Wie man die Opfer zum Verschwinden bringt: Zwei aktuelle Fälle zeigen, dass es in Luxemburg ein gewaltiges Problem im Umgang mit Tätern gibt.

Die Demonstration der Plattform „JIF“ am 8. März thematisierte auch häusliche Gewalt. Der Fall Rodrigues zeigt, wie nötig das ist. (Foto: woxx/mc)
Das „Luxemburger Wort“ paraphrasiert ein Gespräch mit einem verurteilten Sexualstraftäter, der sich darin in aller Ausführlichkeit und unwidersprochen zum Opfer stilisieren darf. Der Fußballer Gerson Rodrigues spielt wieder im Kader der Luxemburger Nationalmannschaft. Beides weist auf ein Problem: Der Drang, die Täter in den Fokus zu rücken, Verständnis zu wecken und ihnen eine „zweite Chance“ zu geben, ist größer als das Interesse, ihre Opfer zu schützen.
Beispiel Nummer eins: Während seines Besuchs der „Spiele der kleinen Länder“ in Andorra am vergangenen Dienstag lobte Sportminister Georges Mischo (CSV) Luxemburgs Engagement für „sicheren, inklusiven und wertebasierten Sport“. Doch das muss wie ein Hohn wirken, wenn man bedenkt, was dieser Tage im Luxemburger Fußball geschieht. Der Aufsichtsrat des Luxemburger Fußballverbandes FLF ist der Meinung, dass Gerson Rodrigues weiterhin antreten können soll, man wolle den Fußballspieler „kein zweites Mal bestrafen.“ Am 30. April hatte ein Gericht ein Urteil gegen Rodrigues wegen Körperverletzung bestätigt. Er hatte sich häuslicher Gewalt und mehrerer körperlicher Angriffe schuldig gemacht. Nichtsdestotrotz nominierte Nationaltrainer Luc Holtz Rodrigues am vergangenen Freitag für zwei Freundschaftsspiele in die Männerfußball-Nationalmannschaft. Damit stellt die FLF klar: Ihr ist die sportliche Leistung wichtiger als das Fehlverhalten des Athleten, dem so signalisiert wird, seine Taten seien halb so wild. Das hat eine starke Symbolwirkung: Opfer häuslicher Gewalt müssen daraus schließen, dass die Luxemburger Fußballwelt kein sicherer Ort für sie ist. Potenzielle Täter hingegen können sich sogar strafbare Handlungen leisten, solange die sportliche Leistung stimmt.
Fußballer*innen haben durch ihre Bekanntheit eine Vorbildwirkung, die Rodrigues jedoch überhaupt nicht erfüllt. Ihm ist keinerlei Reue für seine Taten anzumerken. Die Kritik auf seine neuerliche Nominierung quittierte er mit einem Post auf Instagram: „Only God can judge me“, schrieb er dort – und unterstrich damit abermals, wie unwillig er ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. „Die Fußballnationalmannschaft, ein Safe Space für Täter häuslicher Gewalt“, kommentierte die Jugendpartei „déi jonk Lénk“ treffend in einem offenen Brief.
Die Scham wechselt nicht die Seiten, wenn wir erfahren, wie viel Selbstmitleid der Täter empfindet.
Beispiel Nummer zwei: Ebenfalls eine große mediale Bühne bekam ein verurteilter Sexualstraftäter im „Luxemburger Wort“. Die größte Tageszeitung des Landes unterhielt sich mit einem Menschen, der wegen dem Besitz, der Herstellung und Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen schuldig gesprochen wurde. Der Mann ist in Berufung gegangen, weil ihm das Strafmaß zu hoch erscheint, seine Taten hat er gestanden. Das „Wort“ druckte, wie die Zeitung es formuliert, „im Rahmen einer fairen Berichterstattung“ seine Sicht der Dinge ab. Die besteht vor allem in Selbstmitleid und im Zetern darüber, dass sexueller Missbrauch auch für den Täter gesellschaftliche Konsequenzen haben kann. Das einseitige Nacherzählen einer Position, ohne Einordnung, ohne Überprüfung der wiedergegebenen Aussagen, hat nichts mehr mit Journalismus zu tun. Die Plattform „Journée internationale des femmes“ bezeichnete diese Art der Berichterstattung in einer Pressemitteilung als „schockierend“: Der Artikel verschleiere die Realität der Gewalt, die die Opfer erfahren haben.

(© Engin Akyurt FAtBOjZOiBU/Unsplash)
Am Donnerstag veröffentlichte die Zeitung eine Stellungnahme, in der sie sich zu verteidigen – oder besser gesagt aus der Verantwortung für ihre journalistische Blamage zu stehlen – versuchte. Das „Wort“ wäge ab, wie Berichte auf Opfer von Straftaten wirken können, daher habe man darauf verzichtet, „die Gewalttaten bis ins Detail zu beschreiben“. Dass man die journalistischen Standards womöglich noch massiver hätte verletzen können, kann keine Entschuldigung für den publizierten Totalschaden sein. Auch die Idee, das Abdrucken der inszenierten Selbstviktimisierung des Täters könne in irgendeiner Form aufklärerisch sein, weil dieser ja „im Fokus“ steht, ist lächerlich. Die Scham wechselt nicht die Seiten, wenn wir erfahren, wie sich der Täter in Selbstmitleid ergeht und für die vermeintlich erlittene gesellschaftliche Ausgrenzung Verständnis zu erheischen versucht.
Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Täter*innen umgehen, ist wichtig und äußerst komplex. In Luxemburg sind viele Überlegungen, sowohl was Opferschutz, aber auch Reintegration angeht, ganz offensichtlich noch nicht weit gediehen. Weder ein über ihre Taten Hinwegsehen wie im Fall Rodrigues, noch eine mediale Plattform, auf der sie sich unwidersprochen ausweinen können, dürfen Teil der Lösung sein. Vielmehr müssen Wege gefunden werden, wie Opferschutz gewährleistet wird und über die Taten gesprochen werden kann.