Mit ihrem Buch „Auf die Schiene mit der Großregion“ plädieren Reinhard Klimmt und Werner Ried für den Ausbau des Schienennetzes der Großregion. Eine theoretische und praktische Begegnung.
Der prasselnde Regen hat sich in dicke weiße Schneeflocken verwandelt. Während die Temperatur weiter unter null Grad Celsius sinkt, steigt die unbehagliche Vorahnung in mir auf, dass meine bevorstehende Busfahrt von Saarbrücken nach Luxemburg nicht einfach werden wird. Als mein Mitbewohner mir per SMS mitteilt, dass in Luxemburg alles im Schneechaos steckt, beschließe ich endgültig, die Buchvorstellung in der Villa Europa in Saarbrücken schon kurz vor ihrem Ende zu verlassen, um noch sicher einen Bus nach Luxemburg zu erwischen. Schade, denn die Veranstaltung, bei der der frühere Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt und der Geograph Werner Ried ihr kürzlich veröffentlichtes Buch „Auf die Schiene mit der Großregion“ vorgestellt hatten, versprach gerade in eine vielversprechende Diskussion zu münden. Ein dynamisches Autorenduo, die beiden Experten, das ein überzeugendes Plädoyer für die Ausgestaltung des Schienenverkehrs in der Grenzregion SaarLorLux ablieferte. Statt der Diskussion zu folgen, stapfe ich nun also im Dunkeln durch die verschneiten, autoleeren Saarbrücker Straßen zum Bahnhof. Es ist ein seltener Anblick, im Saarland durch unbefahrene Straßen zu laufen. Gerade erst während der Buchvorstellung wurde der Großregion Gold verliehen ? für die an der Weltspitze liegende Automobilquote von 531 pro 1000 Einwohner (Kinder und alte Menschen mit einberechnet). Aber das ist bei Weitem nicht der einzige Rekord, der Klimmt und Ried zu ihrem Plädoyer für die Schiene motivierte. Auch was die Autobahndichte angeht, belegt die Großregion einen Spitzenplatz. Dass augenblicklich beide ? Autos und Autobahnen – dabei sind, unter dem Schnee zu verschwinden und in klirrender Kälte zuzufrieren, wäre daher eigentlich ein geradezu erfreulicher Anblick, würde nicht mit den Autos und Straßen das kaum verzichtbare Transportmittel der Großregion verschwinden. „Automobilfixiertes Zeitalter“ nennen die Autoren das in ihrer Studie und greifen ein Schlagwort von Autokritiker Knoflacher auf: „Virus Auto“. In der Region Saar-Pfalz, so zeigt eine von den Autoren analysierte Studie, liegt die
Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs anteilig am Gesamtverkehr nur zwischen null und einem Prozent und während Teile des prinzipiell sehr umfangreichen Schienennetzes der Großregion brach liegen, werden Autobahnen weiter ausgebaut.
SaarLorLux – die einsame Insel Europas?
Langsam nähere ich mich dem Bahnhof Saarbrückens, der immer mehr auch zu einem kommerziellen Zentrum wird und mit Komfortangeboten lockt, um seiner Berufung als Eurobahnhof im „Herzen Europas“ gerecht zu werden. Dass jedoch das Herz Europas bald ein recht einsames werden könnte, das hatte der leidenschaftliche Geograph Ried soeben in der Villa Europa mit einprägsamen Beispielen illustriert. Die einsame Insel droht, wenn, wie vorgesehen, ab 2016 die Strecke des TGV Est bis nach Straßburg verlängert wird, sodass Straßburg und Saarbrücken, und damit auch Mannheim und Frankfurt, von Paris aus gleich schnell zu erreichen sind. Infolge der geringeren Fahrgast-Potenziale könnte die Hochgeschwindigkeitsstrecke über Kaiserslautern und Saarbrücken ins Hintertreffen geraten. Würde darüber hinaus nördlich Straßburgs eine neue Rheinquerung für die Hochgeschwindigkeitszüge geschaffen, so wären der Rhein/Neckar- und der Rhein/Main-Raum über Straßburg wesentlich schneller erreichbar als über Saarbrücken. Das würde für die Integration der Großregion in die europäische Infrastruktur zweifellos einen Nachteil bedeuten.
An der Haltestelle vor dem Bahnhofsgebäude angekommen, empfängt mich gleich die befürchtete Nachricht: Kein Bus fährt heute mehr nach Luxemburg, durch einen Unfall ist die Autobahn blockiert … jetzt also die Praxis, die die Theorie der Buchvorstellung komplettiert. Denn eine direkte Zugverbindung nach Luxemburg gibt es bekanntlich nicht.
Am Schalter sagt mir eine freundliche DB-Dame, ich solle den nächsten Zug bis zum rheinland-pfälzischen Örtchen Karthaus nehmen, um dort in einen Anschlusszug nach Luxemburg umzusteigen. Da der Abend ohnehin ziemlich weit fortgeschritten ist, mache ich mir nichts daraus und freue mich stattdessen auf drei Stunden Lektürezeit.
Ringzug statt Umstieg
„Meine Damen und Herren“, tönt es jedoch bereits in Ensdorf aus dem rauschenden Lautsprecher „auf Grund von wetterbedingten technischen Schwierigkeiten muss der Zug zehn Minuten länger halten als planmäßig vorgesehen.“ Ich muss mich somit wohl oder übel darauf einstellen, meinen Anschlusszug in Karthaus zu verpassen und zwei Stationen weiter, in Trier, eine weitere Stunde auf den nächsten Zug nach Luxemburg zu warten. Ironie des Schicksals – genau jetzt wäre die Lösung ideal, die die beiden Autoren vor zwei Stunden mit großem Enthusiasmus vorstellten: der Q_Intracity. Damit ist ein Ringzug zur Verbindung der Städte des Grenzraums gemeint. Die vier Quattropole-Städte Metz, Luxemburg, Trier und Saarbrücken, sowie dazwischen liegende Orte, sollen nach diesem Plan durch eine Ringbahn verbunden werden, sodass ein bequemes Reisen von Stadt zu Stadt ohne Umsteigen an der Ländergrenze möglich wird. Während der Buchvorstellung hob Ried besonders die Tatsache hervor, dass ein solches Konzept nicht nur bereits in der Vergangenheit entworfen wurde, sondern potenziell bereits besteht und somit auch finanziert wird. Für ihn geht es nur darum, das Projekt auf organisatorischer Ebene umzusetzen und die technischen Unvereinbarkeiten zwischen den einzelnen nationalen Schienennetzen – also unterschiedliche Stromsysteme, Regelwerke, Zugsicherungstechniken usw. -, zu überwinden. „Interoperabilität“ ist die Lösung, die Klimmt und Ried vorschlagen, das heißt die Ausrüstung der Fahrzeuge mit allen Systemen der beteiligten Länder. Wegen des grenzüberschreitenden Charakters des Projekts könnte es auch mit EU-Geldern gefördert werden.
Es war ganz still unter den Zuhörern, als Ried schwungvoll die Idee vorstellte. Ein überzeugendes Konzept, so überzeugend, dass sich alle die gleiche Frage stellten: Warum ist es dann nicht längst verwirklicht worden? Der Kasus Knacktus liege hier wieder einmal bei den Problemen der grenzüberschreitenden Kooperation, erklärte Klimmt. Er eröffnete den Zuschauern, dass er noch immer an einem Vorhaben festhalte, an dem er sich schon während seiner Zeit als Minister die Zähne ausgebissen habe: der Schaffung einer auch für den grenzüberschreitenden Verkehr zuständigen Besteller-Organisation. Gegenwärtig ende die Verantwortung der Besteller nämlich an der Ländergrenze, was sich praktisch in der Unannehmlichkeit häufigen Umsteigens an der Grenze niederschlage.
Fragwürdiges Umweltbewusstsein
Mit einem Ruck setzt sich der Zug mit rund zehn Minuten Verspätung wieder gemütlich in Bewegung. Ich lasse die weiße Landschaft an mir vorüberziehen, zähle die Haltestellen, die noch vor mir liegen und vertiefe mich erneut in meine Lektüre. Wieder ertönt ein Rauschen im Lautsprecher und die wenigen Luxemburg-Reisenden erhalten eine Extra-Durchsage vom Schaffner: Auf Anfrage wartet der Zug in Karthaus auf uns.
Meine Begegnung mit dem Karthauser Bahnhof ist die mit einem modrig riechenden unterirdischen, mit unschönem Graffiti bemalten Gang. Stünde unser Anschlusszug nicht am Bahnsteig, würde ich daran zweifeln, mich auf einem betriebsfähigen Bahnhof zu befinden. Ein Zeitungsartikel des Trierischen Volksfreund vom November dieses Jahres ist mir noch in vager Erinnerung. Von dem „immer mehr verkommenden Bahnhof Karthaus“ war dort die Rede. Genau das war auch eines der Anliegen, die Klimmt und Ried in ihrer Buchvorstellung aufgriffen. Viele Bahnhöfe – immerhin Gebäude, die eine zentrale Funktion des Gemeinde- oder Stadtlebens wahrnehmen – seien durch Vandalismus und Vernachlässigung völlig heruntergekommen. Die Autoren forderten die Einbindung der Bahnhöfe in ein intermodales System, bei dem dann auch besonders das Fahrrad gefragt sei. Ich erinnere mich, dass der Artikel über den Karthauser Bahnhof stolz über eine Erweiterung der Autoparkplätze berichtete …. Im Saarland ist dieses Problem besonders ausgeprägt: Nur 28 der 75 Bahnhöfe haben Abstellanlagen für Fahrräder.
Überhaupt wirft das Umweltkonzept der Bahn so manche Frage auf. Da wäre zum Beispiel die Elektrifizierung der Strecke, oder besser gesagt, der wenigen Kilometer, die nicht elektrifiziert sind. Die Beispiele, die in dem Buch genannt werden, sind auch hier aufschlussreich. Zwischen Lebach und Saarbrücken beispielsweise wurde die sogenannte Wemmetsweiler Kurve über 300 Meter ohne Elektrifizierung gebaut. Da helfe es dann nichts, so Ried während der Vorstellung, dass das Saarland seit Sommer 2010 seinen Schienenverkehr ausschließlich mit Ökostrom versorgt, denn wegen dieser Lücke könnten leider auf der gesamten Strecke nur Dieselfahrzeuge eingesetzt werden. Dabei zeigen die Autoren in ihrer Studie auch, dass die geplanten finanziellen Investitionen in Autobahnen ausreichen würden, die Lücken der Elektrifizierung der Großregion zu schließen, was entschieden nachhaltiger wäre.
In einiger Entfernung sehe ich die Lichter des Luxemburger Bahnhofs auftauchen. Nach drei und einer halben Stunde Zugreise bin ich auf der anderen Seite der Grenze angekommen.
Reinhard Klimmt war Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und Ministerpräsident des Saarlandes. Bis 2009 zählte er zu den Beratern der Deutschen Bahn AG.
Werner Matthias Ried ist Geograph und arbeitet heute als internationaler Koordinator bei der DB Fernverkehr AG sowie als Lehrbeauftragter für nachhaltigen Tourismus und Wirtschaftsgeographie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Saarbrücken. Er engagiert sich zudem ehrenamtlich in der Umweltbewegung, momentan im Landesvorstand des VCD Saarland e.V.
Gemeinsam haben die beiden das Buch „Auf die Schiene mit der Großregion“ verfasst, das kürzlich in der Schriftenreihe „Denkart Europa“ der ASKO Europa-Stiftung auf Deutsch und auf Französisch erschienen ist.
www.asko-europa-stiftung.de