Backcover: Wolfgang Osterheld

Die woxx versteht im Juli und im September nur Bahnhof: Auf der Rückseite zeigen wir in den beiden Monaten historische Arbeiten des Fotografen Wolfgang Osterheld, der vor langer Zeit das Treiben im hauptstädtischen Bahnhofsviertel dokumentierte. Zum Auftakt ein Gespräch über die Magie der Wartesäle, Punks und den obdachlosen Ingenieur Albert Boros.

Wolfgang Osterheld trat mit den Menschen, die er am Bahnhof fotografierte, in Kontakt – so etwa auch mit dem obdachlosen Albert Boros. (Fotos © Wolfgang Osterheld)

woxx: Der Hauptbahnhof in Luxemburg-Stadt spielt in Ihren Fotos, die wir im Juli und im September auf der Rückseite der woxx veröffentlichen, eine zentrale Rolle. Warum?


Wolfgang Osterheld: Die Bahnhöfe der großen Städte waren ebenso wie die Justizpaläste als Prunkbauten gedacht. Da sind die pompösen Bahnhöfe der wilhelminischen Zeit wie der von Metz, und auch der Bahnhof von Luxemburg wurde in einem ähnlichen Geiste konzipiert, andererseits aber auch die gewagten, auf den Gemälden von Monet verewigten Stahlkonstruktionen der Gare St. Lazare, denen der Art Deco-Wartesaal auf dem Bahnsteig in Bettemburg verwandt war.

Was hat Sie an Bahnhöfen besonders fasziniert?


Ich habe die Eleganz dieser Stahlkonstruktionen immer wieder bewundert, denn ich bin mehrere Jahre von Luxemburg nach Paris gependelt, und um Zeit zu gewinnen, bin ich immer in Bettemburg in den letzten Zug nach Paris gestiegen, weil ich dort das Auto direkt hinter dem Bahnhof parken konnte. Eines Tages war der Wartesaal weg, abgerissen. Auch im Bahnhof von Luxemburg wurde vieles wegmodernisiert. Ich denke da oft an die Wartesäle auf den Bahnsteigen. Ihre Inneneinrichtung war aus Eiche und sie hatten eine fast intime Atmosphäre. Ich habe sie als Dekor für viele meiner Porträts benutzt. Man hätte sie tel quel in einem Museum als Installation wieder aufrichten können. Sie wurden demoliert. Mit der Kunst ist es eben so: Wenn man keine Tafel aufstellt „Attention, oeuvre d’art“, sieht es niemand. Wie sonst hätten in Luxemburg so unendlich viele Bauwerke von unwiederbringlichem Wert zerstört werden können?

Sie sprechen Veränderungen und die Modernisierung der Bahnhöfe an: Wie hat sich das Bahnhofsviertel in Luxemburg-Stadt insgesamt für Sie verändert?


Viele architektonisch wertvolle Bauwerke sind verschwunden, das Kino Eldorado am Bahnhofsplatz wurde abgerissen, das Service des Sites et Monuments hat immer die Augen zugedrückt. Und immer wieder Betonklötze, es fehlen im Stadtbild runde Formen, deshalb wird das Gebäude der Philharmonie als so wohltuend empfunden.

„Die Fotografie 
sucht immer weniger nach dem ästhetischen Schockerlebnis“

Neben der Architektur stehen in Ihren Arbeiten Menschen, Gesichter und Momentaufnahmen im Mittelpunkt. Haben Sie mit allen Personen, die Sie fotografiert haben, aktiv interagiert? 


Die meisten Personen, die ich im und um den Bahnhof fotografiert habe, haben gerne mitgemacht. Nachdem sie die Fotos gesehen hatten, wollten einige sogar weiter mit mir zusammenarbeiten: Der Pianist Martial Solal hat mich nach Paris eingeladen, der Theologieprofessor Victor Conzemius wollte, dass ich ihn bei sich zu Hause in Luzern fotografiere, aber es ist dann nicht dazu gekommen.

Sind andere Personen, die Sie porträtiert haben, Ihnen noch einmal über den Weg gelaufen?


Mit einigen der Punks, die ich vor fast vierzig Jahren unter anderem im Bahnhof fotografiert habe, stehe ich noch in Kontakt. Als die Société nationale des Chemins de fer luxembourgeois (CFL) zur Hundertjahrfeier des Bahnhofs meine Fotos großformatig in der Bahnhofshalle ausstellte, hatte sie auf meine Anregung hin zur Buchvorstellung auch einen der damaligen Punker eingeladen. Man war sehr überrascht, einem sympathischen, eleganten Mann mit kurzgeschnittenem Haar, Anzug und Schlips zu begegnen, der seit Jahren als Empfangschef in einem großen Hotel arbeitete.

Gibt es Anekdoten rund um die Entstehung Ihrer Fotografien, die Sie mit uns teilen wollen?


Nicht unbedingt eine Anekdote, aber eine Erinnerung, die an Albert Boros, der mit 24 Jahren als Ingenieur aus Ungarn gekommen war, um am Bau der „Rout Bréck“ mitzuarbeiten. Er war auch noch am Staudammprojekt in Esch/Sûre beteiligt, aber schon bald danach wurde er zum Obdachlosen und verbrachte rund fünfzig Jahre seines Lebens am und im Luxemburger Bahnhof. Er war oft beschwipst, aber immer liebenswürdig. So manchem Schüler hat er die Mathematikaufgaben gemacht. Albert Boros – sein richtiger Vorname war Adalbert: Ein tragisches Schicksal, um so tragischer, als er es frei gewählt hatte. Es hat sich aber am Ende dieses unglaublichen Lebenswegs beinahe zum Guten gewendet. Die letzten Lebensjahre konnte er würdevoll im Altersheim in Echternach verbringen und ist dort 2013 im Alter von fast 83 Jahren friedlich gestorben. Eines Tages habe ich den Journalisten André Bercoff und dessen Lebensgefährtin zum Bahnhof begleitet und ihnen Albert Boros vorgestellt. Albert hat ihnen aus der Hand gelesen. Bercoffs Lebensgefährtin wurde kurz darauf von einem eifersüchtigen Exfreund ermordet. Kein Mord im Dom wie bei Eliot und Anouilh, sondern wieder in einem Bahnhof, auf einem Bahnsteig in Besançon, wie Claude Frisoni mir erzählte. Hätte Albert Boros das voraussehen müssen?

Motive gibt es vor allem an Orten wie Bahnhöfen viele. Was bewegt Sie dazu, auf den Auslöser zu drücken?


Man sollte in der Vergangenheit sprechen, denn ich fotografiere ja seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass ich Freude verspürt habe, wenn es mir gelungen war, einen Hauch der Seele einzufangen. Und immer wenn ich in dem Chaos der Welt eine Harmonie der Formen und Linien gesehen habe, gab mir das so etwas wie ein Glücksgefühl. Aber die Fotografie, und die zeitgenössische Kunst im Allgemeinen, sucht immer weniger nach dem ästhetischen Schockerlebnis. Ich erinnere mich an einen empörten Leserbrief von Maître Gaston Vogel, als im Casino der rue Notre Dame eine Maschine zur Erzeugung von Exkrementen als Kunstwerk ausgestellt wurde, aber es gab Schlimmeres.


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