PSYCHIATRIE IN LUXEMBURG: Funktionsstörungen

Déi Gréng erheben schwere Vorwürfe gegen das psychiatrische Krankenhaus Ettelbrück: Sie glauben, dass dort massiv Patientenrechte verletzt wurden und fordern eine Untersuchung der Menschenrechtskommission.

Ist die Ettelbrücker Psychiatrie der Mülleimer der Nation, fragt sich Marthy Thull von Déi Gréng. (Foto: Archiv)

Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Trifft das berühmte Bild der drei Affen auf das neuro-psychiatrische Krankenhaus Ettelbrück (CHNP) zu? Die Frage stellt sich nach einer Pressekonferenz von Déi Gréng zur Situation der Luxemburger Psychiatrie. Die Oppositionspartei hat „schwere Funktionsstörungen“ im CHNP festgestellt. Sie bezieht sich dabei unter anderem auf einen Brief, den der Verwaltungsrat des CHNP bereits am 30. September vergangenen Jahres an die Belegschaft geschrieben hatte. Darin mahnte der Verwaltungsrat an, „que les personnes résidentes ou soignées au CHNP soient traitées dignement et selon les bonnes pratiques professionnelles“.

Und dies wohl aus gutem Grund: Noch immer läuft ein Ermittlungsverfahren gegen einen Angestellten der Behindertenabteilung. Er soll im Sommer vergangenen Jahres einem behinderten Insassen von Ettelbrück einen Wurm zum Essen gegeben haben, woraufhin die Direktion ein disziplinarisches Verfahren gegen den Pfleger einleitete. Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Das bestätigte auch Jean-Marie Spautz. Der Direktor des CHNP rechtfertigt im Gespräch mit der woxx aber, dass der Patient das nicht als menschenverachtend erlebt habe: „Das erleben nur wir mit unserer normalen Intelligenz so.“ Doch auch wenn Spautz und der zuständige Staatsanwalt Jean Bour in Diekirch betonen, es handele sich lediglich um einen Einzelfall – der Brief des Verwaltungsrates ist im Plural gesetzt: Von „certains événements ces derniers temps ont leu lieu au CHNP, mettant en cause le respect fondamental des droits de l’homme“ und von einem „risque de maltraitance du CHNP“ ist darin die Rede.

Auch die im Herbst ins Leben gerufene, grüne Arbeitsgruppe „Santé mentale“, die sich aus Experten und Betroffene aus der Psychiatrie zusammensetzt, sieht weitere fundamentale Menschenrechte verletzt. Die grüne Politikerin Marthy Thull kritisiert vor allem die nach wie vor gängige Praxis, PatientInnen zu fixieren und zu isolieren. Fixierte Patienten werden mit Hand- und Fußschnallen ans Bett gefesselt; bei der Isolierung werden sie in ein Einzelzimmer gesteckt. „Es fehlen Kriterien, wann, durch wen und wie lange solche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden dürfen“, so Thull. Es komme vor, dass auch Minderjährige in der Isolierzelle landen – für die verängstigten Jugendlichen oftmals eine „traumatische Erfahrung“.

Schwierige Grauzone

Die Frage allerdings, wann Zwangsmaßnahmen angebracht sind, ist nicht immer einfach zu beantworten. ExpertInnen sagen, sie dürfen nur angewandt werden, wenn alle anderen zwangsfreien Mittel gegen aggressive und gewalttätige Insassen versagt haben. Zudem müssten sie sorgfältig dokumentiert und vom Arzt genehmigt werden. „Im Notfall hat der Pfleger aber auch das Recht zu handeln und danach zu dokumentieren und zu informieren“, fügt Spautz hinzu. Etwa wenn unmittelbare Verletzungsgefahr für den Patienten oder das Personal bestehe. Für den unwissenden Patienten entsteht aber eine Grauzone, denn wer garantiert ihm, dass Pfleger nicht zu früh oder unverhältnismäßig eingreifen, und der Arzt auch wirklich richtig entscheidet? „Der Patient hat ja das Recht, sich zu beklagen“, sagt Spautz. Dass es wegen derartiger Zwangsmaßnahmen bisher zu keinem juristischen Verfahren gekommen sei, erklärt der Direktor mit der „geringen Gewalt“ in seiner Einrichtung und der „Professionalität“ des medizinischen Personals. Auf woxx-Nachfrage, wie oft Fixierung und Isolierung bisher in Ettelbrück angewendet wurden, konnten jedoch weder Spautz noch der Präsident der zuständigen Kontrollkommission Paul Konsbruck konkrete Zahlen nennen. Sicher ist aber: Die Notmaßnahmen dauern häufig länger als 24 Stunden; auch Jugendliche sind davon betroffen.

In der Kritik steht die Zwangseinweisung im Allgemeinen. Laut der Gesetze von 1988 und 2000 kann ein Patient nur dann vom Vormund, Familienangehörigen, den BürgermeisterInnen, der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht eingewiesen werden, wenn er oder sie durch aggressives Verhalten die öffentliche Ordnung stört oder aber die eigene oder die Sicherheit anderer gefährdet. Tatsächlich ist bei der Hälfte aller Zwangseinweisungen die Störung der Ordnung der Grund; rund 40 Prozent haben Familienangehörige veranlasst. Oft taucht in den Einweisungspapieren aber überhaupt kein berechtigter „Dritter“ auf, sodass verschiedene Platzierungen rechtlich fragwürdig sind. Das jedenfalls stellt ein Bericht der Europäischen Kommission für Gesundheit- und Verbraucherschutz vom Mai 2002 fest.

Und das Patientenrecht?

Die EU-Kommission bemängelt in ihrem Bericht zudem, wie nach der gesetzlichen 15 bis 30-tägigen Beobachtungsphase mit Zwangseingewiesenen verfahren wird: „Again, there is no systematic legal procedure after the observation period, which might eventually prevent abusive placements.“ Obwohl mit der unfreiwilligen Platzierung fundamentale Menschenrechte berührt sind – es handelt sich schließlich um Freiheitsentzug -, bleiben mehr als 20 Prozent der 300 bis 400 Eingewiesenen pro Jahr im CHNP länger als einen Monat dort. „Es ist klar, dass es Sinn machen würde, die Beobachtungsperiode von vier oder fünf Wochen auf einige Tage zu reduzieren“, räumt Direktor Spautz ein. Weniger Probleme hat der Leiter aber offenbar damit, dass zwangsweise und freiwillige PatientInnen in Ettelbrück auf denselben Station untergebracht sind. Dabei schreibt das 1988er-Gesetz in Artikel 38 eine Trennung ausdrücklich vor. Das Ministerium habe dies akzeptiert, sagt Spautz.

Offenbar ist das nicht der einzige Punkt, den das Ministerium in puncto Psychiatrie hinnimmt. Die Sorge über mögliche Menschenrechtsverletzungen im CHNP kann Gesundheitsminister Carlo Wagner (DP) nicht nachvollziehen. In seiner Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten Mars di Bartolomeo vom Oktober bescheinigte der Minister dem Conseil d’administration des CHNP jedenfalls gute Arbeit. Dass die Grünen mit ihrer Forderung nach einer Untersuchung der Ettelbrücker Vorfälle durch die Gesundheitskommission und die nationale Menschenrechtskommission Erfolg haben werden, ist deshalb wenig wahrscheinlich.

Derweil lässt die versprochene Umstrukturierung des Ettelbrücker Krankenhauses in ein Rehabilitationszentrum weiter auf sich warten. Und auch der angekündigte Ausbau der psychiatrischen Abteilungen der allgemeinen Krankenhäuser, die künftig auch Zwangseingewiesene aufnehmen sollen, stockt. Von einer Strukturreform hin zu einer dezentralisierten regionalen Psychiatrie, wie sie die Häfner-Studie aus dem Jahr 1991 vorsah und die sogar im Gesundheitsministerium bis Ende 1999 noch diskutiert wurde, ist inzwischen kaum mehr die Rede. Nicht mal vor den Wahlen.


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