Stadterkundungen: Wie man Brüssel zu lesen lernt

Von Beruf ist Manuel Schmitz Stadtführer in der Kapitale Belgiens. In seiner Freizeit bewandert der 49-jährige Buchautor und Familienvater alle sechstausend Straßen der Stadt. Die woxx hat ihn auf einem seiner Spaziergänge begleitet.

be|wan|dern
(ein Gebiet) in ausgedehnterem Maße durchwandern und dadurch kennenlernen

be|wan|dert
(auf einem bestimmten Gebiet) erfahren, gut Bescheid wissend, sich auskennend

Einmal alle Straßen Brüssels entlang: Mehr als 2.000 Kilometer ist Manuel Schmitz auf diese Weise schon spaziert. (Foto: Patrick Galbats)

 

Der Stadtplan von Brüssel liegt ausgebreitet auf dem Kneipentisch. Eine Orientierungshilfe, wie sie den in Deutschland beliebten Baedeker-Reiseführern beigefügt sind. Dieses Exemplar hier ist aus den 1990er-Jahren und schon ein wenig verschlissen. „Manche von den Straßen, die dort eingezeichnet sind, gibt es so gar nicht mehr“, sagt Manuel Schmitz. Wie andere Großstädte ist Brüssel ständig dabei, sich zu verändern. Davon bleibt auch die Verkehrsführung nicht unberührt.

Exakt 5.267 Straßen sind auf der Karte verzeichnet. „Die Stadt hat aber ein paar mehr“, so Schmitz. Insgesamt setzt sich die als „Brüssel“ wahrgenommene Region Brüssel-Hauptstadt aus 19 Gemeinden zusammen und ist von über 6.000 Straßen durchzogen, wie er weiß. Seinen Papierplan hat er deshalb durch Internet-Recherchen ergänzt.

In den Baedeker-Plänen sind die großen Straßen gelb eingezeichnet, die kleineren weiß. In Schmitz’ Exemplar allerdings sind viele davon rot markiert. Das sind jene, die er schon bewandert hat.

Es ist ein für Ende Februar ungewöhnlich milder Dienstagmorgen. Als Treffpunkt war der Platz vor der Kirche von St. Gilles verabredet. Manuel Schmitz hat sich dann doch lieber zum Warten in die Brasserie Verschueren gesetzt. Die seit 1880 existierende Bar ist einer der beliebtesten Treffpunkte am Parvis St. Gilles, dem zentralen Platz der gleichnamigen Brüsseler Gemeinde. An diesem Morgen ist um 10 Uhr aber noch wenig los. Schmitz kann sich mit seinem Stadtplan also auch räumlich entfalten, wenn er von seinem Stadterkundungsprojekt erzählt.

2.000 Kilometer ist er dafür bereits marschiert. 2.000,22 Kilometer, um genau zu sein. Der Brüssel-Bewanderer lässt auf seinem Smartphone eine App mitlaufen, die Buch für ihn führt. Heute macht er seinen 399. „Spaziergang“, wie er seine Stadtbegehungen nennt.

„Eigentlich dachte ich, Brüssel ganz gut zu kennen. Dann habe ich gemerkt, dass dem gar nicht so ist.“

Einmal alle Straßen Brüssels durchschreiten. Wie kommt man auf eine solche Idee? Noch dazu, wenn man sein Geld als Stadtführer verdient?

Sich verorten, immer wieder: Seit 20 Jahren lebt Manuel Schmitz schon in der Stadt. (Foto: Patrick Galbats)

„Während der Corona-Pandemie hatte ich viel Zeit“, sagt Schmitz über die Periode 2020/21, in der es sogar vorkommen konnte, dass man sich ganz alleine auf der Grand-Place, dem zentralen Marktplatz Brüssels, wiederfand, die sonst durch einen niemals endenden Zustrom der Tourist*innen geprägt ist. Viel Fahrrad sei er damals gefahren. Und Spazieren gegangen. „Bis dahin dachte ich, Brüssel eigentlich ganz gut zu kennen. Dann habe ich gemerkt, dass dem gar nicht so ist.“ Also fasste der heute 49-Jährige den Plan, alle Straßen der Stadt zu durchwandern.

Nun aber ist es Zeit, loszugehen. „Ich suche noch meine Mütze“, sagt Schmitz. Er zieht sich seinen gelben Anorak über den roten Pulli und ist in seinen grauen Trekking-Schuhen zur Tür hinaus.

Wir biegen in die Rue du Fort ein und von dort in die Rue d’Andenne. Sofort merkt man, dass der Mann mit der markanten schwarzen Hornbrille nicht als Flaneur unterwegs ist, sondern neugierig Witterung aufnimmt. Weil es in den Straßen Brüssels immer etwas zu entdecken gibt. Sichtlich begeistert bleibt er vor einem Jugendstil-Gebäude stehen. „Ich mache hier mal ein Foto für mich“, sagt er und zückt sein Handy. „Tatsächlich war ich hier auch noch nie.“

Einen langweiligen Gang durch ein Industriegebiet wollte er heute, wo er ausnahmsweise in Begleitung sei, vermeiden, erklärt er, und löst damit leises Bedauern beim begleitenden Fotografen aus. Der hätte den damit verbundenen Motiven durchaus einiges abgewinnen können. Der Stadtspaziergänger entschuldigt sich vorab, die heutige Route werde ein wenig im Zickzack verlaufen, damit er am Abend ein paar weitere, bislang noch nicht markierte Straßen mit seinem Rotstift nachzeichnen kann.

Man darf sich das nicht so vorstellen, dass Manuel Schmitz Häuserblock für Häuserblock umrundet, Stadtviertel für Stadtviertel abmarschiert. Er läuft vielmehr dort, wonach ihm der Sinn steht. Bei Regen, bei Sonnenschein, morgens, mittags, abends und, wenn er nicht schlafen kann, auch mal nachts um drei. „Zuletzt war ich viel in Anderlecht unterwegs und brauche von dem Viertel jetzt mal Pause“, sagt er, während ihm schon wieder ein neues Detail auffällt. „Siehst du dieses Sgraffito da oben?“, fragt er und zeigt auf eine Jugendstilverzierung am oberen Teil einer Häuserfassade, wie sie für das Brüssel des Fin de Siècle so typisch ist.

„Man sagt ja oft Fresco dazu, das ist aber eigentlich nicht richtig“: Der Brüssel-Bewanderte erklärt, was ein Sgraffito ist. (Foto: Patrick Galbats)

„Man sagt ja oft Fresco dazu, das ist aber eigentlich nicht richtig.“ Bei einem Fresco werde nämlich nur Farbe auf ein frisches Stück Putz aufgetragen, beim Sgraffito die zu bemalenden Formen und Motive zuvor in den Putz eingekratzt. Daher auch der Name, vom italienischen „sgraffiare“, was „kratzen“ bedeutet. „Man hat ein recht enges Zeitfenster dafür, denn der Putz darf nicht mehr ganz weich, aber auch nicht zu trocken sein“, erläutert Schmitz, ehe er auf die hässlichen Balkone am selben Gebäude zu sprechen kommt. „Das sind Aluminiumbalkone, die sind in den 1960er-Jahren modern geworden.“

„Schon lost“, sagt Schmitz halblaut zu sich selbst, schon verloren. Mithilfe seines Handys versucht er die Orientierung für unseren Spaziergang wiederzufinden. Die Ausschnitte seines Baedeker-Stadtplans, die heute gelaufen werden sollen, hat er dort als Fotos gespeichert.

So ganz kann er die Rolle des Stadtführers offenbar nicht ablegen, wenn er in Begleitung ist. Doch das lenkt ihn ab von seinem eigentlichen Plan. Auch deswegen läuft er sonst eigentlich immer allein. Seine Kinder gehen ohnehin lieber mit ihm in den Wald. „Weil ich da nichts drüber erzählen kann.“ In der Stadt bleibe er ständig stehen und halte Vorträge, „und da haben die nicht so Bock drauf“. Im Wald werde er auf den Arm genommen, weil die Sprösslinge wissen, dass die Antwort einsilbig ausfallen wird: „‚Papa, was ist das für ein Baum?’ – ‚Einer mit Blättern dran.’“

Seit 20 Jahren lebt Manuel Schmitz schon in der Stadt. Zwei seiner drei Kinder sind hier zur Welt gekommen, der älteste Sohn war damals gerade zweieinhalb. Geboren und aufgewachsen ist der Deutsche in Trier. An der dortigen Universität hat er auch Politik studiert, gefolgt von Promotion und Lehre. Es folgte ein Intermezzo in Frankfurt am Main, wo seine Frau bei der Deutschen Flugsicherung arbeitete. Bis sie ein Angebot bekam, zum europäischen Pendant der Behörde zu wechseln. Nach Brüssel.

„Zuletzt war ich viel in Anderlecht unterwegs und brauche von dem Viertel jetzt mal Pause.“

„Ich war noch nie zuvor hier gewesen“, erinnert er sich, „fand die Stadt aber sofort unheimlich toll.“ Er schwärmt von der Stadtlandschaft mit ihren vielen Hügeln, die immer wieder eine neue Perspektive ermöglichen, von der „Grundentspanntheit“, die hier herrsche, ganz anders als Frankfurt („zu viel Testosteron“) oder Berlin („zu hart“), wo sein Sohn seit ein paar Jahren lebt.

Aufmerksamkeit, die von Bewegung begleitet wird: Der Stadtspaziergang als Entdeckungsreise. (Foto: Patrick Galbats)

Anfangs hat der Politikwissenschaftler noch an der Universität in Löwen unterrichtet, Kurse über die politische Struktur der Europäischen Union gegeben. Heute arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Stadtführer vor allem als Buchautor. Obwohl er die Stadt wohl besser kennt als viele, die hier geboren und nie weggegangen sind, scheint er noch nicht ganz angekommen zu sein. „Ich würde gerne mehr aus der Bubble rauskommen“, sagt er. Man kann vermuten, dass sich diese soziale „Blase“, wie bei vielen Arbeitsmigrant*innen, nicht zuletzt selbst aus „Expats“ zusammensetzt. Die stammen, zumal, wenn man Kinder hat, über die Kontakte an den jeweiligen Schulen oft aus demselben Land wie man selbst.

Mittlerweile ist es elf Uhr sieben. Sofern die App recht hat, haben wir gerade mal 1,12 Kilometer zurückgelegt. Nicht gerade schnell, aber mit offenem Blick. „Ganz oft habe ich das Gefühl, dass ich eine Straße lesen kann“, sagt Schmitz, der damit sagen will, wie viel ein Ort bei genauerer Betrachtung preisgibt. „Bei dem Gebäude da sehe ich, dass es eines der ältesten der Straße sein muss; die Deko am Fensterbogen stammt aus den 1870er-Jahren.“ Das Haus, auf das er zeigt, sieht nicht nach großem Reichtum aus. „Eine Maison de maître ist das nicht, aber damals wurde die architektonische Grundstruktur selbst in den ärmeren Stadtvierteln beibehalten.“

Auch das ist es, was ihm an Brüssel so gut gefällt: der große Altbaubestand. „Das ist eine Stadt des 19. Jahrhunderts, aber nicht so wie Paris oder Wien. Hier ist nichts perfekt.“ Brüssel, die Kapitale einer verspäteten Nation, habe damals erst lernen müssen, wie eine Hauptstadt auszusehen hat. Erst nach und nach sind die einstmals ländlichen Gemeinden, die den historischen Stadtkern umgaben, zu dem Ballungsraum zusammengewachsen, den man heute als „Region Brüssel-Hauptstadt“ erlebt.

Spuren der ländlichen Vergangenheit sind noch immer zu sehen. „Manchmal sieht man ein Haus und erkennt: das ist ein Haus aus einem Dorf. Die Dekorationen sagen das, die Dimensionen sagen das“, so Schmitz. „Und manchmal sieht man auch, dass ein Gebäude von der Straße abgewandt ist, weil der Straßenverlauf früher ein anderer war.“

Die Stadt. Man erkennt ihren Reichtum, der nicht zuletzt mit der Kolonialherrschaft im Kongo kam. Und den Willen ihrer Bewohner*innen, zusammenzuwachsen, zum Symbol der Nation zu werden. So wie in der Rue de la Perche, wo der Spaziergänger, der nun doch wieder Stadtführer ist, vor der École Léonie La Fontaine stehen bleibt. „Das ist ein tolles Beispiel für ein Gebäude aus der Neorenaissance.“ Obwohl als „flämische Neorenaissance“ bezeichnet, handle es sich dabei um einen nationalen Baustil: „Da wollten die Leute zeigen, dass sie Belgier sind.“

Die Perspektive ist stets an den Ort des Betrachters gebunden: Manuel Schmitz hat Glücksmomente, wenn er durch Brüssel spazieren kann. (Foto: Patrick Galbats)

Wir gehen die Straße zu Ende und erreichen die Avenue du Parc, unweit der „Friterie de la Barrière“, wo man auch spät nachts, nach einigen Trappisten-Bieren, seinen Fritten-Heißhunger noch stillen kann. „Sowas macht mich happy“, ruft Schmitz aus. Er meint damit nicht die Aussicht auf eine Portion Pommes mit Sauce andalouse, sondern hat ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Blick, eines im eklektischen Stil, von denen es so viele hier in Brüssel gibt. „Das einfachste Merkmal, um Baustil und Alter eines Hauses zu erkennen, ist die Verbindung von Dach und Fassade“, sagt er und zeigt auf das Dachgesims, die Corniche, die es in der Stadt teils mit schlichter, teils mit aufwändiger Verzierung gibt. So wie hier, wo es aus Holz gedrechselte ornamentale Streben sind.

Dann geht es zurück in die Rue de la Perche, die jetzt, den Schmitz’schen Regeln folgend, als durchschritten gilt. „Ich muss immer einmal ganz hoch und ganz runter laufen, und zwar so weit, dass ich in die angrenzenden Straßen schauen kann“ – so wie gerade eben in die Avenue du Parc – „dann bin ich eine Straße gegangen.“

Was aber unterscheidet Straßen von Pfaden und Wegen? „Für mich ist eine Straße ein Weg mit einer Müllabfuhr“, erklärt er, als sei das die evidenteste Sache der Welt. Waldwege zählen normalerweise also nicht dazu. Da Schmitz die Regeln selbst gemacht hat, kann er sie aber natürlich, wenn er Lust hat, auch mal brechen. Es ist ja kein Wettbewerb, den er absolviert.

Seine Kinder gehen schon immer lieber mit Manuel Schmitz in den Wald. – „Weil ich da nichts drüber erzählen kann.“

Einsam fühlt er sich bei seinen Märschen nicht. Öfter mal wird er angesprochen, beispielsweise von älteren Leuten. Mit seiner knallgelben Jacke ist er nicht zu übersehen. Das ist für einen Stadtführer wichtig, damit man ihn in den Menschenmassen wiederfindet, wenn mal jemand trödelt. Aber auch als Stadtspaziergänger legt er Wert darauf, ein Signal zu senden. Ein Einbrecher auf Erkundungstour würde sich nämlich anders kleiden. „Dann wissen die in den Wohnvierteln: Ich checke nichts aus.“

Derzeit sind allerdings weniger Einbruchsdiebstähle, sondern Schießereien zwischen Drogenbanden das heißdiskutierte Problem in Brüssel. Nicht weniger als acht davon hat es binnen zweier Wochen in der Stadt gegeben, mit einem Toten und mehreren Verletzten, teils an belebten Orten wie hier in St. Gilles an der Porte de Hal. Dem Image von Brüssel tut das nicht gut. Seit je unterscheidet sich das Sicherheitsempfinden der Besucher*innen mehr oder weniger stark von dem, das die Einwohner*innen der Hauptstadt haben. Hinzu kommt etwa, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welche sexuelle Orientierung man hat, oder ob man als Jude erkennbar ist.

Manuel Schmitz hatte bei seinen Spaziergängen noch nie das Gefühl, dass es brenzlig wird. „Es gibt schon ein paar Viertel, da gucke ich links und rechts, aber ich dachte noch nie, das wird jetzt ätzend.“ Dass er das als weißer Mann sagt, ist ihm bewusst.

Das Thema Sicherheit ist in erster Linie auch ein gesundheitspolitisches und soziales Problem, das viel mit den Verelendungsprozessen der Stadt zu tun hat. Davon sind beispielsweise auch die in Belgien ankommenden Flüchtlinge betroffen, für die es nicht ausreichend Unterkünfte gibt und die auf der Straße übernachten müssen. Auch sonst ist die hohe Obdachlosigkeit augenfällig, die sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.

Seit einiger Zeit hat sich zudem das Kokainderivat „Crack“ auf dem Markt für berauschende Substanzen durchgesetzt, eine einfach herzustellende und günstig verkaufte Droge. Neue Banden wollen mitmischen, was zu Revierkämpfen führt. Manche verwenden dabei statt Messer und Pistolen gleich Sturmgewehre wie die AK-47, die „Kalaschnikow“. Das hat eine neue Qualität.

Manuel Schmitz verschließt vor diesen Dingen nicht die Augen. Dennoch ist er genervt über den schlechten Ruf der Stadt. „Auf meiner Instagram-Seite hat mal jemand in einem Kommentar geschrieben, ich solle mir eine kugelsichere Weste kaufen. Und ich dachte mir nur: What the hell are you talking about?”

Mittlerweile sind wir über die Chaussée de Forest und die Rue Gustave Defnet in der Rue Crickx angelangt, wo auch die für ihr innovatives Konzertprogramm bekannten „Ateliers Claus“ beheimatet sind (siehe „Musikalische Ausnahmezustände“ in woxx 1579). Wieder geht es hoch zur Chaussée de Forest. Einmal links und rechts gucken. Die Rue Crickx ist abgehakt.

Es ist jetzt 11h30 und wir sind 1,9 Kilometer gelaufen. „Haltet ihr noch durch?“, fragt Schmitz, scheinbar ernsthaft besorgt. Er selbst marschiert im Schnitt 30 Kilometer pro Woche bei seinen professionellen und privaten Stadtspaziergängen – es können aber auch mal 50 Kilometer werden. Insgesamt 250 Führungen hat er im vergangenen Jahr gegeben.

Da kommt man schon mit den Leuten ins Gespräch. „Die Leute reden total frei mit mir“, erzählt er. „Ich hatte bei jeder Führung Kommentare, wie viele Migranten es in Brüssel gibt und die waren durch die Bank negativ. Die Leute haben mir Sprüche um die Ohren gehauen …“ Das gelte für Leute, die eine günstige Busreise machen ebenso wie für Doktor XY aus einem Ortsverband der deutschen konservativen CDU.

Brüssel sei grau und schmutzig, bekomme er dabei zu hören. „Bei grau würde ich mit großer Leidenschaft immer widersprechen“, sagt Schmitz über seine Stadt. „Der Himmel mag oft grau sein, aber der Rest ist nicht grau. Überhaupt nicht. Und als besonders schmutzig empfinde ich es auch nicht.“

„Das ist eine Stadt des 19. Jahrhunderts, aber nicht so wie Paris oder Wien. Hier ist nichts perfekt.“

Für viele stehe Brüssel synonym für die Europäische Union. „Und weil die EU als bürokratisch wahrgenommen wird, ist es grau, eine graue Bürokratenstadt. Wenn die dann auch nur im Europaviertel bleiben, dann kann es sein, dass die mit diesem Bild wieder nach Hause fahren“, meint er. „Weil das Viertel natürlich auch sehr grau sein kann, je nachdem, was man davon gesehen hat.“ Viele seien richtig überrascht, wenn sie zum ersten Mal auf der Grand-Place stünden. „Die wussten gar nicht, dass Europas Hauptstadt einen so großartigen Marktplatz hat.“

Nicht nur, weil er selbst davon lebt, kann sich Schmitz ein Brüssel ohne EU-Institutionen nicht mehr vorstellen. Deren Bedeutung sei elementar für das Bruttosozialprodukt der Stadt. Zudem kämen 80 Prozent der Besucher*innen nur wegen der Europäischen Union. Er erinnert an ein Buch aus dem 19. Jahrhundert, die literarische Beschreibung des in Bedeutungslosigkeit erstarrten Brügge, der einst reichsten Handelsstadt Nordeuropas, „Das tote Brügge“ – „Bruges-la-morte“. „Ohne die EU hieße es ‚Bruxelles-la-morte’.“

Davon kann derzeit keine Rede sein. „Aus meiner Perspektive kommen viel mehr Touristen als vor der Pandemie“, meint der Branchenkenner. „Ich habe den Eindruck, dass der asiatische Markt Brüssel stärker wahrnimmt.“ Vor allem indonesische Reiseveranstalter hätten Brüssel offenbar in ihre Europareisen mit aufgenommen, vermutet Schmitz, der über Osttimor promoviert hat, das nach jahrzehntelanger indonesischer Besatzung und vorausgegangener portugiesischer Kolonialherrschaft 2002 unabhängig geworden war. Die Besucher*innen aus Indonesien erkennt er also an der Sprache. Sofern der Lärm der Großstadt das erlaubt.

Auch aus diesem Grund ist er froh über die Verkehrsberuhigung, die die Stadt Brüssel in den vergangenen Jahren eingeleitet hat. Sein Urteil über das Resultat fällt widersprüchlich aus. Einerseits ist er natürlich froh, denn „für einen Stadtführer ist Verkehrslärm das Schlimmste“. Andererseits sei mit den gemachten Maßnahmen nicht nur der Individualverkehr zurückgedrängt worden. Die Straßen wurden enger gemacht, und häufig gibt es dann auch für Busse kein Durchkommen mehr. Das betrifft die Linienbusse nicht weniger als Reisebusse, die er meint, und die seine Klientel in die Innenstadt kutschieren.

An diesem Dienstagmorgen in St. Gilles hält sich der Verkehr in Grenzen. Abermals biegen wir ein in die Rue Théodore Verhaegen, wo wir ein Stück die Straße runter schon einmal gewesen sind. Von dort geht es auf die Place de Bethléem. Ein paar Jugendliche stehen herum und reden miteinander. Ansonsten ist der schmucklose Platz verwaist.

Manchmal, wenn es nicht viel zu entdecken geht, vielleicht auf einem Gang durch ein Industriegebiet, hängt Manuel Schmitz auch mal in sich gekehrt seinen Gedanken nach. Meist aber bleibt er auf Empfang. Studiert die Häuser. Die Straßenführung. Und auch die vielfältige Teilung der Stadt. „Es gibt ja nicht nur arm und reich, sondern verschiedene Abstufungen davon.“ Die Armut erkennt man nicht nur an den Gebäuden, sagt er: „Sie trägt sich in die Gesichter der Menschen ein.“

241.000 Einwohner*innen hat die Stadtregion in den vergangenen 20 Jahren hinzugewonnen, in der sich heute 1,24 Millionen Menschen tummeln. Eine Milliarde Euro hat die Verwaltung in dieser Zeit investiert – in die Schaffung von Wohnraum, Lernhilfe, Neugestaltung von Schulen und ähnliches. Die soziale Ungleichheit hat dennoch tendenziell zugenommen. Im Jahr 2022 waren nicht weniger als vier von zehn Brüsseler Bürger*innen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.

Die Betroffenen leben vor allem entlang des Kanals und im sogenannten „croissant pauvre“. 22,5 Prozent der Brüsseler bevölkern diesen im Nordwesten der Stadt gelegenen „Halbmond der Armut“, ein dicht besiedeltes Terrain, das nur 9,3 Prozent des Stadtgebietes umfasst. Wem es gelingt, sich wirtschaftlich zu stabilisieren, zieht weg von dort, Neuankömmlinge rücken nach. (Vier von zehn Einwohner*innen der Stadt besitzen nicht die belgische Staatsbürgerschaft.) In diesen am stärksten benachteiligten Gebieten sind auch die höchsten Arbeitslosenquoten zu verzeichnen: In Anderlecht und Molenbeek liegt sie bei 18,1 beziehungsweise 21,3 Prozent, im hippen Ixelles bei 12,6 und im vornehmen Uccle bei 11,1 Prozent. „Der Süden ist sehr reich, aber es gibt keinen öffentlichen Raum“, gibt der Stadtläufer seine Beobachtungen wieder. „Wenn man im Villenviertel von Uccle durch die Straßen geht, kommt man an großen, tollen Anwesen vorbei, aber der Bürgersteig ist seit Jahren nicht mehr gereinigt worden und man rutscht ständig aus.“

Niemand geht dort zu Fuß, es sei denn das Personal auf dem Weg zur Bushaltestelle oder wenn jemand den Hund ausführt. Die herrschaftlichen Häuser hätten zur Straße hin auch kaum Fenster, sagt Schmitz. Nur nach hinten, in Richtung Garten. „Die Gebäude interessieren sich nicht für den Passanten, weil es das Konzept des Passanten dort ohnehin nicht gibt.“

Die Häuser, von denen er spricht, sind hinter großen Hecken und Zäunen verborgen. Das habe auch mit dem sich verändernden Charakter der Macht in der Gesellschaft zu tun, und damit, wie sich diese Veränderung auf die Architektur auswirkt: „Früher hat man mit seinem Reichtum angegeben, die Devise war: Schau mich an. Heute sagt man: Schau mich nicht an.“

„Ich renne keinen Berg hoch, mir begegnet kein Tiger, es ist nur Alltag. Aber ich finde das Alltägliche so schön.“

Schmitz hat genau über diesen Zusammenhang vor kurzem ein Buch geschrieben, mit dem Titel „Monumental: Macht und Architektur in Brüssel“. Der Wandel werde auch an öffentlichen Gebäuden sichtbar. „Es gibt ein paar sehr universelle Regeln, wie man Macht baut,“ sagt er: „Das einfachste ist, man baut groß und weit in die Höhe.“ Mit dem zunehmend versachlichten, nichtpersonalen Charakter der Macht werde es allerdings immer schwieriger, eine entsprechende Symbolik zu finden. „Die Botschaften sind nicht mehr eindeutig.“

Für Manuel Schmitz’ nächsten Satz gilt das nicht. „Wir müssen jetzt da hoch; ich muss bis zur Ecke gegangen sein.“ Also die Rue Dethy hinauf, nach links in die Rue Gailliard, und gleich wieder rechts rein in die Rue Vanderschrick.

Um 11.47 Uhr sind wir am Ende der heutigen Tour angelangt. 2,8 Kilometer sind wir insgesamt gegangen. Wird das tatsächlich nie langweilig, immer solche Runden zu drehen? „Nein, obwohl Spazierengehen ja etwas total alltägliches, normales ist. Ich renne keinen Berg hoch, mir begegnet kein Tiger, es ist nur Alltag. Aber ich finde das Alltägliche so schön.“

Echte Glücksmomente hat er, wenn er ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Perspektive sieht. So wie sie viele Brüsseler*innen erleben, wenn sie, mitten in der Stadt stehend, auf einmal „ihr“ Atomium in der Ferne sehen.

Zwei Stunden haben wir jetzt mit Manuel Schmitz verbracht. Wir werden gleich noch auf einen Kaffee hier in der Nähe gehen, in einer Eckkneipe zwischen Rue Vanderschrick und Rue de Prague. Doch das ist nicht mehr so wichtig, um noch darüber zu erzählen. Wir verabschieden uns also lieber schon hier, auf der Straße.

„Mir gefällt das Sinnlose daran“, sagt er über das, wobei wir ihn heute begleitet haben, „ich möchte das auch nicht verwerten.“ Ein Buch darüber zu schreiben, hat er nicht vor. Statt dessen sitzt er zur Zeit lieber an seinem ersten Roman, wenn er gerade keine Stadtführung hat oder auf einem seiner Spaziergänge ist.

„Brüssel ist mein Zuhause“, hatte Manuel Schmitz vorher, irgendwo in der Rue Sterckx, einmal gesagt; und so, wie er das sagte, schwang da auch ein klein wenig Sehnsucht mit. Brüssel ist sein Zuhause. Schritt für Schritt.


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