An Prognosen, wie Luxemburg in 20 oder die Welt in 40 Jahren aussehen wird, fehlt es nicht. Doch wozu sind diese Gedankenexperimente gut?
Zum Jahresende in die Zukunft zu blicken ist eine beliebte und nützliche Beschäftigung. Wer möchte nicht wissen, welches Land 2014 von einem Wirbelsturm verwüstet wird, wie viele Indextranchen anfallen, und wer Fußballweltmeister wird? Nicht alle Fragen, die sich im kommenden Jahr stellen, sind leicht zu beantworten und je weiter man sich auf der Zeitachse von der Gegenwart entfernt, umso schwieriger wird’s. Dennoch werden viele Berichte und Bücher darüber veröffentlicht, wie die Welt in 20 oder 40 Jahren aussehen wird – oder was bis dahin aus Luxemburg wird.
Eine erste Funktion, die der Blick in die ferne Zukunft erfüllen soll, ist die einer Entscheidungshilfe in der Gegenwart. Oder, wie es Luxemburgs Nachhaltigkeitsrat (CSDD) formuliert hat: Wie können wir heute die Weichen für die Zukunft stellen, die wir uns wünschen? Welche Entscheidungen richtig sind, welche Zukunft wünschenswert, das hängt allerdings auch von den Präferenzen dessen ab, der die Antwort gibt. Im Falle des CSDD, der bereits vor ein paar Jahren den ökologischen Fußabdruck Luxemburgs berechnen ließ, steht an erster Stelle das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung.
Vor drei Wochen veröffentlichte der CSDD ein Positionspapier für die neue Regierung. Die jüngsten verfügbaren Berechnungen von 2008 zum nationalen Fußabdruck wiesen einen bedenklichen Trend auf, stellt der Rat fest: Seine Fläche sei weiter angestiegen auf 9,6 Hektar pro Kopf. Würden alle Menschen so viele Ressourcen verbrauchen wie die Einwohner Luxemburgs, dann wären mehr als acht Erden erforderlich, um das ökologische Gleichgewicht zu halten. Zum Glück benötigt derzeit ein durchschnittlicher Erdbewohner „nur“ etwa anderthalb Erden.
Die neue Regierung hat die absehbare Entwicklung des ökologischen Fußabdrucks bei ihrer Entscheidungsfindung völlig ignoriert.
Hier kommt die Zukunft ins Spiel: Bereits jetzt verbraucht die Menschheit mehr Ressourcen, als das Ökosystem Erde erneuern kann – diese werden in den kommenden Jahrzehnten fehlen. Und: Während der bereits hohe Verbrauch der Luxemburger weiter zügig ansteigt, explodiert der Verbrauch in den Schwellenländern, in denen das Konsumniveau bisher niedrig war. Die Lösung für dieses Problem liefert der CSDD nur in verklausulierter Form: „… Verhaltensänderung aller betroffenen Akteure und vor allem Infragestellung des sozioökonomischen Modells Luxemburgs.“ Im Klartext lautet die globale Antwort: drastisches Herunterfahren des Verbrauchs in den reichen Ländern wie Luxemburg, Mäßigung im Rest der Welt, verbunden mit einer allgemeinen Umverteilungspolitik. Liegt es an der unklaren Formulierung oder daran, dass der Nachhaltigkeitsrat nur eine Alibifunktion erfüllt? Die neue Regierung hat sich ungehemmtes Wachstum auf die Fahnen geschrieben und die Entwicklung des ökologischen Fußabdrucks bei ihrer Entscheidungsfindung völlig ignoriert.
Willkommener – und auch klarer formuliert – sind die Empfehlungen des CSDD in Sachen Staatshaushalt und Pensionssystem. Im Namen der Nachhaltigkeit werden Sparmaßnahmen und Leistungskürzungen propagiert – der Bereich Wirtschaft scheint beim Rat fest in liberalen Händen zu liegen. Gerade bei der Rentenproblematik zeigen sich die Grenzen der Zukunftsforschung: Die Kritiker des jetzigen Modells extrapolieren die Trends rein mathematisch bis 2050 oder 2100 und stellen fest, dass es nicht funktionieren kann. Daraus leiten sie dann die ihnen genehmen Gegenmaßnahmen ab, mit Hilfe derer die Rechnung aufgehen soll. Diese Art von Prognosen dienen weniger der Erkundung der Zukunft, als der Durchsetzung von Lobbyinteressen in der Gegenwart.
In der Vorwahlzeit gab es in Luxemburg gleich zwei Projekte mit 2030 im Namen, welche unter dem Verdacht des Lobbying standen: „2030.lu“ und „Le Luxembourg de 2012 à 2030“, das Update des 1997 im Auftrag der Fondation Weicker erstellten Berichts „Europe 2012“. Das von der Handelskammer initiierte Projekt 2030.lu versuchte gar nicht erst, sich die Zukunft vorzustellen, sondern beschäftigte sich gleich mit dem Sammeln von – auf die Zukunft bezogenen – guten Ideen. Über Workshops und eine Internet-Plattform kamen insgesamt 355 zusammen, die nun in Buchform veröffentlicht wurden. Eine interessante Initiative, deren Horizont aber über weite Strecken nicht bis 2030 reicht (woxx 1243).
Das Weicker-Update dagegen untersucht die mögliche weitere Entwicklung der EU und Luxemburgs in den kommenden 15 Jahren. Im ursprünglichen Bericht hatte man daraus „No Regret“-Strategien abgeleitet, die dem Land bei jedem in Betracht kommenden Szenario Vorteile brächten. Doch diesmal haben sich die Autoren leider darauf beschränkt, zwölf durchgehend wirtschaftsliberal geprägte Empfehlungen zusammenzustellen, deren Beitrag zu einer besseren Zukunft nicht unbedingt ersichtlich ist.
Blick in die ferne Zukunft als Entscheidungshilfe für die Gegenwart?
Auch der jüngste „Bericht an den Club of Rome“ von 2012 unterscheidet sich deutlich von seinen Vorgängern. Der Autor Jorgen Randers, der bereits an 1972 an „Die Grenzen des Wachstums“ mitgearbeitet hatte, war es nach eigenem Bekunden leid, Ratschläge zu erteilen, um die Welt zu retten: „Meine Sorgen waren vergeblich, weil sie über die letzten 40 Jahre, seit ich anfing, mir Sorgen zu machen, die globale Entwicklung nicht nennenswert beeinflusst haben.“ So ist das Buch „2052 – Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre“ entstanden (woxx 1241). Zynisch bemerkt der Klimaforscher, man könne sein Buch immerhin nutzen, „um gewinnträchtig zu investieren“ und sich auf die Welt der Zukunft einzustellen: „… auf künftige Hitzeperioden, den Anstieg des Meeresspiegels, Migrationsbewegungen, zentralistischere Regierungsformen und die Zerstörung attraktiver Touristenziele.“
Randers war am 20. November in der Coque, wo er in einem rappelvoll Amphitheater seine Sicht der Dinge darlegte. Die Hoffnung, doch noch gehört zu werden, hat er nicht ganz aufgegeben, denn er schreibt: „So könnte meine Prognose anstelle der globalen Umweltkatastrophe stehen, die offenbar nicht so plötzlich kommt, wie es nötig wäre, um breite Unterstützung für politisches Handeln auszulösen.“ Und er liefert am Ende seines Buches auch persönliche Ratschläge für die Gegenwart wie: „Investieren Sie in hochwertige Unterhaltungselektronik als Ersatz für die Realität“, „Raten Sie ihren Kindern, Mandarin zu lernen“ oder „Tun Sie mehr als sie müssen, so vermeiden Sie später ein schlechtes Gewissen“.
Beim Versuch, über die Paradigmen der Gegenwart hinauszudenken, begegnet der Blick in die Zukunft jenem in die Vergangenheit.
Am Vorhergehenden kann man erkennen, dass die „guten Ratschläge“ allein den Aufwand, sich ernsthaft mit der Zukunft zu beschäftigen, nicht unbedingt rechtfertigen. Vieles, was dabei herauskommt, ist entweder vom Interessendenken der Gegenwart geprägt, oder fällt in die Kategorie des „Müsste längst selbstverständlich sein“. Eine echte Bereicherung stellen vor allem Zukunftsszenarien dar, die völlig neue Elemente enthalten, bisher kaum beachtete Entwicklungen in den Vordergrund stellen oder einfach nur eine bequeme Lehrmeinung hinterfragen. So beantworten zum Beispiel viele Experten die Frage nach einer „World Governance“ mit dem Hinweis darauf, dass die Nationalstaaten immer nur ihre Eigeninteressen verteidigen werden. Ein Blick auf Politik und Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte scheint ihnen Recht zu geben. Wie erfrischend sind da Szenarien, ob von Zukunftsforschern, Philosophen oder Science-Fiction-Autoren, die über den Zusammenbruch der nationalstaatlichen Strukturen und den Aufbau einer Weltregierung spekulieren.
Hier begegnet der Blick in die Zukunft jenem in die Vergangenheit: Der Nationalstaat ist ein historisches, also vergängliches Phänomen, zu dem es ein Vorher … und ein Nachher gibt. Wer über die Paradigmen der Gegenwart hinausdenken will, kann also neben dem Durchspielen von Szenarien auch auf die Erkundung der Geschichte setzen.
Im Gegenzug haben Historiker wie Fernand Braudel nicht gezögert, sich aufs wissenschaftliche Glatteis der Spekulation zu begeben. Ob die Krise von 1973 den Höhepunkt eines langen Zyklus („trend séculaire“) darstelle, fragt er im ersten Kapitel des dritten Bandes von „Civilisation matérielle, économie et capitalisme“. Anders als in früheren Zyklen – das 1979 erschienene Buch behandelt die Epoche des frühen Kapitalismus von 1400 bis 1700 – sei dank der Industrialisierung sowohl die Wirtschaftsleistung als auch das Einkommen der einfachen Menschen angestiegen. Braudel spekuliert darüber, welche Formen der Abstieg des jetzigen Zyklus annehmen wird. Beim Lesen hat man spontan Lust, den 1985 verstorbenen Intellektuellen über Neuigkeiten wie den Zusammenbruch des Sowjetblocks und den Aufstieg Chinas, die ökologische und die Finanzkrise zu informieren, um zu hören, welche historischen Parallelen er dazu ziehen würde. Im Schlusskapitel schließlich erläutert Braudel seinen Kapitalismusbegriff, untersucht die langfristigen Überlebenschancen dieses Systems und skizziert, was seiner Meinung nach an dessen Stelle treten könnte. Solche Betrachtungen mögen der Realität nicht immer standhalten und als wissenschaftliche Leichtsinnigkeit kritisiert werden, doch der darin enthaltene Mut zum Weiterdenken erweist sich auch 35 Jahre später noch als intellektuell fruchtbar.
Der Weicker-Bericht ist intellektuell erhellend, und sei es nur, weil seine Szenarien zum Widerspruch anregen.
Auch der Weicker-Bericht von 1997 setzte auf Spekulationen – von den Autoren als „Szenariotechnik“ gefeiert, die es dem Ölkonzern Shell in den 1970ern ermöglicht habe, die Ölschocks zu überstehen. Dabei ging es allerdings nicht darum, über den Kapitalismus hinauszudenken, sondern die Zukunftschancen Luxemburgs sin einem sich wandelnden europäischen Umfeld abzuschätzen. Das Update spinnt mehrere der Szenarien bis 2030 weiter. So wird die Verschärfung der EU-Kontrolle über die Staatshaushalte infolge der Schuldenkrise als ein Schritt in Richtung einer paneuropäischen Vertiefung der Union interpretiert. Dieser, aus ihrer Sicht positiven Entwicklung, stellen die Autoren ein Negativ-Szenario gegenüber, mit einem stark integrierten, aber weltpolitisch schwachen Kerneuropa, in dem Luxemburg „an den Rand gedrückt wird, ohne es zu merken“. Solche Überlegungen sind erhellend. So lassen sich relativ leicht ein paar Gegenszenarios entwerfen, in denen die vernachlässigten ökologischen und sozialen Faktoren berücksichtigt werden (woxx 1237).
Dies ist das Faszinierende am Nachdenken über die Zukunft: Es schärft den Sinn für das, was möglich wäre, über das bereits Bestehende oder Absehbare hinaus. Ein Highlight stellt in dieser Hinsicht der 2010 erschienene „Atlas des Futurs du Monde“ von Virginie Raisson dar. Auf knapp 200 mit Karten und Grafiken illustrierten Seiten im Querformat werden mögliche Zukunftsszenarien bis zum Jahre 2033 entwickelt. Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Zukunft stehe bereits fest, sondern es geht der Autorin darum, „die Risiken zu verdeutlichen, denen wir uns aussetzen, wenn wir nichts unternehmen, und unsere Möglichkeiten, den Gang der Dinge zu verändern, aufzuzeigen“.
Zum Thema Klimaflüchtlinge enthält der Atlas eine Übersichtskarte für das Jahr 2033 mit fiktiven Beschreibungen der Probleme und Lösungen in verschiedenen Regionen unseres Planeten. Die Situation im von Überschwemmungen besonders stark betroffenen Bangladesh wird ausgesponnen: Angesichts von 20 Millionen potenziellen Auswanderern macht Indien die Grenze dicht und die mit viel Mühe erreichte sozioökonomische Stabilität des ressourcenarmen Küstenlandes droht, völlig aus dem Geichgewicht zu geraten. Doch die Polit-Fiction endet mit einem Happy End: Unter dem Schutz der Gelbhemden der neuen UN-Agentur für Klimaflüchtlinge können die betroffenen Bangladescher – und Inder – in Enklaven in Brasilien und Kanada auswandern.
Im Atlas für das Jahr 2033 gerät Russland in eine Spirale aus wirtschaftlicher Schwächung, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit.
Über dieses Szenario hinaus veranschaulicht der Atlas auch die Frage der Verantwortung für den Klimawandel und der Lastenverteilung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. So wird zum Beispiel klar, dass letztere von den Folgen der Erderwärmung viel stärker betroffen sein werden – ungerecht, aber wahr. Anders als man meinen könnte, wird der Handlungsdruck der betroffenen Bevölkerungen in den Industrieländern wohl nicht ausreichen und nur die Idee einer gemeinsamen Verantwortung aller Menschen füreinander kann eine wirksame Klimapolitik begründen.
Überraschend sind auch die Ausführungen zur Demografie: In den Projektionen stellt weniger das Bevölkerungswachstum bis auf 8,4 Milliarden die Herausforderung dar, als das demografische Gleichgewicht innerhalb der großen Räume. In großen Teilen der Welt werden immer weniger Berufstätige immer mehr Rentnern gegenüber stehen – eine Herausforderung für die Sozialversicherungen, aber auch für den Arbeitsmarkt. Der 2033er-Atlas zeigt am Beispiel Russlands auf, wie eine Gesellschaft in eine Spirale aus wirtschaftlicher Schwächung, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit geraten kann. Und entwirft ein Gegenszenario, in dem die Kontinentalmacht eine Zusammenarbeit mit den Nachbarländern sucht und eine massive Arbeitseinwanderung fördert. Die weltweite Migration als etwas Positives zu sehen, als eine Antwort auf demografische und ökonomische Ungleichgewichte, davon ist nicht nur Russland weit entfernt.
Der Blick von oben, wie ihn Weltkarten über Migration und Ölverbrauch bieten, hat etwas Beruhigendes: Man hat den Eindruck, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die Probleme zu lösen. Das Gefühl verstärkt sich noch, wenn man nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich den „Überblick“ hat. Dies ist der dritte Gewinn, den die Beschäftigung mit der Zukunft bringt: Uns zu befreien vom Ohnmachtgefühl, das Gegenwärtigkeit und Unübersichtlichkeit bei uns auslöst. Es war zum Beispiel beeindruckend, wie bei der bescheidenen 2030.lu-Initiative insbesondere Manager das ihnen im Alltag auferlegte Korsett an kurzfristigen Zwängen und vorgegebenen Paradigmen sprengten. Sie genossen es regelrecht, entspannt – wenn auch nicht ohne Eigeninteresse – über soziale Innovation und langfristige Landesplanung zu diskutieren.
Auch das 2052er-Buch ist ein Versuch, sich einen „Überblick“ zu verschaffen. Im ersten Kapitel erzählt Jorgen Randers, wie er als junger Mann bei der Mitarbeit an „Die Grenzen des Wachstums“ plötzlich mit den globalen Zukunftsproblemen der Menschheit konfrontiert wurde und anfing „sich Sorgen zu machen“. Diese erste Veröffentlichung, und die darauf folgenden, beschränkten sich darauf, Szenarien auszuarbeiten, und die Menschen vor den absehbaren Risiken zu warnen. „40 Jahre lang hatte ich mir um eine unklare Zukunft, von der ich nichts genaues wusste, Sorgen gemacht“, schreibt Randers, „da befand ich für mich, meiner Not sei am besten mit dem Versuch abzuhelfen, die kommenden 40 Jahre so präzise wie möglich zu beschreiben.“
Die Beschäftigung mit der Zukunft befreit von Ohnmachtsgefühlen, indem sie uns räumlich und zeitlich den „Überblick“ verschafft.
Für Randers hat der Blick in die Zukunft auch eine therapeutische Funktion gegen Verlustangst und Ohnmachtgefühl. Der Forscher und Naturfreund liebt Urwälder ganz besonders und beschreibt, wie er „körperlichen Schmerz verspürte beim Anblick der Forstmaschinen, mit denen die Holzfäller an einem Tag zerstörten, was die Natur allenfalls im Laufe von Jahrhunderten wiedergutmachen konnte“. Eine Psychologin empfahl ihm, diesen Schmerz zu akzeptieren und zu bearbeiten. Auf globaler Ebene soll das Buch einen ähnlichen Zweck erfüllen. Randers hofft, es werde „eine beruhigende Wirkung haben, sich mit der Welt vertraut zu machen, die in der Zukunft unsere Heimat sein wird, anstatt von der Welt zu träumen, die es hätte geben können.“ Dies sei „der erste Schritt hin zu seelischem Frieden“. Der Endpunkt sei, so Randers nicht ohne Ironie, „aufzuhören, sich Sorgen zu machen“.
www.2030.lu
www.2052.info
www.lesfutursdumonde.com