob FilmemacherInnen heute eine größere Verantwortung zukommt, das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, Fakten und Illusion zu thematisieren. Tatsache ist, dass diese Elemente in Filmen seit jeher aufgegriffen wurden. Letztlich liegt es am Publikum damit auf produktive Weise umzugehen – und dafür benötigt es nicht nur Lernbereitschaft, sondern auch eine gewisse Medienkompetenz.