75 Jahre Atomwaffen (4): Hat jemand Chruschtschows Handynummer?

Wie die Erfahrungen der Kubakrise ein Zeitalter (relativer) nuklearer Vernunft einleiteten.

Strategische Karte zur Kubakrise 1962
(Wikimedia; Nicolas Eynaud; CC BY-SA 3.0)

Gab es ein „goldenes Zeitalter“ der nuklearen Stabilität? Wenn, dann war es wohl die Zeit seit der Kubakrise – und bis zur Präsidentschaft von Ronald Reagan, deren Wirren wir in Teil 3 der Serie untersucht haben. Für Zeitgenoss*innen war das damals wahrscheinlich kaum zu erkennen, denn auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs bereitete man sich mehr denn je auf einen Dritten Weltkrieg vor. Dennoch waren die sukzessiven Staatsoberhäupter in Washington und Moskau von der Wichtigkeit überzeugt, einen offenen Krieg zwischen ihren beiden Ländern zu vermeiden, weil dieser wahrscheinlich in einen vernichtenden Atomkrieg münden würde.

Dazu gehörte der Verzicht auf aggressive Initiativen, wie zum Beispiel die Berlin-Krisen von 1948 und 1961 oder die Offensive bis an die chinesische Grenze im Koreakrieg 1950. Und der Dialog zwischen den Supermächte, der ein gewisses Vertrauen in die gegenseitige Zusicherung dieses Verzichts ermöglichte. Begünstigt wurde dies durch eine Erneuerung der politischen Kultur im Osten nach Josef Stalins Tod und durch eine stabile Konstellation bei den Nuklearwaffen. Zwar waren die USA immer noch überlegen, doch ein Erstschlag wurde, anders als zuvor (und danach), nicht mehr als Option gesehen (siehe Erklärungen unter „Zweitschlag und Ersteinsatz“).

Abschreckung als Überlebensbasis

Richtig friedlich war diese Zeit nicht, beide Seiten verfügten über mehr Sprengköpfe als je zuvor und die USA erreichten sogar 1965 ihren historischen Höchststand von über 30.000. Und die damals de facto funktionierende Abschreckung ging mit dem Risiko eines massiven Schlagabtauschs einher, wenn die Abschreckung versagt hätte. Im Rahmen des Vietnamkriegs hätte das passieren können, falls China massiv eingegriffen hätte … oder falls man auf den Oberkommandierenden William Westmoreland gehört hätte, der für einen Einsatz taktischer Atomwaffen plädierte.

Wie nahe sich beide Supermächte an den Abgrund manövrieren konnten, hatte die Kubakrise gezeigt. Nachdem die US-Regierung am 16. Oktober durch Luftfotos über die geheime Installation von Rampen für Mittelstreckenraketen auf der Insel informiert war, wurde über mögliche Reaktionen beraten, unter anderem: sich auf diplomatische Mittel beschränken, eine Seeblockade gegen Kuba verhängen, um die Stationierung zu verhindern, oder offene militärische Gewalt in Form eines Luftangriffs oder einer Invasion ausüben.

Cuba bloqueada

Die Blockade, die Kennedy dann schließlich, zusammen mit den Beweisfotos der Rampen, der Weltöffentlichkeit vorstellte, kann als eine kluge Möglichkeit betrachtet werden, Zeit für Verhandlungen über eine friedliche Lösung zu gewinnen. Allerdings war die Lage über eine Woche hinweg sehr unübersichtlich, beide Seiten mussten mit einem Überraschungsangriff rechnen, was sie umgekehrt dazu ermutigte, einen Präventivschlag ins Auge zu fassen.

In seinem Buch „Five Myths About Nuclear Weapons“ (woxx 1320: „Dangereuses et inutiles!“) hebt der amerikanische Experte Ward Wilson drei konkrete Ereignisse hervor, die in einer so angespannten Situation zu einem nuklearen Krieg hätten führen können. Am 27. Oktober wurde über Kuba ein amerikanisches U-2-Spionageflugzeug abgeschossen – entgegen den Befehlen aus Moskau, doch das konnte Washington nicht wissen. Am gleichen Tag drang ein weiteres U-

2-Flugzeug – ungewollt, doch das wusste Moskau nicht – in den arktischen sowjetischen Luftraum ein. Um es vor den feindlichen Abfangjägern zu schützen, schickte die Air Force F-102-Jäger mit nuklearen Luft-Luft-Raketen … zum Glück trafen beide Seiten nicht aufeinander.

Wenn der Nukleartorpedo klemmt …

Münze mit R-12. Diese Raketen wollte die Sowjetunion auf Kuba stationieren.
(Wikimedia; Банк России; PD)

Ebenfalls an diesem Tag zwang in den Gewässern um Kuba ein US-Zerstörer ein sowjetisches U-Boot zum Auftauchen und ließ es dann davonfahren. Das Boot war beschädigt und hatte seine Funkverbindung nach Moskau verloren. Bevor er das Risiko einging, an der Oberfläche torpediert oder interniert zu werden, hatte der Kapitän überlegt, ob er nicht den Nukleartorpedo, den er an Bord hatte, zünden solle. Einen Tag später kam zwischen Washington und Moskau doch noch ein Deal zustande: Die Sowjetunion gab ihre Raketenpläne auf, die USA versicherten, keine Invasion auf Kuba zu planen. Als Bonus sah eine Geheimklausel vor, dass die amerikanischen Mittelstreckenraketen in der Türkei ebenfalls zurückgezogen würden.

Klar ist zum einen, dass 1962 die Abschreckung nicht funktioniert hat: Weder hatte sie Nikita Chruschtschow davon abgehalten, nukleare Waffensysteme auf Kuba zu stationieren, noch war John Kennedy vor einer konfrontativen Maßnahme wie der Seeblockade zurückgeschreckt. Zum anderen hatte die reale Bereitschaft beider Seiten, zumindest taktische Kernwaffen sofort einzusetzen, mehrmals beinahe zu einem „ungewollten“ Atomkrieg geführt.

„Rotes Telefon“ für Entspannung

Hieraus wurden Lehren gezogen: Konkret wurde das „rote Telefon“ eingerichtet, also die direkte Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml (in Wirklichkeit ein Fernschreiber und kein Telefon). Während der Krise dauerte die Übermittlung und Entzifferung von direkten Nachrichten nämlich sechs bis zwölf Stunden, und niemand in Washington hatte Chruschtschows Handynummer.

Die Atomwaffen wurden nun auf beiden Seiten eher als notwendiges Übel angesehen, man konnte nicht auf sie verzichten, sie waren aber nur im Notfall einsetzbar. In den 15 Jahren davor hatten die USA sie als ein Instrument angesehen, um den gefürchteten sowjetischen Expansionismus einzudämmen (Teil 5 der Serie).

Das Verhältnis zwischen den Supermächten stand ab 1963 im Zeichen der Entspannungspolitik. Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion und der von den USA unterstützte Putsch gegen die sozialistische Regierung in Chile änderten daran nichts, sie wurden als „innere Angelegenheiten“ in der jeweils anderen Interessensphäre hingenommen. Erst das Erstarken der Hardlinerfraktion auf beiden Seiten Ende der 1970er sollte wieder eine Phase eines aggressiveren Umgangs mit den nuklearen Waffen einleiten (Teil 3: „Frieden dank Star Wars?“).

 

Die Hiroshima-75-Serie in der woxx.

 


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