DEUTSCHLAND: Die Griechen von morgen

Vorgeblich haben sich die europäischen Staaten auf eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geeinigt. Doch die deutsche Bundesregierung will weiterhin vor allem ihre Exporte fördern und erhöht damit die Defizite anderen Staaten.

Stabil bleiben – das ist auch Kanzlerin Merkels Motto den Euro betreffend:
Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ist ein fester Wechselkurs elementar.

Bald gehen in vielen deutschen Städten die Lichter aus, denn zahlreiche Kommunen planen, die Straßenbeleuchtung zu reduzieren. Vielfach sollen auch Bäder geschlossen und öffentliche Transporte eingeschränkt werden, ebenso wie die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten und die Jugend- und Seniorenbetreuung.

Deutschland spart, und wenn es nach dem Willen der Bundesregierung geht, ist es damit sogar ein Vorbild für Europa. Sie will mit einem rigiden Sparprogramm die Staatsschulden deutlich reduzieren und fordert die restlichen EU-Staaten auf, diesem Weg zu folgen. Schließlich habe man seit Beginn der Finanzkrise bereits zwei Konjunkturprogramme aufgelegt. Nun, wo sich langsam ein sanfter Aufschwung abzeichnet, sei es an der Zeit, die immense Staatsverschuldung wieder abzubauen. Wann, wenn nicht jetzt – so lautet das Mantra in Berlin.

Tatsächlich deutet sich zumindest in Deutschland eine Konjunkturerholung an. Die Automobilindustrie verzeichnet deutliche Zuwachsraten, ihr Auftragsvolumen schließt wieder an die Zeiten vor der Krise an. Auch der Maschinenbau meldet hohe Wachstumsraten, und der Arbeitsmarkt entwickelt sich besser als erwartet. „Deutschland ist wieder da – nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich“, jubelte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle von der liberalen FDP vergangene Woche. Forderungen nach Konjunkturprogrammen und höheren Löhnen seien „der falsche Weg“ und würden zu „einer Art schleichenden Griechenlandisierung der deutschen Wirtschaftspolitik“ führen.

Auf solche Meldungen aus Berlin hat der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy gerade noch gewartet, predigt er doch seit geraumer Zeit genau das Gegenteil. Bereits auf das deutsche Verhalten während der griechischen Schuldenkrise reagierte die französische Regierung sehr befremdet. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel zeitweise offenbar sogar einen Staatsbankrott in Kauf nahm, um den Euro stabil zu halten, konnte dort niemand nachvollziehen. Damals wurde bereits erkennbar, dass die EU-Staaten die Wirtschaftskrise äußerst unterschiedlich interpretieren. Nach Meinung der deutschen Regierung haben vor allem die südeuropäischen Staaten zu lange „über ihre Verhältnisse gelebt“ und müssen nun den Preis dafür zahlen. Mit dieser Ansicht steht die Bundesregierung in Europa allerdings ziemlich alleine da.

In Paris und den meisten anderen EU-Hauptstädten glaubt man hingegen, dass die deutsche Exportwirtschaft wesentlich zur Krise beigetragen habe. Mit ihren niedrigen Löhnen habe sie die restlichen EU-Staaten niederkonkurriert. Nun mache Deutschland auch noch andere für die dadurch entstandene Misere verantwortlich.

Auslöser des Konflikts sind vor allem die unterschiedlichen Wirtschaftsmodelle in Europa. Während deutsche Unternehmen vom Export abhängig sind, setzen Frankreich, Spanien oder Italien vor allem auf die Binnennachfrage. Auf die Dauer kann diese Aufteilung nicht funktionieren. Sarkozy fordert daher schon seit geraumer Zeit eine europäische Wirtschaftsregierung. Vor allem aber zielt er auf den Heiligen Gral der deutschen Geldpolitik, die Europäische Zentralbank (EZB), die der französische Präsident gerne politischen Interessen unterordnen möchte. Nur so könne verhindert werden, dass die Eurozone immer weiter auseinanderdriftet. „Wir müssen ernsthaft über die Notwendigkeit einer Wirtschaftsregierung nachdenken, die echte Steuerungsfunktionen übernimmt“, fordert daher die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde. Die Wettbewerbsfähigkeit jedes Mitgliedslandes sowie die Abstände zwischen den Ländern müssten „sehr sorgfältig überprüft werden“. Daraus ergebe sich „logischerweise eine Wirtschaftspolitik, die es erlaubt, diese Unterschiede auszugleichen und die Wirtschaftspolitiken zu harmonisieren“.

Dann könnte die Bundesregierung nicht mehr wie bisher alleine entscheiden, mit welchen Maßnahmen sie die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen steigern möchte. Sparquote, Inlandsnachfrage, Lohnstückkosten und indirekte Steuern – darüber würde dann vor allem in Brüssel verhandelt. Zu Recht ahnt Bundeskanzlerin Merkel, dass Frankreich und die südeuropäischen Staaten mit diesem Vorschlag den Exportmeister Deutschland in die Schranken weisen möchten, und wehrt sich daher mit allen Mitteln.

Für einen kurzen Moment sah es dennoch fast so aus, als könne sich Sarkozy durchsetzen. Als die Repräsentanten der Euro-Staaten im Mai auf einer Krisensitzung das Rettungspaket beschlossen, um Griechenland vor dem Bankrott zu bewahren, schien die alte Ordnung zu wanken. Die EZB fungiert seitdem nicht mehr ausschließlich als unabhängige Instanz, die alleine einer stabilen Währung verpflichtet ist. Nun muss sie widerwillig auch wertlose griechische Staatsanleihen kaufen, um das Land zu stützen.

In Paris und den meisten anderen EU-Hauptstädten glaubt man, dass die deutsche Exportwirtschaft wesentlich zur Krise beigetragen habe.

Für die Bundesregierung bedeutet diese Entscheidung jedoch keine Kehrtwende der bisherigen Politik, sondern nur die Ausnahme von der Regel. Ein Staatsbankrott Griechenlands hätte damals nicht nur das europäische Finanzsystem bedroht, sondern weltweit fatale Folgen nach sich ziehen können. Da musste selbst Bundeskanzlerin Merkel handeln.

Zu weiteren Zugeständnissen ist die deutsche Regierung indes kaum bereit. Nach einigem diplomatischen Geplänkel einigten sich Merkel und Sarkozy Mitte Juni zwar auf einen minimalen Kompromiss. Demnach sollen sich alle 27 EU-Mitglieder an einer europäischen Wirtschaftsregierung beteiligen. Im Gegenzug sollen jene Länder, deren Defizit höher als drei Prozent des Bruttoinlandprodukts ist, härter und notfalls sogar mit dem Entzug des Stimmrechts bestraft werden. Irgendwann, irgendwie: Die Pläne für eine europäische Wirtschaftsregierung wie für die Vertragsänderungen, die härtere Sanktionen ermöglichen würden, bleiben auch nach dem Treffen verschwommen.

Dass Sarkozy trotzdem tapfer versuchte, die Ergebnisse schönzureden, liegt daran, dass Frankreich mittlerweile selbst gezwungen ist, mehr zu sparen. Einen Spielraum für aufwändige Konjunkturprogramme gibt es nicht mehr, nachdem Rating-Agenturen bereits angedeutet haben, dass sie vielleicht bald die Kreditwürdigkeit Frankreichs herabstufen. So kritisierte Sarkozy die deutschen Pläne noch Anfang Juni einem Bericht der Zeitung Le Figaro zufolge mit den Worten, dass „ein Sparpaket nach dem anderen in die Rezession führt“. Doch ungefähr zur selben Zeit beschloss die Regierung insgesamt 150 Maßnahmen, um die laufenden Staatsausgaben in den kommenden drei Jahren um zehn Prozent zu senken. Zudem sollen demnächst 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst wegfallen.

Frankreich steht wie viele andere EU-Staaten vor einem Dilemma. Einerseits muss die Regierung schnell für neues Wachstum sorgen, denn nur so erhöhen sich die Steuereinnahmen und sinken die Sozialausgaben. Andererseits muss sie dringend sparen, denn sonst drohen die Staatsschulden außer Kontrolle zu geraten. Ein Wettrennen gegen die Zeit, das nur schwer zu gewinnen ist.

In anderen EU-Ländern ist die Lage noch prekärer. Großbritannien plant angeblich Haushaltskürzungen um bis zu 40 Prozent, während die rumänische Regierung in der vergangenen Woche die Mehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte erhöht hat. Sie griff zu dieser drastischen Maßnahme, um Auflagen des Internationalen Währungsfonds zu erfüllen. Ansonsten hätte sie dringend benötigte Kredite nicht erhalten. Die zusätzlichen Belastungen senken aber wiederum die Nachfrage, so dass für Rumänien eine Rezession im kommenden Jahr wahrscheinlicher wird.

Vor dieser Entwicklung fürchten sich nicht nur Franzosen und Rumänen. Auch in den USA wächst die Sorge, dass die rigiden deutschen Sparpläne schnurstracks in eine weltweite Rezession führen könnten. So erinnerte der US-amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman unlängst in der New York Times an den Reichskanzler Heinrich Brüning, der am Ende der Weimarer Republik versuchte, mit einem extremen Sparkurs die deutschen Finanzen zu sanieren. Er reduzierte Löhne und Gehälter, erhob neue Steuern und machte dadurch alles noch viel schlimmer. Nun seien „die Deutschen gerade wieder dabei, diesen Fehler zu machen“, kritisierte Krugman. Die Sparpolitik drohe Europa in eine „düstere Zukunft der Stagnation und Deflation“ zu treiben.

Eine deutsche Exportoffensive ist auch das Letzte, was US-Präsident Barack Obama derzeit gebrauchen kann. Die US-Wirtschaft dümpelt seit geraumer Zeit trotz riesiger Investitionsprogramme vor sich hin. Kommen die Unternehmen nicht bald in Schwung, drohen der Regierung fiskalische Probleme, gegen die selbst griechische oder spanische Krisen harmlos wirken. Obama will deshalb noch mehr Geld in die Wirtschaft pumpen, in der Hoffnung, dass mit dem Aufschwung die Defizite langsam wieder schwinden. Wachsen die Schulden aber munter weiter, dann kann die US-Regierung die finanziellen Folgen mittelfristig kaum verkraften. Kein Wunder also, dass mittlerweile der Euro-Kurs langsam wieder steigt. Angesichts der Schrecken, die sich auf der anderen Seite des Atlantiks zusammenbrauen, wirken die europäischen Probleme verhältnismäßig überschaubar.

Das weiß auch die Bundesregierung, sie denkt deshalb derzeit nicht daran, ihre Politik zu ändern. Bislang fährt sie gut damit. Wegen der positiven Wirtschaftsdaten will Finanzminister Wolfgang Schäuble nun rund 20 Milliarden Euro weniger Schulden aufnehmen als bislang geplant. Der Exportboom macht es möglich, auch wenn die dadurch erzielten Überschüsse in anderen Ländern als Defizite auftauchen, sei es in Frankreich, Spanien oder den USA. Bleibt nur die Frage, wer langfristig noch übrigbleibt, um deutsche Produkte zu kaufen. Vermutlich nicht einmal die Deutschen.

Anton Landgraf ist Publizist und lebt in Berlin.


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