Das Gutachten des Staatsrats zur geplanten Abtreibungsreform stärkt nicht nur die Position der Frauenbewegung, es ist auch Ausdruck der sich verändernden Luxemburger Gesellschaft.
Als der sozialistische Abgeordnete Antoine Wehenkel 1971 einen Gesetzesantrag zur vollständigen Entkriminalisierung der Abtreibung – ohne Einschränkung durch Indikationen – einbrachte, war Sterilisation in Luxemburg noch verboten und Werbung für Verhütungsmaßnahmen strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Dass die zu dieser Zeit geltenden Artikel des Code civil, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammten, zu streng waren, fand im Jahre 1978 sogar der konservative Staatsrat. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, eine „zu liberale Lösung“ aus lebensschützerischen, aber auch demographischen, Gründen abzulehnen.
Mehr als dreißig Jahre später scheint die Luxemburger Gesellschaft – man glaubt es kaum – profunde Veränderungen zu durchleben. Nachdem sowohl die Frauenbewegung als auch die fortschrittlichen Parteien jahrzehntelang aus Angst vor einem konservativen Backlash den Status quo akzeptiert hatten, reichte die sozialistische Abgeordnete Lydie Err 2007 erneut einen Vorschlag ein, welcher der Fristenlösung den Vorzug gab. Auch wenn der Vorschlag in der Zwischenzeit wieder zugunsten eines weit weniger fortschrittlichen Regierungsprojekts zurückgezogen wurde: Das lange Schweigen war gebrochen.
Und nun der Staatsrat. Seine Stellungnahme von voriger Woche zu dem seit 2009 vorliegenden Regierungsprojekt zur Abtreibungsreform ist mehr als nur ein x-stes Gutachten. Nicht nur, dass die hohe Körperschaft Kritik am Regierungsmodell der Indikationslösung übt, sie lehnt auch in deutlichen Worten die strafrechtliche Verfolgung der Abtreibung ab, die im Projekt Biltgen immer noch vorgesehen ist. Sie verlangt sogar, unter Androhung einer „opposition formelle“, dass das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Frau konsequent anzuwenden sei. Dies impliziert die Forderung, eine Fristen- statt der Indikationslösung einzuführen, steht aber auch der von der Regierung vorgesehenen obligatorischen Beratung der betroffenen Frauen entgegen.
Nach der Euthanasiereform und der Debatte um die Homoehe und ?adoption wird mit diesem Gutachten erneut deutlich, dass der Einfluss der Kirche auf die Luxemburger Gesellschaft beständig abnimmt. Die CSV ist in der Defensive, das zeigt auch die Haltung der von dem CSV-Mann Mill Majerus präsidierten Familien-, Jugend- und Chancengleichheitskommission: Sie sieht angeblich keinen Anlass, auf das Nachsuchen des Kollektivs „Si je veux“ um eine Unterredung einzugehen. Diskussionsoffenheit und Gesellschaftsnähe sehen anders aus. Doch die CSV hat mit dem Vorschlag der Erweiterung der Indikationslösung bereits so viel Wasser in ihren Wein geschüttet, dass sie mit dem Rücken zur Wand steht.
Positionierungsnöte haben allerdings auch andere. Laut Communiqué freuen sich die Grünen über das Gutachten des Staatsrats, wollen aber im gleichen Atemzug das Recht auf Abtreibung nur den in Luxemburg ansässigen Frauen zugestehen. Dabei verweist der Staatsrat nicht nur explizit auf die historische Tatsache, dass Tausende von Luxemburger Frauen bislang im Ausland abgetrieben haben, sondern unterstreicht auch, dass jede Residenzklausel gegen den EU-Gleichheitsgrundsatz verstößt.
Das Gutachten verdeutlicht, wie sehr der Staatsrat die einstige konservative Dominanz zu überwinden vermocht hat. Das mag viel mit den personellen Veränderungen innerhalb des Gremiums in den letzten Jahren zu tun haben. Nicht nur, dass aufgrund gesetzlicher Bestimmungen das Durchschnittsalter der Mitglieder gesunken ist. Auch die Zusammensetzung hat sich geändert: Der Staatsrat, dem erst seit 1975 Frauen angehören – bis 2000 nur eine einzige -, hat heuer mit sechs Rätinnen eine höhere Frauenquote aufzuweisen als das Parlament. Dies dürfte maßgeblich zu der fortschrittlichen Ausrichtung des Gutachtens beigetragen haben.