Der diesjährige Klimagipfel soll eine „Finanz-COP“ werden. NGOs sind jedoch skeptisch. Der ASTM- und CAN-Aktivist Dietmar Mirkes erzählte der woxx, wie er Luxemburgs Klimaschuld beziffert hat und was auf diesem 29. Klimagipfel besonders wichtig ist.
woxx: Herr Mirkes, europäische Politiker*innen wie Ursula von der Leyen sind nicht die einzigen die der COP dieses Jahr fernbleiben. Der Außenminister von Papua-Neuguinea hatte vor Beginn des Gipfels angemerkt, dieser sei „Zeitverschwendung“. Was sind Ihre Erwartungen an die COP29?
Dietmar Mirkes: Ich kann die Haltung der Vertreter von Papua-Neuguinea gut verstehen. Doch auf den COPs kommt die globale Gesellschaft zusammen, um Entscheidungen über die Klimakrise zu treffen, die sonst nicht fallen würden. Auch Luxemburg hat hier eine Verantwortung. Es ist eines der reichsten Länder der Welt und auch eines mit den höchsten historischen Emissionen pro Kopf, was wir die Klimaschuld des Landes nennen. Auf der COP dieses Jahr steht die Klimafinanzierung im Mittelpunkt, da muss Luxemburg Geld in die Hand nehmen, und zwar viel. Wir haben in der ASTM eine Studie durchgeführt, die ausrechnet, wie viel Luxemburg finanziell beitragen müsste. Allein in den Loss and Damage Fund, also den Fonds für Schäden und Verluste müsste Luxemburg jährlich rund 300 Millionen Euro einzahlen. Und nochmal die gleiche Summe für Anpassung und Emissionsreduktion. Auf globaler Ebene fordert CAN International (Climate Action Network; Anm. d. Red.) 400 Milliarden US-Dollar für Loss and Damage, und jeweils 300 Milliarden US-Dollar für Anpassung und Reduzierung. Die Zahlen sind alle Mittelwerte, die jedoch nur die materiellen Schäden einschließen.
Wie sind sie auf diese Summe gekommen?
Wir verwenden ein Rechenmodell des Stockholm Environment Institute und des Think Tanks EcoEquity, den Climate Equity Reference Calculator. Es quantifiziert das Prinzip der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten“ der Klimarahmenkonvention. In dem Modell werden zwei Hauptfaktoren gewichtet: die Summe der historischen Emissionen und die wirtschaftliche Stärke eines Landes. Wir haben beide in unseren Kalkulationen gleich gewichtet. Zudem berücksichtigt die Rechnung eine 75 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass Luxemburg das Ziel des Pariser Abkommen, unter 1,5º C zu bleiben, erreicht. So kommt man auf das Ergebnis, dass Luxemburg für 0,075 Prozent aller Klimafinanzierungen verantwortlich ist.
Rund 300 Millionen Euro müsste Luxemburg in den Loss and Damage Fund einzahlen: Die CSV-DP-Regierung hat 8 Millionen für den Fonds, der auf der COP28 gegründet wurde, versprochen.* Drückt sich das Land damit vor seiner klimapolitischen Verantwortung?
Die letzte Regierung versprach noch 10 Millionen Euro. Luxemburg muss als erstes seinen hohen Lebensstandard und riesigen Fußabdruck einräumen und bekennen, dass es eine Schuld zu begleichen hat. Es geht nicht um karitative Almosen, auch nicht um Entwicklungshilfe. Gleichzeitig muss auch fairerweise gesagt werden, dass Luxemburg innerhalb der EU eines der wenigen Länder ist, das die Klimafinanzierungen klar von den 0,7 Prozent seines BIPs, die es in Entwicklungshilfe steckt, trennt. Oft wird beides vermischt, weil die Klimafinanzierung nicht als Schuldbegleichung gesehen wird. Das ist moralisch falsch.
Auf dieser COP sollen sich Staaten auf ein neues kollektives quantifiziertes Ziel (NCQG), also ein neues Finanzierungsziel, einigen. Insgesamt fordern NGOs eine Billion US-Dollar pro Jahr für die Klimafinanzierung. Doch die Industriestaaten haben sich schon mit dem vorherigen 100 Milliarden-Dollar-Ziel schwergetan. Wie stehen die Chancen auf eine neue Einigung?
Der Start der COP lässt Übles erahnen. Das Thema Finanzierung, das vor Beginn des Gipfels als Hauptpriorität galt, soll nicht mehr allein im Fokus stehen. Aber wir brauchen unbedingt finanzielle Zusagen für den Loss and Damage Fund und eine Aufstockung der Mittel für den Anpassungs- und den Mitigation-Fonds. Ob die von uns – und den Entwicklungsländern – geforderte Billion überhaupt reichen wird, ist dabei nur zu hoffen. Ich bin sehr skeptisch, dass die Mitgliedstaaten sich auf diese Zahl einigen. Zudem fällt die COP den Kohlenstoffmärkten zum Opfer: Die Entscheidung über den Artikel 6.4 des Pariser Abkommens, der den globalen Emissionshandel operationalisieren soll, wurde ohne die Stellungnahmen aller Staaten getroffen. Direkt am ersten Tag wurde der demokratische Einfluss gekappt. Das bedeutet wiederum, dass bestimmte Scheinlösungen legitimiert werden und die Interessen einiger als allgemeines Interesse verkauft werden. Ein Vertreter der NGO IBON hat es auf einer Pressekonferenz am Montag meiner Meinung nach am besten formuliert: „Wir laufen Gefahr, aus der Finanz-COP einen Gipfel für falsche Lösungen zu machen.“
Apropos falsche Lösungen: die EU arbeitet gerade an einem neuen gesetzlichen Rahmen (CRCF) für die Erstellung von Zertifikaten zur Kohlenstoffentfernung. Warum werden Kompensationsmaßnahmen statt eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes priorisiert?
Das zeigt die Macht der Öl-und Gaskonzerne, die immer wieder in neuen Verkleidungen auftaucht. Der neue EU-Rahmen wird viele Kompensationsprojekte, etwa Aufforstungen, noch weiter legitimieren – nicht nur in Europa, sondern vor allem da, wo diese am billigsten sind. Das betrifft wiederum Bevölkerungen im Globalen Süden. Bewohner*innen der Regenwälder oder beispielsweise Nomaden im Sahel, die ihr Land extensiv nutzen, kommen durch den Kohlenstoffmarkt unter enormen Druck. In deren Lebensräumen werden Aufforstungen oder Projekte zur technologischen Abscheidung und Speicherung von CO2 (woxx 1763) durch Konzessionen priorisiert. Damit wird weiterer Ausstoß von Kohlenstoff hier bei uns in die Atmosphäre legitimiert. Dazu gibt es einen hervorragenden Bericht der Melbourne Universität, den Land Gap Report. Ihre Analyse, die die Kompensationsprojekte in den nationalen Plänen aller Länder untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass die geplanten Flächen für Kompensation rund 10 Millionen km² ausmachen – dies entspricht fast der derzeitigen Ackerbaufläche auf der Welt. Zum Vergleich: Die USA hat eine Fläche von etwa 9 Millionen km². Das eigentliche Kernproblem dabei ist, dass fossiler Kohlenstoff mit biogenem Kohlenstoff gleichgesetzt wird. Das ist falsch: Die Dauerhaftigkeit der Speicherung an der Biosphäre ist ganz unterschiedlich und nicht gewährleistet.
Mit dem neuen Standard, der am ersten Tag der COP29 zu den Kohlenstoffmärkten beschlossen worden ist, sollen jedoch striktere Regeln in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen eingeführt werden.
Hier hätte man mehr ins Detail gehen müssen: Wie sehen die Regeln zum Schutz der Menschenrechte konkret aus? Wie steht es um die Beschwerdeprozeduren? Bei der Entscheidung auf der COP29 geht nur darum, die Marktausweitung voranzutreiben. Wir fordern deshalb, dass die Entscheidung, den Artikel 6.4 des Pariser Abkommens einfach durchzuwinken, schnellstens korrigiert wird.
Bei den Diskussionen um ein neues Finanzierungsziel fordern die Industriestaaten einerseits das Einbinden des privaten Sektors und andererseits die Ausweitung der Liste der Spender-Länder. Warum?
Wenn vom privaten Sektor die Rede ist, dann stehen Investitionen, nicht Philanthropie im Fokus. Doch die funktionieren bei den Klimafinanzierungen, vor allem bei dem Fonds für Anpassung und dem Loss and Damage Fund, nicht. Es gibt dort nämlich keine Möglichkeiten, etwas zu verdienen. Europa ist deswegen so darauf fokussiert, den privaten Sektor mehr einzubinden, weil man sich erhofft, dann die eigenen Beiträge reduzieren zu können. Gerade diese müssen jedoch in Form von Zuschüssen und günstigen Krediten an die ärmsten Länder gehen, die am meisten von der Klimakrise betroffen sind. Um unsere Schuld zu begleichen, braucht es öffentliche Beiträge, die nicht zu noch höherer Verschuldung der ärmsten Länder führt.
Wie sehen Sie denn die Forderung, dass aktuell große Verschmutzer, die in den letzten Jahren wohlhabender geworden sind, wie Qatar oder China, in die Fonds beitragen?
Diese Forderung dient dem gleichen Zweck: die Last von den Industrieländern wegzuschieben. Die Industriestaaten sind jedoch mit der UN-Klimarahmenkonvention (von 1992; Anm. der Red.) eine rechtliche Verpflichtung für die Folgen ihrer Emissionen eingegangen. Sie, darunter auch Luxemburg, müssen entsprechend ihrer historischen Verantwortung und ökonomischen Stärke für ihren Schaden aufkommen – egal, ob andere Länder auch in Klimafonds einzahlen. Dazu soll noch gesagt werden, dass Länder wie China, die in den letzten Jahren viel CO2 ausstoßen, mittlerweile auch Milliarden für Klimaprojekte, etwa erneuerbare Energien im Globalen Süden, ausgeben. Es ist natürlich gut, wenn andere Länder freiwillig finanziell beitragen. Die Industriestaaten dürfen dies aber nicht als neue Bedingung stellen.
Seit 2015 hat sich die Anzahl der Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Klimakrise verdoppelt: Wie schätzen Sie die rechtlichen Risiken ein, falls Luxemburg seiner Klimaverpflichtungen nicht nachkommt?
Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Trotzdem gehört das Verhalten der Industriestaaten vor Gericht, denn dessen Folgen sind oft tödlich. Deshalb sehe ich solche Klagen als positiv, auch wenn sie lange dauern und die Klimaverhandlungen nicht ersetzen. Wir müssen mit allen Mitteln Druck auf die fossile Macht ausüben.
Letztes Jahr war eine der meist gefeierten „Errungenschaften“ der COP28, die wenig ambitiöse Einigung, dass die Nutzung der fossilen Energien verringert werden muss. Steht ein Jahr später ein „Phase-Out“ (ein „Auslaufen“) überhaupt noch auf der Tagesordnung?
Das ist keine Priorität. Das ganze Jahr über wurde kein Wort darüber verloren. Zum zweiten Mal ist der COP-Präsident ein ehemaliger Ölmanager (der staatlichen Ölgesellschaft Socar; Anm. d. Red.). Wir erwarten deshalb nichts anderes: Das offizielle Ziel bei diesem Gipfel ist die Klimafinanzierung, allerdings – und das wurde schon vom ersten Tag an zwischen den Zeilen klar gemacht – ohne die weitere Förderung von Öl und Gas anzutasten und bei Ausweitung des Emissionshandels. In Dubai wurde das Nennen eines Datums zur „Transition“ aus den fossilen Brennstoffen vermieden. In Baku wird das Thema möglichst ganz vermieden. Schlimmer noch: Momentan steigen die Investitionen in Gas- und Erdölgewinnung. Dazu trägt auch der sogenannte nachhaltige Finanzplatz Luxemburg bei. Seriöse Politiker*innen sollten zu ihrer Verantwortung stehen. Es ist unheimlich wichtig, die Investitionen in fossile Brennstoffe zu beenden, und die Verbindung zwischen diesen und den Verletzungen der Menschenrechte anzuerkennen, etwa wenn die fossile Industrie die Kriegsmaschine Israels befeuert.
Die COP30 findet nächstes Jahr in Belém, Brasilien statt – zehn Jahre nach dem Pariser Abkommen. Sind die Erwartungen da höher?
Mit Dubai oder Baku kann man die COP30 eigentlich nicht vergleichen. Der Vergleich mit Paris bietet sich an, ja. Der Gipfel nächstes Jahr wartet mit einem anderen Rahmen auf: In Brasilien können wir beispielsweise auf eine Umweltministerin zählen, die aus der Ökobewegung kommt. Die Zivilgesellschaft des Globalen Südens und indigene Bevölkerungsgruppen haben dort eine viel stärkere Präsenz. Ich bin also von den Rahmenbedingungen her optimistischer eingestellt. Aber auch Brasilien baut gerade seine Offshore-Ölförderung aus. Zudem wird 2025 natürlich Donald Trump in Washington sitzen. Dieses Jahr werden die Vereinigten Staaten unter Biden wahrscheinlich noch versuchen, die letzten finanziellen Zusagen abzuschließen. In Baku könnten die Ergebnisse dennoch erschütternd sein. Ich denke, das UN-Klimasekretariat muss aufpassen, seine Legitimität nicht zu verspielen.
* Auf Nachfrage der woxx bestätigt das Umweltministerium die neue Summe der 8 Millionen Euro. Rund 12 Millionen Euro trage Luxemburg zusätzlich für Initiativen wie die „Santiago Network“ bei.
Dietmar Mirkes ist ein COP-Veteran. Über 22 Jahre lang arbeitete er bei der Action Solidarité Tiers Monde (ASTM) und ist Mitglied des Boards des europaweiten Dachverbands der Umwelt- und Entwicklungsorganisationen Climate Action Network Europe (CAN Europe). Auf dem 29. Klimagipfel, der am Montag dem 11. November in Baku, Aserbaidschan, begann, ist die ASTM diesmal nicht vertreten. Obwohl finanzielle und personelle Einschränkungen in diese Entscheidung eingeflossen sind, ist vor allem das Gastgeberland der Grund: „Eine COP in einer Öldiktatur bietet der Zivilgesellschaft weniger Spielraum“, so Mirkes. Nicht nur der Anteil der Zivilgesellschaft ist dieses Jahr niedriger, auch der der Staatsvertreter*innen.
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