Seine Untätigkeit nach dem Mord an mutmaßlich 43 Studenten durch die Mafia bringt den mexikanischen Präsidenten mächtig unter Druck. Die EU und ihre Mitgliedstaaten paktieren indes mit einem Staatsapparat, in dem die Grenze zwischen Politik und Verbrechen vollends zu schwinden droht.
Keine Zweifel dürften nach dem blutigen Vorfall von Iguala bleiben, ließ Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto am Wochenende wissen, nachdem er von einer Reise aus China und Australien zurückgekehrt war. Das ist einigermaßen skurril: Mit einem Mal betont der Staatschef gegenüber aller Welt, wie sehr ihm an der Aufklärung des mutmaßlichen Massakers im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero gelegen sei.
Dabei hatte ihn zunächst wenig gekümmert, was mit jenen 43 Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa passiert war, die am
26. September in der Stadt Iguala von Polizisten verschleppt und wahrscheinlich von Kriminellen hingerichtet worden sind. Neun Tage ließ Peña Nieto die Angehörigen allein und nutzte den Angriff in erster Linie für propagandistische Manöver gegen seinen politischen Gegner, den Gouverneur von Guerrero, Angel Aguirre.
Das dürfte in Guerrero kaum jemanden verwundert haben, denn der Staatschef hat seit seinem Amtsantritt im Dezember 2012 kaum Interesse gezeigt, gegen die korrupten und gewalttätigen Verhältnisse im Land vorzugehen. Er gründete eine neue Spezialeinheit, eine „Gendarmerie“, die jedoch ebenso dem sicherheitspolitischen Dogma des Militärischen verhaftet blieb wie der „Krieg gegen die Mafia“ seines Vorgängers Felipe Calderón. Von konsequenter Armutsbekämpfung keine Spur. Noch weniger bemühte sich der Politiker der ehemaligen Staatspartei PRI, die korrupten Strukturen im politischen Apparat aufzuknacken oder die Unternehmen und Banken anzugehen, die auf einer legalen Basis das Rückgrat der Kartelle darstellen.
Hingegen bat er die Medien, weniger über zerstückelte Leichen, aufgehängte Körper und Massengräber zu berichten. So erhoffte er sich, das Morden aus dem öffentlichen Bewusstsein zu vertreiben. Hauptsache, die Wahrnehmung für internationale Investoren stimmte. Und da kann Peña Nieto einiges bieten: Der PRI-Politiker hat die Telekommunikationsbranche liberalisiert, mit dem staatlichen Monopol des Erdölkonzerns Pemex Schluss gemacht und für mehrprozentige Wachstumsraten gesorgt.
Doch von den wirtschaftlichen Erfolgen bekamen die meisten Mexikanerinnen und Mexikaner in den verarmten ländlichen Zonen nichts zu spüren. Während Peña Nieto Mexiko in aller Welt als sicheres Investitionsland anpries, ging im Land selbst der Terror weiter. Zunehmend lieferten sich die Mafia-Banden nicht nur Kämpfe untereinander oder mit Sicherheitskräften, sondern griffen die zivile Bevölkerung an. Schutzgeldzahlungen, Erpressungen und Entführungen dominieren inzwischen das Leben vieler Menschen. In den letzten Jahren traf es zunehmend jene, die sich gegen das Geflecht von korrupten Politikern, legalen Unternehmern und kriminellen Kartellen zur Wehr setzen: etwa kritische Gewerkschafter, Indigene oder Journalistinnen. Rechtsstaatliche Verhältnisse existieren nicht. In Guerrero zum Beispiel kann nur sein Recht verteidigen, wer selbst zur Waffe greift.
So zynisch es klingen mag: Das „Positive“ am Fall der 43 Verschwundenen ist, dass dieser bittere Alltag endlich weltweit die Aufmerksamkeit erhält, die er schon lange verdient. Jahrelang versuchten mexikanische Regierungen, die Zigtausenden von Toten und Verschwundenen als Mitglieder der Mafia zu denunzieren, ohne wirklich angeben zu können, wer warum zum Opfer wurde. Mit den vermutlich umgebrachten oppositionellen Studenten lässt sich diese Lüge nicht mehr aufrechterhalten. Und damit auch nicht die Behauptung, Mexikos Probleme gründeten allein in der organisierten Kriminalität.
Da die besttrainierten Polizeibeamten häufig bei den Kartellen landen, werden sich die Kriminellen über die Ausbildung durch deutsche Sicherheitskräfte freuen.
Zu offensichtlich sind die Strukturen des gesamten politischen Apparats geworden: Da ist der Bürgermeister José Luis Abarca von der links genannten Partei der Demokratischen Revolution PRD, der seine Polizisten anweist, oppositionelle Störer zu verhaften. Da sind die Beamten, die bei dieser Gelegenheit sechs Menschen erschießen und mehrere Dutzend dem Kartell „Guerreros Unidos“ übergeben, dessen örtliche Gruppe offensichtlich von Abarcas Gattin María de los Angeles Pineda geleitet wird. Schenkt man den Geständnissen dreier Männer Glauben, die Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam vor zwei Wochen präsentierte, richteten die Killer ihre Gefangenen hin, überschütteten sie mit Diesel, verbrannten sie und warfen die Asche in einen Fluss. Das alles unter stillschweigender Duldung des Bürgermeisters.
Gouverneur Aguirre (PRD) war schon lange bekannt, dass Abarca wenig zimperlich ist, wenn es gilt, Kritiker kaltzustellen. Letztes Jahr soll der Bürgermeister an der Entführung von sechs Oppositionellen beteiligt gewesen sein. Einen von ihnen soll er selbst ermordet haben. Dennoch hat der Landeschef nie eingegriffen, die Täter blieben straflos. Im Gegenteil: Gemeinsam kämpften Abarca und Aguirre bei den Präsidentschaftswahlen 2012 für Peña Nietos Konkurrenten, den Linkskandidaten Andrés Manuel Lopez Obrador.
Aber auch der Staatschef selbst war genau über die Lage in Guerrero informiert. Dennoch haben er und seine föderalen Behörden nichts gegen Straflosigkeit, Korruption und Armut unternommen. Bestenfalls. Viele seiner Parteifreunde der ehemaligen Staatspartei PRI sind in eine der Mafia-Organisationen eingebunden, nicht wenige bewegen sich in höchsten Regierungskreisen. „Wir haben es mit einer De-facto-Allianz auf allen drei Ebenen zu tun: lokal, bundesstaatlich, föderal“, resümierte Abel Barrera, der Leiter des Menschenrechtszentrums Tlachinollan gegenüber der woxx. Ob links oder rechts, alle Parteien seien in kriminelle Strukturen eingebunden.
Zweifellos waren die Lehramtsanwärter Peña Nieto lästig, schließlich protestieren sie und ihre Mitstreiter in mehreren Bundesstaaten Mexikos gegen die von ihm durchgesetzte Liberalisierung des Bildungssystems. Doch an einer gewalttätigen Zuspitzung wie in Iguala kann ihm nicht gelegen sein. Das zeigt die aktuelle Entwicklung. Sie wird für den Präsidenten zunehmend zum Problem. Studenten, Lehrer und andere Linke setzten Regierungs- und Parteigebäude in Guerreros Landeshauptstadt Chilpancingo in Brand, im Pazifikbadeort Acapulco besetzten sie den Flughafen. Aktivistinnen und Aktivisten blockieren Autobahnen und gehen in Mexiko-Stadt zu Zehntausenden auf die Straße. Auch in Michoacán, Oaxaca, Chiapas, Veracruz sowie anderen Bundesstaaten kommt es immer wieder zu militanten Protesten. Viele Rathäuser von Guerrero wurden besetzt.
Die Väter, Mütter und Geschwister der Vermissten reisen indes diese Woche in drei Karawanen durchs Land. Den Geständigen, die Strafverfolger Karam gegen den Willen der Angehörigen in einem Video auf einer Pressekonferenz zeigte, schenken sie keinen Glauben. Bislang fehlten wissenschaftliche Beweise dafür, dass ihre Söhne oder Brüder so ermordet worden seien, sagen sie. „Sie versuchen den Fall auf dreisteste Weise zu schließen“, vermutet der Angehörigen-Sprecher Felipe de la Cruz. Er und seine Mitstreiter bleiben deshalb dabei: „Lebend habt ihr sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück.“ Und immer wieder fordern Demonstranten: „Weg mit Peña Nieto.“
Es ist nicht auszuschließen, dass die Lage unkontrollierbar eskaliert, da sich jetzt bei vielen Menschen im Land eine lang angestaute Wut und Verzweiflung über die Ignoranz der Regierung Bahn bricht. Vor allem aber die internationale Kritik macht dem Staatschef zu schaffen. Die UNO, die Interamerikanische Menschenrechtskommission, selbst die Regierung der Vereinigten Staaten kritisierte den unzureichenden Einsatz Peña Nietos bei der Suche der Vermissten und dessen Unfähigkeit, Gewalt und Straflosigkeit zu bekämpfen. „Sein Palast steht in Flammen, die Straßen seiner Hauptstadt sind voll von verärgerten Demonstranten, seine Regierung befindet sich in ihrer tiefsten Krise“, schrieb die „Los Angeles Times“ und monierte, dass der Präsident dennoch nach China gereist sei. Die „New York Times“ erklärte das Scheitern von Peña Nietos Sicherheitspolitik, sekundiert von zahlreichen anderen internationalen Medien.
Anders sieht es in Brüssel und Straßburg aus: Die konservativ-sozialdemokratisch-liberale Mehrheit des Europäischen Parlaments stärkte dem mexikanischen Präsidenten den Rücken. In einer Resolution bekräftigte sie ihre Unterstützung für dessen Kampf gegen die Mafia. Eine Kritik an der Mitverantwortung des Staatschefs für die unzureichenden Ermittlungen in Iguala sucht man in der Erklärung vergebens. Geschweige denn, dass Konsequenzen angedroht würden. Dabei sieht das EU-Globalabkommen mit Mexiko von 2000 den beidseitigen Respekt der Menschenrechte als Grundlage der Zusammenarbeit vor. Bei mindestens 26.000 Verschwundenen, 100.000 Getöteten und einer sechsfachen Zunahme der Folter in den letzten zehn Jahren kann von einer solchen Basis keine Rede sein.
Auch die deutsche Regierung ist zurückhaltend. Kein Wort der Kritik, obwohl die Bundesrepublik zumindest angesichts fragwürdiger Rüstungsdeals besonders in der Verantwortung steht. Im vergangenen Jahrzehnt lieferte die Rüstungsschmiede Heckler & Koch rund 10.000 Sturmgewehre nach Mexiko, von denen etwa die Hälfte in Bundesstaaten landete, für die keine Ausfuhrgenehmigung vorlag. Knapp 2.000 der Waffen wurden nach Guerrero geliefert, wo heute Polizisten und Mafiakiller damit auf ihre Kritiker schießen. Auch beim Polizeieinsatz gegen Ayotzinapa-Studenten im Dezember 2011 waren die Gewehre im Einsatz, damals starben zwei der Lehramtsanwärter durch Schüsse von Polizeibeamten.
Obwohl seit über vier Jahren eine Anzeige gegen das schwäbische Unternehmen vorliegt, wurde Heckler & Koch bis heute nicht der Prozess gemacht. Anstatt diese Straflosigkeit zu beenden, legt die Berliner Regierung sogar noch nach: Im Rahmen eines Sicherheitsabkommens sollen demnächst deutsche Polizisten ihre mexikanische Kollegen ausbilden. Da die Besten der Uniformierten bei den Kartellen landen, werden sich die Kriminellen über die Subventionierung aus Übersee freuen.
Dabei wäre es zwingend, dass sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten jede Kooperation mit dem Mafia-Staat auf Eis legen, solange die Regierung keine Fortschritte im Kampf gegen das Morden und das Verschwinden von Kritikern und Oppositionellen vorweisen kann. Denn Peña Nietos Verhalten seit dem mutmaßlichen Massaker hat gezeigt: Ohne den Druck auf der Straße und politische sowie wirtschaftliche Sanktionen aus dem Ausland wird sich nichts bewegen. Das ist die einzige Sprache, die dieser Präsident versteht.
Wolf-Dieter Vogel ist freier Journalist. Für die woxx berichtet er vorwiegend aus Mexiko, aber auch aus anderen Regionen Lateinamerikas.