Armenien: Paschinjan will sich abnabeln

Wiederholt hat Armenien Russland vorgeworfen, ein unzuverlässiger Partner zu sein, und versucht, die Sicherheitsbeziehungen zu anderen Ländern auszubauen. Die ökonomischen Bindungen an Russland sind aber noch immer stark.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan versucht sein Land von Russland abzukoppeln. Dem stehen jedoch ökonomische und militärische Sachzwänge im Weg. (Foto: EPA-EFE/STEPHANIE LECOCQ)

Es rumpelt seit einiger Zeit gewaltig in den Beziehungen zwischen Armenien und Russland. Armenien sieht sich im Konflikt mit Aserbaidschan im Stich gelassen, obwohl es Mitglied der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist. Am Donnerstag vergangener Woche gab Armenien bekannt, dass es keine russischen Grenzschützer mehr auf dem Flughafen der Hauptstadt Eriwan benötige. Seit einem Abkommen aus dem Jahr 1992, das die Stationierung von Grenzschutzbeamten entlang der armenischen Grenze zur Türkei und zum Iran vorsah, war Russland für die Grenzkontrolle am Flughafen zuständig. Die Aufforderung zum Abzug des russischen Kontingents beziehe sich aber nur auf die dort stationierten Truppen, die Posten an den Grenzen sollen bleiben.

Der Prozess der Entfremdung von Russland begann unter dem seit 2018 amtierenden Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, dessen liberale Partei „Zivilvertrag“ mit absoluter Mehrheit regiert. Er erreichte einen neuen Höhepunkt, als Paschinjan in einem Interview mit dem Fernsehsender France 24, das am 22. Februar aufgezeichnet wurde, die Mitgliedschaft in der OVKS für „eingefroren“ erklärte. Das ganze vergangene Jahr über ließ Armenien bereits die Bündnismitglieder seinen Unmut spüren. Armenische Vertreter fehlten immer wieder auf Treffen der OVKS auf verschiedenen Ebenen. Ein Manöver der OVKS auf armenischen Boden sagte Armenien einfach ab, wohingegen im September das Manöver „Eagle Partner“ in Armenien stattfinden durfte. Dessen Ziel war das Training armenischer Streitkräfte für internationale Friedensmissionen. An der eher kleinen Übung nahmen einige US-Soldaten teil, was den russischen Außenminister Sergej Lawrow zu bitteren Kommentaren veranlasste.

Der OVKS gehören neben Russland noch Belarus, Tadschikistan, Kasachstan und Kirgistan an. Aserbaidschan und Georgien haben ihre Mitgliedschaft 1999 auslaufen lassen, Usbekistan ist 2012 ausgetreten. Paschinjan sagte im Interview zur weiteren Mitgliedschaft in der OVKS nur: „Wir werden sehen, was morgen sein wird.“

Das Lavieren gefällt dem russischen Außenminister gar nicht

Dieses Lavieren gefällt dem russischen Außenminister gar nicht und er fordert eine Entscheidung von Armenien. Der Abgeordnete Gagik Melkonjan (Zivilvertrag), der dem Verteidigungsausschuss der armenischen Nationalversammlung angehört und früher auch stellvertretender Verteidigungsminister war, hat in einem Interview näher ausgeführt, was das aus seiner Sicht für Armenien bedeutet. Demnach wollen sowohl Lawrow als auch westliche Staaten, dass sich Armenien für eine Seite entscheide. „Wenn man jetzt nach Westen geht, wird man einen Feind wie Russland haben. Wenn man auf die Seite Russlands geht, dann bedeutet das den Verlust Armeniens mit seinen Gebieten“, sagte Melkonjan. „Man gibt die Unabhängigkeit Armeniens auf, denn wir wissen, was das letztlich bedeutet; sie werden uns vorschlagen, der Russisch-Belarussischen Allianz beizutreten. Das wäre das Ende Armeniens.“

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Russland immer der Sicherheitsgarant Armeniens. Und so einen Verbündeten bräuchte das kleine Land im Kaukasus noch immer. Armenien hat eine Fläche von knapp 30.000 Quadratkilometern und ist damit gerade so groß wie das Bundesland Brandenburg. Armenien hat derzeit 2,9 Millionen Einwohner*innen, davon etwa 100.000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten nach dem Zusammenbruch der sogenannten Republik Arzach (so der armenische Name für Bergkarabach) wegen des Angriffs Aserbaidschans Ende September gekommen sind (woxx 1754). Das Land grenzt an Georgien, die Türkei, Iran und Aserbaidschan.

Aserbaidschans Appetit ist nach der Eroberung des völkerrechtlich zu seinem Staatsgebiet gehörenden Territoriums von Bergkarabach noch nicht gestillt. Das Regime des feindseligen Nachbarn hat die Forderung nach einem exterritorialen Korridor durch armenisches Gebiet zu der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan nicht aufgegeben. Es kommt auch immer wieder zu Zwischenfällen im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet, wo Aserbaidschan es auf die Goldvorkommen der Mine Sotk abgesehen haben könnte.

Durch seine Öl- und Gasressourcen ist Aserbaidschan mittlerweile ein wohlhabendes Land und hat aus der Türkei und Israel Waffen eingekauft. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan uneingeschränkt und nimmt gegenüber Armenien traditionell eine feindselige Haltung ein, auch als Revanche für den Vorwurf eines Völkermords an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs.

„Die OVKS hat uns bei nichts geholfen, sie hat nur Probleme verursacht“

Das einzige größere Land in der Region mit guten Beziehungen zu Armenien ist nach dem Wegfall Russlands der Iran. Für die Islamische Republik ist Armenien ein Gegengewicht zu Aserbaidschan, das man wegen der eigenen aserbaidschanischen Minderheit als potenzielle Bedrohung ansieht. Doch die Freundschaft zwischen Armenien und dem Iran würde sich mit einem Westkurs Armeniens nicht gut vertragen.

Melkonjan weiß natürlich um die Probleme, sieht aber trotzdem keine Zukunft im Militärbündnis mit Russland. „Die OVKS hat uns bei nichts geholfen, sie hat nur Probleme verursacht“, sagte er. Auch sonst habe niemand Armenien geholfen oder auch nur eine politische Erklärung abgegeben, selbst als Truppen Aserbaidschans bereits auf armenischem Gebiet waren. Armenien müsse sich auf sich selbst verlassen, benötigte aber gute Waffen. Die habe man auch bereits in anderen Ländern bestellt.

Das Verhältnis zu Russland ist nicht endgültig geklärt. Man mag im Kreml wenig Hoffnung haben, dass Armenien in der OVKS bleibt, aber das Land selbst aus der Organisation zu werfen, wäre das Eingeständnis einer außenpolitischen Niederlage. Außerdem bliebe die Frage, was mit den russischen Stützpunkten in Armenien geschieht. Solange das Land aber noch offiziell der OVKS angehört und russisches Militär dort stationiert ist, kann Russland zwar bei diesem oder jenem Scharmützel wegsehen, einen größeren Angriff auf das Territorium Armeniens aber nicht so leicht ignorieren. Das würde die OVKS vor aller Welt als Farce entlarven.

Auch im Verhältnis zu Aserbaidschan hat Armenien eine Atempause, nachdem es durch den Verzicht auf eine eigene Kandidatur Aserbaidschan den Weg bei der Bewerbung um die nächste UN-Klimakonferenz freigemacht hat. Die COP 29 wird nun vom 11. bis 24. November in der Hauptstadt Baku stattfinden. Der Öl- und Gasexporteur Aserbaidschan hat in der Klimapolitik bisher noch nie eine Initiative ergriffen. Es geht Präsident Ilham Alijew wohl vor allem darum, international im Rampenlicht zu stehen. Ein größerer Feldzug gegen Armenien könnte aber das Bild trüben und ist daher derzeit unwahrscheinlich.

Die Sicherheitslage ist also zumindest in diesem Jahr entspannter und Armenien bezieht seine militärische Ausrüstung statt von Russland vermehrt beispielsweise von Frankreich. Die ökonomischen Bindungen an Russland jedoch sind noch immer stark und es gibt nicht viele andere Optionen. Die Türkei und Aserbaidschan halten ihre Grenzen für Armenien geschlossen. Über die nur 40 Kilometer lange Grenze zum Iran verläuft wenigstens eine wichtige Erdgasleitung.

Die einzige Eisenbahnverbindung ins Ausland führt zum georgischen Hafen Poti am Schwarzen Meer. Eine Straßenverbindung existiert nach Russland über den einzigen offenen georgisch-russischen Grenzübergang auf dem hohen Dschwari-Pass bei Larsi. Immer wieder gibt es Verzögerungen im Verkehr, seien sie politisch oder durch schlechtes Wetter bedingt. Russische Beamte könnten auch jederzeit behaupten, Qualitätsprobleme bei armenischen Exportgütern entdeckt zu haben, und diese dann an der Grenze zurückweisen. So geht der Kreml öfters vor, wenn er mit einem Nachbarland Probleme hat; im Falle Georgiens und der Türkei ist genau das bereits vorgekommen.

Trotz aller Versuche Armeniens, sich politisch, ökonomisch und militärisch von Russland abzukoppeln, hängt der Erfolg des Landes wohl letztendlich davon ab, welchen Weg der Nachbar Georgien geht. Wenn Georgien, etwa nach einem Sieg Russlands in der Ukraine, wieder stärker unter russischen Einfluss gerät, dürfte es auch bald mit der armenischen Unabhängigkeit vorüber sein.

Jan Keetman ist freier Journalist

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