NACHRUF: Abschied von Christa W.

Am 1. Dezember verstarb die Schrifstellerin Christa Wolf im Alter von 82 Jahren in Berlin. Ein sehr persönlicher Nachruf auf eine Autorin, die die deutsche Nachkriegsgeschichte in Ost und West geprägt hat.

Seit einer Woche erscheinen nun Nachrufe auf Dich, Christa Wolf. Du seist Kassandra gewesen, „IM-Margarete“, Mitglied der SED, auch Geächtete, aber im Ganzen eine überzeugte Sozialistin, die noch am 4. November 1989 eine Rede zur Verteidigung der DDR hielt. „Nach-Rufe“ nanntest Du Schlussworte einst, wie Albrecht Haller in seiner Trauerode an seine verstorbene Geliebte. Das Sezieren der Sprache zur Entlarvung des ihm inne wohnenden Gedankenguts war nur eine Deiner Stärken. „Nachruf kann im Titel vorkommen. Gedächtnis nicht. Vor allem aber ein Anklang auf jene Grund-Muster, denen die Erinnerung, je tiefer sie dringt, umso häufiger begegnet“, heißt es in Erläuterungen zum Roman „Kindheitsmuster“, der als Dein autobiografisch(st)er Roman gilt. Soweit dieser Superlativ an der Stelle zulässig ist, denn mit Superlativen hattest Du es nicht so, eher mit dem Konjunktiv, der Möglichkeitsform. Wie eben in „Kindheitsmuster“: Nelly statt Christa, das ließ Dir, der Erzählerin, die Möglichkeit ? wie auch den LeserInnen die Illusion ?, sich einzumischen. In nie endender Selbstbefragung, denn für Dich waren Stilistik und Existenz ohne einander nicht denkbar. Die beständige Reflexion, das Suchen nach der condition humaine in einer kapitalistischen Weltordnung, die Befragung anderer gegen das Vergessen und der Wille, zu verstehen, ist in allen Deinen Erzählungen fühlbar.

Und es sind starke Frauen, die diese Erzählungen bestimmen. Die Seherin Kassandra, in der der Westen schon früh eine versteckte Botschaft gegen die DDR erblickte. Oder Medea, die verrufene Kindsmörderin ? Heldinnen der Antike, starke, reflektierte, zweifelnde Frauen, wie Du selbst. Immer sind sie es, die sich erinnern und verändern. Vera in der „Moskauer Novelle“, Rita im „geteilten Himmel“, die Ich-Erzählerin in „Nachdenken über Christa T.“ und Nelly in „Kindheitsmuster“. Bewusst bezogst Du Dich in literarischen Debatten nicht auf Lukacs oder Bloch, sondern auf Anna Seghers.

Kein exaltiertes Gehabe, keine Selbstbeschau und kein erhobener Zeigefinger, wie man sie von den männlichen Kollegen Deiner Generation, von Siegfried Lenz, Günter Grass oder Martin Walser kennt. Im Unterschied zu heutigen deutschen Erfolgsautoren, wie Uwe Tellkamp oder Julia Franck, stehst Du für eine kritische Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte, hast noch fünf Jahre nach der Wende Deine „Stasi“-Akte selbst veröffentlicht. Da, seht her! Vielleicht versteht ihr ja, was ich selbst nicht verstehe.

Den Zugang zur Vergangenheit suchtest Du durch sorgfältige Recherche und geduldiges Zusammentragen. Aus chaotischen Schnipseln entstand nach und nach ein Puzzle, das mit jedem neuen Detail an Klarheit gewann: „Die Mutter erinnert sich, doch der Vater erinnert sich nicht. Bruno Jordan ist bei Verdun verschüttet gewesen und hat sich ein für allemal das Vorrecht erworben, zu vergessen.“ (Kindheitsmuster)

Ein andauerndes Erstaunen über den Grad an Verdrängung, ein Nicht-Wahrhabenwollen dieser Realität spricht aus den Kindheitsbeschreibungen von Nelly: „Aber Zeitung werden sie doch gelesen haben. Wenigstens den „Generalanzeiger“ werden sie doch abonniert haben. Zum Zeitunglesen werden sie doch gekommen sein, auch in den Jahren, in denen sie übermäßig gearbeitet haben müssen.“ Dein Schreiben war ein Sich-Einlassen, aber auch ein Sich-nie-ganz-Einfügen, denn es blieb ja stets in der Möglichkeitsform. So sahst Du auch Deinen Staat in der Möglichkeitsform: Obwohl Du Kassandra prophezeien lässt, Troja werde untergehen, standest Du zur DDR und zum real existierenden Sozialismus, sannst nur darüber nach, wie er zu verbessern sei. 1965 hieltest Du eine kritische Rede, die das Ende Deiner ZK-Kandidatur bedeuten sollte. 1976 warst Du Mitverfasserin am „Offenen Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns“. 1989 tratest Du zwar aus der SED aus, aber öffentlich für die Weiterexistenz der DDR und gegen eine „Vereinnahmung“ durch die Bundesrepublik ein. Veränderung, so Deine Überzeugung, kann man am besten im Land selbst bewirken.

So haftete Deiner gesamten Person das Bekenntnis zur DDR an. Schon um Dein Äußeres machtest Du wenig Aufhebens. Nichts Artifizielles hattest Du an Dir, keine Schminke, trugst eine dicke Brille ? gabst die DDR-Intellektuelle, die Du warst. „Kein Ort nirgends“ wurde von der Literaturkritik als Metapher für Deine politische Individualität gedeutet. Dein Zuhause war die DDR, und dennoch warst Du heimatlos oder bliebst viel mehr immer suchend. Denn was bedeutet schon Heimat? Dieses semantische Konstrukt, das allenfalls ein geografischer Bezugspunkt sein kann.

Und nun feiert und ehrt Dich auch das bürgerliche Feuilleton posthum. Man meint, Du habest in den „zwei totalitären“ Staaten eine „Kontinuität der Denksysteme“ gesehen. Nur so, scheint es, kann man Dich auf einen Sockel heben. Welch ein Betrug. Was für eine Ohrfeige. Wieso nur, fragt man sich, bist Du dann in der DDR geblieben, hast an Staat und System festgehalten? Literaturpapst Reich-Ranicki bezeichnete Dich abschätzig als „DDR-Autorin bis zuletzt“ und tat manche Deiner Arbeiten als „nicht ganz ausgereift“ ab. Ob er je etwas von Dir gelesen hat?

Und dann heißt es immer wieder, etwa von Deiner Verlegerin, Du seiest eine Autorin gewesen, die „keine Distanz zu ihren Figuren“ wahren konnte. Kritiker des DDR-Literaturbetriebs bemängelten die allzu schwache Distanz der Erzählerin von ihrer Heldin in „Nachdenken über Christa T.“ Stimmt. Distanz zu Deinen Figuren hattest Du nie. Wie gut, denn sonst wäre Dein Werk nicht das, was es ist! „Einziger Zuhörer: seine gottlob erwachsene Tochter Nelly; die mit dem Deutschen Gruße aufgewachsen ist und es zwei Jahre zuvor mühsam hat lernen müssen, „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Soll dein Gruß ein deutscher sein, grüße stets mit Hitler Heil. Die mangelhafte Form dieses Verses hatte sie gestört, nicht sein Inhalt.“ Die Kunst könne doch „nach wie vor nicht darauf verzichten, subjektiv zu sein“. Sie müsse doch die Handschrift, die Sprache, die Gedankenwelt des Künstlers wiedergeben, war Dein Verteidigungsargument vor dem ZK 1965. Das nenne ich eine ehrliche Nachkriegsstimme.

Und ohne Dein Oeuvre in irgendeine Form pressen oder einordnen zu wollen, fällt mir zu Deinen Büchern nur noch ein: Sie sind eine Richtschnur, Dein Roman „Kindheitsmuster“ ist für mich die beste Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur. Wenn man ein statement wagen würde, ich würde Dein Werk ?straight‘ nennen. „Wandlung. Wahrheit. Wahrhaftigkeit. Ernst. Würde“ waren die Zuschreibungen, die Du einst als Abschiedsworte in deiner Rede für Franz Fühmann wähltest. Es sind Deine Attribute!


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