Weltwirtschaft: Crash auf Speed

Die Geschwindigkeit, mit der die Coronakrise wirtschaftliche Verheerungen anrichtet, ist beispiellos. Die Auswirkungen betreffen eine Weltgesellschaft, deren soziale Gegensätze in den vergangenen Jahrzehnten exorbitant gewachsen sind.

Soziale Distanz zur Armut schaffen: Hunderte Obdachlose sind im südafrikanischen Kapstadt während des Corona-Lockdowns in einer sogenannten „temporären Unterkunft“ zusammengepfercht. Offiziell berechtigt, das Lager zu verlassen, könnten sie dann aufgrund der Ausgangsbeschränkungen festgenommen werden. (Foto: EPA-EFE/Nic Bothma)

Jede große Krise bringt Bilder hervor, die im kollektiven Gedächtnis haften bleiben. Während der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts waren es Aufnahmen von halbverhungerten Gestalten, die vor Suppenküchen auf eine Mahlzeit warteten. Heute könnte es das Motiv der schier endlosen Autoschlangen sein, die sich in vielen US-Gemeinden vor der Ausgabe von Lebensmittelpaketen bilden.

Die „Große Depression“ ist das einzige Ereignis, mit dem sich die aktuellen Geschehnisse halbwegs vergleichen lassen. Fast scheint es, als handele es sich um ein Déjà-vu. „In den vergangenen zwölf Jahren hatte man manchmal das Gefühl, als würde die Welt die Zeit von 1918 bis 1939 noch einmal erleben, aber wie von einem vergesslichen Studenten erzählt, der die Ereignisse durcheinanderbringt“, schrieb kürzlich der Wirtschaftsjournalist Neil Irwin in der „New York Times“. „Diese Ära zeichnete sich auch durch einen weltweiten finanziellen Zusammenbruch, den Aufstieg autoritärer Regierungen, das Auftauchen einer neuen wirtschaftlichen Supermacht (damals die Vereinigten Staaten, heute China) und eine Pandemie aus, wenn auch nicht in dieser Reihenfolge.“

So sehr sich die Ereignisse ähneln mögen, so gibt es doch auch einige wesentliche Unterschiede. Insbesondere die Schnelligkeit, mit der sich die derzeitige Krise abspielt, ist frappierend. Während vergangene Rezessionen teils mehrere Jahre benötigten, um ihre fatale Wucht zu entfalten (und noch länger, bis ihre Folgen verarbeitet waren), handelt es sich heute um einen Crash auf Speed. Innerhalb weniger Tage fuhren die Börsen Verluste von bis zu 40 Prozent des Handelsvolumens ein, wurden Vermögenswerte in einem historisch einmaligen Ausmaß vernichtet.

Diese unglaubliche Geschwindigkeit weckt allerdings auch bei manchen die Hoffnung, dass sich die Wirtschaft ebenso schnell wieder erholen könnte. Kaum wurden Lockerungen des Ausnahmezustands in Aussicht gestellt und tauchten erste Berichte über angeblich gegen Covid-19 wirksame Medikamente auf, stiegen vergangene Woche die Aktienkurse. Schon zeichnet sich ab, wer von der Krise profitiert und wer verliert.

Unternehmen, die für die Wirtschaft unter Bedingungen des „social distancing“ wichtig sind, erzielen Umsatzrekorde. Wer seinen Lebensunterhalt hingegen durch persönliche Dienstleistungen verdient, muss um die eigene Existenz bangen. Selbst wenn sich einige Branchen erholen sollten, wird man in anderen Sektoren die Verluste nicht mehr kompensieren können. Ein Autokauf mag sich vielleicht auf das kommende Jahr verschieben lassen. Aber niemand wird sich dreimal die Woche die Haare schneiden lassen, um entgangene Friseurbesuche auszugleichen.

Für Millionen Beschäftige, die über keine nennenswerten Rücklagen verfügen und in Staaten ohne nennenswerte Sozialsysteme leben, wird die Krise daher zur persönlichen Katastrophe. Noch nie zuvor stieg in den USA die Arbeitslosenzahl in einem derart extremen Ausmaß: Aus fünf Millionen Erwerbslosen wurden binnen weniger Wochen 22 Millionen. Im Laufe des Jahres wird erwartet, dass eine Arbeitslosigkeitsquote von bis zu 30 Prozent erreicht wird. Ähnliche Prognosen gibt es auch für Großbritannien und einige andere europäische Länder.

Diese Zahlen ähneln jenen der „Großen Depression“ oder werden sie vermutlich sogar noch übertreffen. Die staatlichen Reaktionen fallen jedoch anders aus. Während vor allem die europäischen Regierungen damals mit rigiden Sparmaßnahmen auf den Börsencrash reagierten und damit die Wirtschaftskrise erst richtig befeuerten, legen die wichtigsten Industriestaaten heutzutage riesige Hilfsprogramme auf und brechen, wie Großbritannien, mit bislang „heiligen“ Grundsätzen der Geldpolitik. So stellt die britische Notenbank Unternehmen und Regierung direkt frisch gedrucktes Geld zur Verfügung. Die Notenbanken, allen voran die US-amerikanische Federal Reserve, fluten die Welt regelrecht mit Liquidität – nur diese Interventionen verhinderten im März den völligen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems, wie der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinen aktuellen Beiträgen darlegt.

Die soziale Quarantäne ohne Aussicht auf Einkommen kommt oft einem Tod auf Raten gleich.

Die Maßnahmen sind zwingend notwendig, weil die Pandemie einen einmaligen Effekt erzeugt. Die Krisen der vergangenen Jahrzehnte wurden von maroden Banken ausgelöst, die keine Kredite mehr vergeben konnten und damit nach und nach die restliche Wirtschaft lahmlegten. Im derzeitigen Ausnahmezustand brechen jedoch Angebot wie Nachfrage gleichzeitig ein. In den Industrieländern ging die Produktion um bis zu 40 Prozent zurück, während kaum jemand noch etwas kaufen will. In China sank im Februar der Autoverkauf um etwa 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, in vielen anderen Wirtschaftszweigen war die Entwicklung ähnlich.

Im Gegensatz zu vergangenen Finanzkrisen nutzt es also wenig, allein für die Liquidität der Banken zu sorgen. Ebenso wichtig ist es, die grundlegenden Leistungen des Staats zu garantieren und die Kaufkraft der Konsumenten zu stützen. Als systemrelevant gelten plötzlich nicht nur Banker und Finanzanalysten, sondern auch die Angestellten eines Supermarkts oder Pflegekräfte. Nur so ist zu erklären, dass die US-Regierung plötzlich Lohnfortzahlungen und Zuschüsse zur Krankenkasse für prekär Beschäftigte finanziert, wenn auch nur zögerlich und widerwillig.

Die Maßnahmen sind unerlässlich, weil die Krise eine Weltgesellschaft trifft, deren soziale Gegensätze in den vergangenen Jahrzehnten exorbitant gewachsen sind. In den USA reichen die Geldreserven bei rund einem Drittel der Bevölkerung gerade mal bis zur nächsten fälligen Lohnzahlung. Millionen verfügen über keine oder nur eine rudimentäre Krankenversicherung oder verlieren sie, sobald sie arbeitslos sind. Angaben des „Economic Policy Institute“ aus Washington zufolge hat der reichste Teil der US-Bevölkerung in den vergangenen drei Jahrzehnten sein Vermögen um 420 Prozent gesteigert, während die Reallöhne, von denen die Mehrheit lebt, zurückgingen.

Noch schlimmer ist die Lage in den Schwellenländern und in den wenig industrialisierten Regionen. Weltweit werden nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im zweiten Quartal dieses Jahres durch Arbeitszeitverkürzungen und Entlassungen das Äquivalent von 195 Millionen Arbeitsplätze vernichtet und das Einkommen von weiteren 1,25 Milliarden Menschen drastisch gemindert. Die meisten der davon Betroffenen waren schon vorher arm. Die soziale Quarantäne ohne Aussicht auf Einkommen kommt oft einem Tod auf Raten gleich. Die Angst vor dem Hunger ist dort oft größer als die vor dem Virus.

Die meisten Staaten haben sich zudem kaum von der vergangenen Finanzkrise erholt oder sind, wie der Libanon oder Argentinien, faktisch bereits bankrott. Die Währungen der Türkei, Südafrikas und vieler anderer Schwellenländer verlieren gegenüber dem US-Dollar dramatisch an Wert, was ihre Auslandsschulden erheblich verteuert. Rund 90 Staaten haben allein vergangene Woche um Nothilfe beim Internationalen Währungsfonds nachgesucht, was den Fonds an den Rand seiner finanziellen Kapazitäten bringt.

Der Ausnahmezustand hat dabei verdrängt, dass sich bereits vor der Krise auf allen Kontinenten die umfangreichsten sozialen Revolten gegen prekäre Lebensverhältnisse und Korruption seit Ende des Zweiten Weltkriegs ereignet haben, sei es in Chile, Algerien, Frankreich oder im Sudan. Selbst wenn es gelingen sollte, allzu heftige Auswirkungen der Krise zu verhindern oder zumindest einzudämmen, werden sich die sozialen Unterschiede noch verstärken. „Covid-19 verschärft die bereits bestehenden Bedingungen der Ungleichheit, wo immer es eintrifft. Schon bald wird dies soziale Unruhen bis hin zu Aufständen und Revolutionen auslösen“, prophezeit der wirtschaftsliberale Nachrichtendienst Bloomberg.

In nicht allzu ferner Zukunft könnte sich die Frage stellen, wer für die gigantischen Rettungspakete und Hilfszahlungen letztlich aufkommen soll. Es gehört wenig Phantasie dazu, die Sparprogramme, Kürzungen und IWF-Auflagen zu prognostizieren, die kommen werden, wenn die Krise halbwegs überwunden ist. Was aber, wenn die Beschäftigten die erhaltenen Leistungen nicht mehr missen wollen, wenn nicht nur Argentinien, sondern viele weitere Länder den Schuldendienst aussetzen, einfach, weil sie überleben wollen?

Aber auch eine andere Art der Revolte ist nicht ausgeschlossen. In einigen US-Gemeinden kam es in den vergangenen Tagen zu bizarren Aufläufen wütender Bürger, die gegen den „shutdown“ demonstrierten. Sie halten die Pandemie für eine Verschwörung und wollen offenbar lieber ihr Leben riskieren, als weitere wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzunehmen.

Die Weltwirtschaftskrise trug im vergangenen Jahrhundert zu Faschismus und Krieg bei, aber auch zu neuen Emanzipationsversuchen. Die Geschichte der heutigen Krise ist noch nicht geschrieben.

Anton Landgraf arbeitet für 
Amnesty International Deutschland 
und ist als freier Publizist tätig.

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