Äthiopien: Einheit um jeden Preis

In der Region Tigray tobt ein Krieg zwischen der „Tigray People’s 
Liberation Front“ und der äthiopischen Zentralregierung. In dem Konflikt geht es auch darum, ob das Land künftig zentral oder ethnoföderalistisch regiert werden soll.

Fassungslosigkeit angesichts der jüngsten Entwicklungen, aber auch Verständnis für die Kriegserklärung: Teile der Bevölkerung in Addis Abeba folgen der Aufforderung der Zentralregierung, am 17. November ihre Solidarität mit den äthiopischen Truppen zu bekunden. (Foto: EPA-EFE)

Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, welcher Bevölkerungsgruppe die am 9. November in Mai Kadra Ermordeten angehörten. Sicher scheint lediglich, dass in der Stadt in Tigray, der nördlichsten Region Äthiopiens, ein ethnisch motiviertes Massaker an Wehrlosen verübt wurde. „Amnesty International“ spricht von mehreren Hundert Todesopfern.

Drei Zeugen berichteten demnach, Überlebende des Massakers hätten ihnen gesagt, Milizen und Polizeikräfte der „Tigrays People’s Liberation Front“ (TPLF) hätten in Mai Kadra gemordet; die TPLF stellt die Regionalregierung von Tigray. Ein Mann, der dabei geholfen habe, Tote von der Straße zu entfernen, will laut Amnesty die Ausweisdokumente einiger Opfer gesehen haben; diese hätten die betreffenden Personen mehrheitlich als Angehörige der Ethnie der Amhara ausgewiesen. Der Nachrichtenagentur Reuters berichteten Geflüchtete hingegen offenbar, es habe sich um Morde an tigrinischer Bevölkerung gehandelt, verübt von an der Seite der äthiopischen Zentralregierung kämpfenden amharischen Milizen.

Dass der Vorfall bislang nicht aufgeklärt ist und es keine verlässlichen Informationen über ihn gibt, liegt daran, dass sich die Regionalregierung von Tigray und die äthiopische Zentralregierung seit dem 4. November im Krieg befinden. Der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed sprach die Kriegserklärung aus, nachdem eine Militärbasis nahe der tigrinischen Hauptstadt Mekelle angegriffen worden war. Abiy machte die TPLF dafür verantwortlich.

Die Zentralregierung hat seitdem die Internet- und Telefonverbindungen nach Tigray weitgehend gekappt, nahezu alle Kommunikation mit dem Ausland läuft über die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Dort zeigen sich viele fassungslos. Obwohl es Anzeichen für eine Eskalation gab, hatten sie doch nicht mit diesem Krieg gerechnet. „Abends haben wir noch über die Lage gesprochen und waren uns sicher, dass es keinen Krieg geben wird. Morgens sind wir im Krieg wieder aufgewacht“, berichtet ein Unternehmer, der namentlich nicht genannt werden will, der woxx.

Hunderte Kämpfer und Zivilisten sind in dem Konflikt bislang getötet worden, Zehntausende sind aus Tigray geflohen, viele davon in das Nachbarland Sudan. Humanitäre Hilfe erreicht zwar die steigende Anzahl der Geflüchteten dort, die UN appellieren aber weiterhin, humanitäre Korridore innerhalb Äthiopiens zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung in Tigray zu gewährleisten.

Ministerpräsident Abiy war 2018 überraschend an die Macht gekommen. Zuvor hatte die TPLF, als lange Zeit führende politische Kraft der Koalition „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“, Äthiopien mehr als 25 Jahre lang regiert. Viele Medien sowie die deutliche Mehrheit der Äthiopierinnen und Äthiopier feierten Abiy, der auch den Vorsitz der Revolutionären Demokratischen Front übernahm, als Reformer. Er ließ politische Gefangene frei, Oppositionspolitiker konnten aus dem Exil nach Äthiopien zurückkehren. Blockierte Internetseiten wurden freigeschaltet, Presse und Wissenschaft sahen sich plötzlich in der Lage, frei berichten und publizieren zu können, gleichsam über Nacht sprachen die Menschen wieder offen über Politik.

Etliche Personen aus dem alten Machtapparat verloren unter Abiy ihre Posten, führende TPLF-Funktionäre zogen sich nach Tigray zurück. Die neue Regierung warf diesen vor, ihre Arbeit zu hintertreiben. Nachdem Abiy die für August geplanten nationalen Parlamentswahlen im Juli unter Verweis auf die Covid-19-Pandemie für unbestimmte Zeit verschoben hatte, hielt Tigray im September gegen den Willen der Zentralregierung eigene Wahlen ab.

Das zeigt, dass die TPLF noch immer den sogenannten ethnischen Förderalismus befürwortet. 1991 stürzte vorrangig die einstmals an einem albanisch geprägten Kommunismus orientierte TPLF das sozialistische Regime des damaligen Präsidenten Mengistu Haile Mariam, der das Land seit 1977 regiert hatte. 1995 ließ sie das Konzept des ethnischen Föderalismus in der Verfassung festschreiben. Dieser sollte das Mitbestimmungsrecht aller Ethnien sicherstellen. Verwaltungsgrenzen wurden entlang ethnischer Linien gezogen. Die zahlenmäßig kleine Ethnie der Tigrinier sicherte sich nach und nach das Machtmonopol im Staat. Die TPLF unterdrückte vor allem die größte Bevölkerungsgruppe der Oromo, über die Jahre protestierten Oromo im In- und Ausland hiergegen immer lauter.

Das Eintreten einer humanitären Katastrophe ist absehbar.

Abiy, selber ein Oromo, und seine Anhänger streben ein vereintes Äthiopien unter zentraler Führung an. Der Ministerpräsident gehört der christlichen Pfingstbewegung an. Seine Reden erinnern in weiten Teilen an Predigten über Vergebung und Liebe. Er sagt, dass er das Land einen sowie dessen Wohlstand mehren und unabhängig von Ethnie und Religion gerecht verteilen wolle. Reformen brauchen jedoch Zeit, und zu viele Äthiopier haben zu lange unter den Vorgängerregimen gelitten, um Abiy diese Zeit zu geben.

Seit Abiys Amtsantritt ist die Zahl der Konflikte und Binnenvertriebenen deutlich gestiegen, nun steht er unter Druck. Westliche Medien scheinen verwundert über Abiys Vorgehen in Tigray, erhielt er doch 2019 den Friedensnobelpreis, weil er im Juli 2018 nach jahrzehntelanger Feindschaft einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea unterzeichnet hatte. Dabei war bekannt, dass der ehemalige Militärangehörige und Geheimdienstler in dem System sozialisiert wurde, das er nun reformieren möchte.

Nun ist er Befehlshaber in einem Krieg gegen einen Landesteil. In Äthiopien fällt die Bewertung des Konflikts sehr unterschiedlich aus. Im Zentrum der Diskussionen stehen die Rolle der TPLF und die Motive Abiys. Für viele Äthiopierinnen und Äthiopier geht es in dem Konflikt auch um die Frage, wie das Land künftig regiert werden soll: nach dem ethnoföderalistischen Modell oder zentralistisch.

Tigrays Regierung stört Abiys zentralistisches Projekt. Es scheint, als wolle die Zentralregierung Tigray zeigen, wer am längeren Hebel sitzt. Es gibt Berichte über eine systematische Versorgungsblockade gegen Tigray, die nach den Wahlen im September begonnen hätte. Straßen seien gesperrt und Banken geschlossen worden. Die Zentralregierung habe sonst übliche Nahrungsmittellieferungen nach Tigray unterbrochen. Auf diese waren viele Menschen in Tigray bereits vor dem Konflikt angewiesen, unter anderem auch aufgrund der Heuschreckenplage Anfang dieses Jahres.

Für viele in Äthiopien ist das Vorgehen der Zentralregierung gegen Tigray nachvollziehbar. Viele sind traumatisiert von der früheren Herrschaft oder zumindest der prominenten Stellung der TPLF überdrüssig und fragen sich, wie und warum eine Provinz überhaupt gleichberechtigt mit der Zentralregierung verhandeln könne.

Hingegen fühlen sich nicht wenige Tigrinierinnen und Tigrinier unter Generalverdacht gestellt. Mahalet* ist aus Mekelle nach Addis Abeba gezogen, wo sie als Krankenschwester arbeitet. Im Gespräch mit der woxx erzählt sie, zehn Polizisten hätten am Wochenende ihr Haus durchsucht. Sie hätten in ihrem Kühlschrank und Bett nach Bomben gefahndet. Die Gemeindeverwaltung erfasse die Ethnie der Menschen in ihrer Nachbarschaft, sagt sie. Doch die Zentralregierung bestreitet, ein solches „ethnic profiling“ zu betreiben. Mahalet berichtet auch, ihr Neffe, der bei der staatlichen Fluggesellschaft „Ethiopian Airlines“ angestellt war, sei wie andere tigrinische Angestellte entlassen worden. Er habe noch ein Monatsgehalt als eine Art Abfindung bekommen. Zu ihren Familienangehörigen in Mekelle und Umgebung habe sie keinen Kontakt.

Viele Äthiopierinnen und Äthiopier nehmen Anteil am Schicksal tigrinischer Freundinnen und Freunde, die nun zu Unrecht verdächtigt und bedroht werden, häufig finden sie das Vorgehen der Regierung dennoch zumindest verständlich. Eine Juristin, die ungenannt bleiben möchte, berichtet der woxx, es habe in Addis Abeba mehrere der TPLF zugeschriebene Bombenanschläge gegeben. Sie sagt, ein Ministerpräsident müsse Terrorangriffe von Rebellen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern. Die Zentralregierung schränke die Kommunikation in Tigray nicht in erster Linie ein, um den Informationsfluss nach Addis Abeba und ins Ausland zu unterbinden, sondern um Absprachen ihrer Gegner im Kriegsgebiet zu behindern. Diese Strategie ist nicht neu. Frühere TPLF-Regierungen verhinderten regelmäßig den Austausch von Informationen über SMS und soziale Medien.

Der Nationalstolz auf Äthiopien ist auch in Tigray enorm – aber ebenso die Identifikation mit den tigrinischen Führern und der kämpferischen Geschichte der Region. Die Bevölkerung in Tigray steht weitgehend hinter den lokalen Machthabern. Die Erinnerung an den eritreisch-äthiopischen Krieg (1998–2000), in dem viele Familien in Tigray Angehörige verloren haben, sitzt tief. Eine Journalistin aus Addis Abeba, die anonym bleiben will, sagte der woxx, es trage nicht zum Frieden bei, wenn tigrinische Familien nun weitere Angehörige verlören. Mahalet sagt: „Wir sind verwirrt. Tigray ist im Krieg gegen Äthiopien. Wir sind in Addis plötzlich im Ausland. Wir können nur abwarten, wer gewinnt.“

Vergangenen Sonntag gab Abiy Tigray ein Ultimatum von 72 Stunden um aufzugeben, andernfalls werde er Mekelle angreifen lassen. Während es für viele in Äthiopien nur eine Frage der Zeit ist, bis Tigray aufgeben muss, scheint es wahrscheinlicher, dass sich die Provinz nicht einfach militärisch ruhigstellen lässt. Der Konflikt könnte sich weiter in die Bergregionen Tigrays verlagern. Einem Bericht des Magazins „Foreign Policy“ zufolge haben sich Teile der im Norden stationierten äthiopischen Truppen bereits mit den regulären Einheiten der Regionalstreitkräfte Tigrays verbündet.

So besteht große Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts. Die Regierung von Tigray hatte bereits bestätigt, den Flughafen in Asmara, der Hauptstadt Eritreas bombardiert zu haben. Sie wirft eritreischen Truppen vor, die äthiopischen Truppen zu unterstützen. Auch Flughäfen in der benachbarten Region Amhara wurden von Tigray aus angegriffen.

Das Eintreten einer humanitären Katastrophe ist absehbar. In Tigray stünde eigentlich bald die Ernte bevor, die Vorräte aus der vorigen sind weitgehend aufgebraucht. Wieder einmal ist es die verarmte Landbevölkerung, die leidet. Diese hat auch in Tigray nicht von der langen Herrschaft der TPLF profitiert.

* Name von der Redaktion geändert.
Madlen Hornung arbeitet als Wissenschaftlerin und freie Journalistin.

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