Alle Nato-Staaten – also auch Luxemburg – haben den Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag unterstützt. Die Friedensbewegung müsse wachsam bleiben, so die Informationsstelle Militarisierung.
Die „Stunde der Hardliner“ habe geschlagen, schreibt Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen. Der Ausstieg aus dem INF-Vertrag bedeute Rückenwind für jene, die „schon länger eine atomare Nachrüstung mehr oder minder offen fordern“. Die IMI definiert sich als „Mittler zwischen der Friedensbewegung und der wissenschaftlichen Bearbeitung von Konflikten und Konfliktkonstellationen“. Interessanterweise war die deutsche Friedensbewegung in den 1980er-Jahre am stärksten – als auf beiden Seiten des „eisernen Vorhangs“ mittels nuklearer Mittelstreckenraketen aufgerüstet wurde. Dieser gefährlichen Entwicklung wurde 1987 mit dem INF-Vertrag ein Ende gesetzt.
Aufrüstung statt Abrüstung?
Durch die amerikanische, gefolgt von der russischen, Suspension des Vertrags zum Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen bahne sich „eine neue atomare Rüstungsspirale an“, so Wagner. Nach dem INF-Vertrag könnte auch der New-Start-Vertrag zur Begrenzung strategischer Atomwaffen hinfällig werden – dieser läuft 2020 aus und müsste neu verhandelt werden. Wagner erinnert daran, dass die USA dabei sind, ihr nukleares Arsenal zu „modernisieren“ und dabei unter anderem Mini-Atomwaffen bauen, die von ihren Befürwortern als „besser“ einsetzbar angesehen werden.
Offiziell steht die Nato hinter der Suspension und dem angekündigten Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag („Allies fully support this action“). „Ganz glücklich waren viele andere Verbündete allerdings nicht mit der US-Entscheidung“, schreibt Wagner. Insbesondere Deutschland habe an die USA appelliert, den Vertrag zu retten, doch diese hätten daran wohl keinerlei Interesse gehabt. Washingtons Hauptargument ist, mit den SSC-8-Raketen verstoße Russland bereits jetzt gegen den Vertrag, da deren Reichweite weit über 500 Kilometern liege. Der INF-Vertrag verbietet grundsätzlich alle landgestützten Mittelstreckenraketen, denn auch Raketen mit konventionellen Sprengköpfen lassen sich leicht auf Atomsprengköpfe umrüsten. Als Mittelstreckenraketen gelten Waffensysteme mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern – laut Russland reichen die SSC-8 nur 480 Kilometer weit. Die USA gingen nicht auf das Angebot ein, die Raketen zu inspizieren, obwohl dies klären könnte, ob eine gravierende Vertragsverletzung vorliegt.
Sind Mittelstreckenraketen gut für Russland?
Der Eindruck, Washington sei auf einem „irrationalen Kündigungskurs“ wird noch dadurch verstärkt, dass der Wegfall der INF-Beschränkungen möglicherweise sogar im russischen Interesse liegt. Denn der Vertrag bezieht sich nur auf landgestützte Raketen, die „ungleich teureren“ see- und luftgestützten Mittelstreckenraketen waren sowieso erlaubt. Der US-Aufkündigung ermöglicht es Russland also, sein nukleares Arsenal „um ein Vielfaches kostengünstiger auszubauen, als es unter den INF-Beschränkungen möglich wäre“. Wagner greift die These auf, nicht Russland sei mit der US-Aufkündigung visiert, sondern China. Da der bilaterale INF-Vertrag nur die USA und Russland in die Pflicht nimmt, setzt die Volksrepublik in der Tat auf Mittelstreckenraketen – vor allem, aber nicht nur, mit konventionellen Sprengköpfen.
In Europa werde Russland wohl nicht vorpreschen und mit einer großangelegten Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen, so Wagner, der diese Einschätzung mit einer Aussage Wladimir Putins begründet: „Russland wird weder Mittelstreckenraketen […] in Europa noch irgendwo sonst stationieren, solange keine dementsprechenden US-Waffen in den jeweiligen Regionen der Welt stationiert werdend.“ Gegen letzteres spricht, dass der deutsche Außenminister Heiko Maas derzeit eine solche Nachrüstung kategorisch ablehnt: „Europa ist nicht mehr geteilt wie in Zeiten des Eisernen Vorhangs.“
Drohen wie Helmut Schmidt?
Die „Hardliner“ seien allerdings empört über solche Aussagen. Wagner zitiert den Politikprofessor Christian Hacke, der Russland auf Konfrontationskurs sieht und die Sicherheitspolitik auf die Frage „Sind wir Hammer oder sind wir Amboss?“ reduziert. Auch der Experte Carlo Masala bedauert, dass Maas eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa ausschließt: „Ohne diese Drohung gibt es für Moskau null Anreize, in den Vertrag zurückzukehren.“
Das Argument ist das gleiche, das 1979 zum legendären Nato-Doppelbeschluss führte: Russland müsse seine SS-20 abrüsten, oder man werde in Europa ebenfalls neue Mittelstreckenraketen stationieren. Wagner zitiert den Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, der bedauert, dass keine Regierung das tun wolle, was damals Helmut Schmidt getan hatte. Der Bundeskanzler hatte die Drohung mit Nachrüstung in die Welt gesetzt – und damit der Friedensbewegung in Deutschland und Europa einen historischen Zulauf beschert.
Laut Ischinger schlittere man mit Ausstieg aus dem INF-Vertrag in eine schwierige Lage hinein, denn wenn man eine angemessene strategische Antwort geben wolle, müsse man fürchten, „dass hier gewaltige Aufwallungen von friedensbewegten und pazifistischen und sonstigen Gruppen tätig werden“. Wagner leitet aus dieser Einschätzung nicht nur eine Beruhigung für Aufrüstungsängste ab, sondern auch eine Aufforderung an die Friedensbewegung: Sie solle dafür sorgen, dass uns auch künftig der „Schmidtsche Moment“ erspart bleibe.