Belgien: Unsichtbar und ungeschützt

Vietnamesische Migranten, die in Großbritannien auf ein besseres Leben hoffen, nutzen meist eigene Transitnetzwerke. Auch ihr Weg führt häufig über Belgien – unter Bedingungen, die ausbeuterisch und gefährlich sind.

Qualvoll erstickt: Die britische Polizei stellt den LKW mit dem Kühlcontainer sicher, in dem am 23. Oktober 2019 
in Grays nahe London die Leichen von 39 vietnamesischen Migranten gefunden wurden. (Foto: EPA-EFE/ Vickie Flores)

Zwischen Strand und Hafengelände der belgischen Hafenstadt Zeebrügge zieht sich ein Pier weit hinaus in die Nordsee. Am frühen Nachmittag des 22. Oktober 2019 legt hier ein Frachtschiff ab, auf dem sich 39 Menschen in einem Kühlcontainer verborgen halten. Acht Frauen und 31 Männer aus Vietnam, im Alter von 15 bis 44 Jahren. Ihre Reise in ein vermeintlich besseres Leben in Großbritannien endet in der Grafschaft Essex. In einem Industriegebiet der östlich von London gelegenen Ortschaft Grays werden gegen halb zwei Uhr früh des nächsten Tages ihre Leichen gefunden. Der Sauerstoffmangel während der zehnstündigen Überfahrt ist ihnen zum Verhängnis geworden.

In manchen Medien wurde nach dem schrecklichen Fund von Essex an die 58 toten Chinesen erinnert, die im Juni 2000 in Dover in einem Tomatencontainer entdeckt worden waren. Oder an die 34 afghanischen Sikhs, die im August 2014 in dem Themse-Hafen Tilbury aus einem Container befreit wurden, darunter mehrere schwangere Frauen und Kinder. Ein weiterer Mann hatte den Transport nicht überlebt. Abfahrtsort in beiden Fällen: Zeebrügge. Seit die französischen Behörden Ende 2016 den „Jungle“ bei Calais räumten, ist der einzige belgische Hafen mit Verbindung nach England immer wichtiger geworden. Für Transitmigranten, für Menschenschmuggel und für die Grauzone zwischen beiden Phänomenen.

Dass unter den Migranten, die in den letzten Jahren immer häufiger versuchen, in den Hafen zu gelangen, auch Menschen aus Vietnam sein könnten, war bis dato wohl kaum jemandem bewusst. Das gilt auch für jene, die auf belgischen Rastplätzen im Landesinneren probieren, in einen LKW zu gelangen. „Wenn ich in Luxemburg oder Deutschland geladen habe, versuche ich bis hierher nicht mehr anzuhalten“, so ein britischer Fahrer, der unweit der Hafenanlagen von Zeebrügge tankt. Ein junger Kollege aus Mazedonien berichtet, ihm werde unterwegs Richtung Küste regelmäßig Geld angeboten, um Menschen mit nach England zu nehmen – „auf Raststätten, Autohöfen oder einfachen Parkplätzen“. Vietnamesen jedoch, sind sich beide einig, haben sie auf all ihren Fahrten zum Kanal noch nie gesehen.

„Vietnamesen sind eine besondere Gruppe“, erklärt Ann Lukowiak, eine belgische Staatsanwältin, die auf Menschenschmuggel spezialisiert ist. „Meist gelingt es ihnen, unter unserem Radar zu bleiben.“ Auf ihrem Weg nach England träfe man diese Personengruppe nicht wie andere Transitmigranten am Nordbahnhof oder am Maximilianpark in Brüssel an, so die Beamtin, deren Behörde im Zentrum von Brüssel angesiedelt ist. Meist kämen Menschen aus Vietnam in der hiesigen Diaspora unter, doch seit einigen Jahren greife man immer wieder auch mal kleinere Gruppen von zehn bis 15 Personen in LKWs und Containern auf.

„Wenn ich in Luxemburg oder Deutschland geladen habe, versuche ich bis Zeebrügge nicht mehr anzuhalten.“

Früh am Morgen des 23. Oktober 2019 wurde Ann Lukowiak über die 39 Toten von Essex informiert. „Wenn es eine Verbindung nach Belgien gibt, müssen wir Verantwortung übernehmen“, war ihr damals sofort bewusst. Heute leitet sie auf belgischer Seite die Ermittlungen in dem Fall, für den sich ein gemeinsames Ermittlerteam aus britischen, französischen und irischen Kollegen gebildet hat. Der nordirische Fahrer, der den Container nach Grays brachte, hat vor Gericht bereits gestanden, seit Mai 2018 Teil einer Schlepperorganisation gewesen zu sein.

Belgien sei geographisch bedingt ein logistisches Zentrum des Schmuggels vietnamesischer Migranten, so Lukowiak. „Wer über Land von Russland aus hierher kommt und unterwegs arbeitet, kann für die Strecke zwei Jahre brauchen. Auch die Balkanroute wird dabei genutzt. Wer mehr Geld hat, fliegt von China erst nach Paris. Diese Route kostet 40.000 Dollar, die russische 25.000.“ Der Weg von Brüssel nach England koste 5.000 Euro, sagt die Staatsanwältin. Auch eine „südliche Route“ beobachte man in letzter Zeit: „Per Flugzeug von Vietnam nach Abu Dhabi und weiter nach Marokko oder Spanien. Von dort geht es nach Paris und Brüssel, mit Bus, Zug, LKW oder Auto, oder mit falschen Dokumenten per Flugzeug.”

2016 rollte die belgische Polizei ein Schmuggelnetzwerk auf, das aus fünf Vietnamesen bestand. Über ein „safe house“ in Brüssel schleusten sie vietnamesische Migranten aus der Ukraine kommend nach England. Weil darunter auch Minderjährige waren, wurde der Hauptverdächtige zu zehn Jahren Haft verurteilt. Derzeit intensiviere man die Zusammenarbeit mit Vietnam, Polen und der Ukraine, sagt Lukowiak. Und man untersuche, ob Schmuggler in Belgien auch auf solche „sicheren Unterkünfte“ in Frankreich zurückgriffen. Klar sei jedenfalls, dass die vietnamesischen Transitmigranten nicht wie andere auf Parkplätzen versuchten, auf einen LKW nach Großbritannien zu gelangen. „Sie haben eigene Orte, wo sie zusteigen, oft direkt hinter der französischen Grenze. Das kann irgendeine Sackgasse sein, oder eine Wiese.”

Nun ist es nicht etwa so, dass diese Personengruppe auf dem Weg nach England keine Spuren hinterlässt. In der „Galerie du Centre“ etwa, einer einfachen Shopping Mall unweit der Grand Place, mit vorwiegend lokaler Kundschaft. Die große Mehrheit der Geschäfte ist auf Nagelpflege spezialisiert. Etwa zwanzig solcher Etablissements gibt es hier. In allen bietet sich das gleiche Bild: junge asiatische Frauen und oft auch Männer beugen sich an kleinen Tischchen im Schein greller Lampen über die Hände der Kundschaft. Ein Mitarbeiter des im selben Komplex untergebrachten Programmkinos erzählt, die Zahl der Nagelstudios habe sich mindestens verdoppelt, seit er vor sechs Jahren hier zu arbeiten begonnen habe. „Von der Polizei habe ich gehört, dass die Pässe der Angestellten einbehalten werden. Es gab schon Fälle, da haben Arbeiter in den Garagen im Untergeschoss gewohnt.”

Dass vietnamesische Migranten auf dem Weg nach England auch hierzulande arbeiten müssen, um entweder Schulden abzubezahlen oder Geld für den Weitertransport zu verdienen, ist laut Sarah Dehovre keine Seltenheit. „Hier können sie die Arbeit in den Nagelstudios ‚lernen‘, damit sie die Technik schon beherrschen, wenn sie nach England weiterreisen – das jedenfalls erzählen ihnen die Schlepper und Betreiber der Nagelstudios“, so die Direktorin der Brüsseler NGO „Pag-asa“, die Opfer von Menschenschmuggel unterstützt. Das Vorbild anderer Arbeitsmigranten, die mit in Europa verdientem Geld in armen Regionen Vietnams prächtige Häuser bauten, diene den Betroffenen als Motivation.

Dass vietnamesische Migranten auf dem Weg nach England auch in Brüssel arbeiten müssen, um Schulden abzubezahlen oder Geld für den Weitertransport zu verdienen, ist keine Seltenheit.

Seit 2018 haben die Mitarbeiter und Freiwilligen von „Pag-asa“ (was im philippinischen Dialekt Tagalog „Hoffnung“ bedeutet) auch ab und zu mit jungen Menschen aus Vietnam zu tun. Etwa zwanzig Personen hätten um Hilfe gefragt, sagt Sarah Dehovre, die Hälfte davon sei nun in einem Schutzprogramm. „Die meisten aber entscheiden sich für den Versuch, von hier aus doch noch nach England zu kommen.“

Sarah Dehovre ist sich bewusst, dass ihre NGO nur einen Bruchteil der betroffenen Personen erreicht. „Alle, mit denen wir gesprochen haben, leben und arbeiten mit fünf bis zehn weiteren jungen Vietnamesen zusammen, die wir nicht kennen.” Die Nachricht von den 39 Toten aus Essex sorgte bei „Pag-asa“ für einen Schock. Als die polizeiliche Namensliste veröffentlicht wurde, verglich man sie umgehend mit der eigenen. „Sofern die Namen, die bei uns eingetragen wurden, korrekt sind, ist keiner von ihnen bei uns gewesen.“

Anders sieht das im Dorf Cadier en Keer im Südosten der Niederlande aus. Der fünf Kilometer östlich von Maastricht gelegene Ort beherbergt eine Ansammlung stationärer Einrichtungen: ein Jugendgefängnis, eine Suchtklinik und einige eingezäunte, an den Hang gebaute Backsteinhäuser, wo Jugendliche mit familiären Problemen untergebracht sind. „Die beiden einzigen Gebäude ohne Zaun haben wir vermietet. Dort sind junge Asylbewerber untergebracht“, so ein Mitarbeiter der Einrichtung.

Nichts weist darauf hin, dass in diesen Häusern schutzbedürftige jugendliche Geflüchtete untergebracht sind, die vor Menschenschmugglern verborgen werden sollen. Am Abend des 16. August verschwanden hier sechs vietnamesische Teenager: zwei Mädchen und vier Jungen. Ein internes Dokument der Heimleitung zeigte später, dass Mitarbeiter bereits die Vermutung hatten, dass sich einige der Jugendlichen aus dem Staub machen wollten. Rechtliche Handlungsmöglichkeiten hatte man jedoch nicht. Seit 2013 verschwanden in den Niederlanden über 60 junge Vietnamesen aus solchen Heimen.

In jener Augustnacht suchte ein Polizeihubschrauber vergeblich ein nahegelegenes Maisfeld nach den Geflüchteten ab. Im Bericht der Polizei hieß es später, die Jugendlichen hätten sich dort versteckt, bis sie von einem Auto abgeholt worden seien. Was aus ihnen geworden ist, dazu macht keine der zuständigen Behörden weitere Angaben. Nur eines gab man noch bekannt: Von den sechs Jugendlichen, die in der betreffenden Nacht ausgebüchst waren, fand sich einer unter den 39 Toten, die man in Essex in dem Kühlcontainer aufgefunden hat.

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden.

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