Die Niederlande und der Anstieg des Meeresspiegels: Kampf gegen das Wasser

Die Folgen des Klimawandels für die Niederlande kommen rasch und sind drastisch. Die jüngsten Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels alarmieren selbst jene, die das Problem bereits seit Jahrzehnten ernst genommen haben. Auch radikale Strategien werden mittlerweile durchgespielt, um auf die Entwicklung zu reagieren. Eine Reportage aus der Küstenregion.

Will nicht zu alarmistisch klingen, sieht aber letztlich allen Grund dazu: Aimée Slangen vom Niederländischen Institut für Meeresforschung. (Fotos: Henny Boogert
)

Ein mulmiges Gefühl schleicht sich ein bei den Menschen am Turfmarkt, einer pittoresken Straße im Zentrum des niederländischen Käsestädtchens Gouda. Eigentlich wirkt hier alles wie Holland aus dem Bilderbuch, wäre da nicht das Wasser der Gracht, das übers Ufer tritt. Fast bis an die Reifen der geparkten Autos reicht es, und auch nahezu an den Gehweg heran.

Das Problem hier in Gouda ist komplex: der torfhaltige Boden sinkt, der Meeresspiegel steigt, heftige Niederschläge nehmen zu. Konsequenz: Land unter. „Ich wohne etwas weiter weg, aber die Häuser in dieser Straße stehen häufiger unter Wasser“, sagt ein Passant. Christine Schellert, eine Anwohnerin auf dem Weg zum Einkaufen, erklärt: „Die Stadt will den Wasserpegel nun mit einem Pumpwerk senken. Aber für die alten Häuser, die teils auf Pfählen im Wasser gebaut sind, ist das ein Dilemma: Wenn die Pfähle trocken stehen, beginnen sie zu faulen.“ Ihr eigenes Haus, so Schellert, stehe auch auf solchen Pfählen. „Und seit wir wissen, wie schnell der Nordpol schmilzt, beschäftigt uns das schon ziemlich.“

Es war eine Hiobsbotschaft, die der Weltklimarat IPCC Anfang August mit seinem Bericht überbrachte (siehe dazu den Artikel „Last orders!“ in der woxx 1645): Die Schmelze des Polareises sei unumkehrbar, die Erderwärmung menschengemacht und nicht unter der Marke von zwei Grad Celsius zu halten. Auch in den Niederlanden ließ das die Alarmglocken klingen. Als „sehr besorgniserregend“, kommentierte Premierminister Mark Rutte den Bericht. Besonders bedrohlich für das niedrig gelegene Land: Der Meeresspiegel steigt immer schneller. Je nach Menge der Treibhausgasemissionen wird er bis Ende des Jahrhunderts einen halben bis einen Meter höher liegen (siehe den online-Artikel „Die Antarktis schmilzt weg“). Auch wenn die Bewohner*innen Goudas nicht ans Umziehen denken, macht sich Beunruhigung breit.

„Der Anstieg des Meeresspiegels ist jetzt schon messbar. Wie hoch er 2100 sein wird, ist eine Entscheidung, vor der die Menschheit steht.“ So formuliert es Aimée Slangen, eine 36-jährige Meeresspiegelspezialistin 
am Niederländischen Institut für Meeresforschung (NIOZ). Die aktuelle Warnung stammt aus ihrer Feder, denn am Bericht des IPCC war sie als „lead author“ beteiligt. Die Bedrohung in konkreten Zahlen: „In den letzten hundert Jahren betrug der Anstieg zwanzig Zentimeter. In den kommenden dreißig Jahren erwarten wir noch einmal zwanzig Zentimeter. Dieser Trend darf sich nicht fortsetzen!“

Drei Monate nach der Veröffentlichung des Berichts begrüßt Aimée Slangen die woxx hinter dem NIOZ-Gebäude, das in Yerseke in der Provinz Zeeland liegt. Drinnen darf sie pandemiebedingt keinen Besuch empfangen. Gleich hinter dem hellen Klinkerbau wogt die Oosterschelde, ein Meeresarm, der rund vierzig Kilometer westlich in die Nordsee strömt. Seit dem IPCC-Bericht hat ihr Wort im Land einiges Gewicht, Anfragen von Medien kommen mehrmals pro Woche. „Als Klimawissenschaftlerin willst du nicht zu aktivistisch wahrgenommen werden“, sagt sie. „Zugleich machst du dir Sorgen, weil du genau weißt, wie es aussieht. Eine schwierige Balance.“

„Ein Wasserstand, den wir bislang alle hundert Jahre messen, könnte Ende des Jahrhunderts alle zwei bis zehn Jahre auftreten.“

Während ihrer Promotion forschte Slangen erstmals zur Frage, wie sich die globalen Klimaprognosen regional auswirken. „Man will wissen: Was passiert an meiner Küste?“, so Slangen, die von der Universität Wageningen kommt und einst Erasmus-Studentin an der ETH Zürich war. Mit dieser Untersuchung war sie schon am vorigen IPCC-Bericht beteiligt. Um ihre Küste, so viel ist sicher, steht es nicht zum Besten: „Das Risiko von Überschwemmungen nimmt zu: Ein Wasserstand, den wir bislang im Schnitt einmal in hundert Jahren messen, könnte Ende des Jahrhunderts alle zwei bis zehn Jahre auftreten.“

Das Königlich-Niederländische Meteorologische Institut (KNMI) hat die Entwicklung in einem Bericht von Ende Oktober so beziffert: Wird der weltweite Ausstoß von Treib-
hausgasen nicht schnell reduziert, könnte das Land 2100 mit einer um 1,20 Meter erhöhten Nordsee konfrontiert sein. Sollte durch die globale Erwärmung das antarktische Poleis schmelzen, könnte der Anstieg gar noch drastischer ausfallen. Die letzte Prognose des KNMI von 2014 ging von einer Zunahme von einem Meter aus.

Nicht mehr pittoresk, sondern eher bedrohlich: In den Grachten des südlich von Amsterdam gelegenen Städtchens Gouda steht das Wasser nicht selten bis zum Rand.

Warum die Niederlande besonders gefährdet sind, erklärt Aimée Slangen: „Wir liegen relativ nah bei Grönland, aber weit weg von der Antarktis. Die Eiskappen haben eine Art Schwerkraft. Sie ziehen Wasser vom Ozean an, weil da sehr viel Eis liegt. Wenn dort also Eis schmilzt, wird diese Anziehungskraft schwächer. So sinkt der Meeresspiegel nahe der Eiskappe, und er steigt weiter von ihr entfernt, wie bei einer Wippe. Die Antarktis kann sehr stark zu einem höheren Seespiegel beitragen. Gerade weil wir so weit weg sind, sind wir davon überdurchschnittlich stark betroffen.“ (Siehe auch die Reportage „Banger Blick in die Antarktis“ in woxx 1532.)

Aufgrund der niederländischen Topografie entsteht ein komplexes Bedrohungsszenario, das die Forscherin so beschreibt: „Wenn die See einen höheren Wasserstand hat, können die Flüsse dort schwieriger abführen. Kommt extremer Niederschlag hinzu, verdoppelt sich dieser Effekt.“ Die Überschwemmungen in diesem Sommer in der weit von der Küste entfernten Provinz Limburg seien ein Weckruf gewesen, so Slangen. Sie wuchs dort auf; ihre Mutter wurde zwischenzeitig wegen der anschwellenden Maas evakuiert. „Es geschieht nicht in der Zukunft oder weit weg. Der Klimawandel findet hier und jetzt statt.“

Dessen Bedeutung für den Hochwasserschutz lässt sich an dieser Küste wie mit einem Zeitraffer beobachten. Etwa am Oosterscheldekering, einem gigantischen Sturmflutwehr eine halbe Stunde von Yerseke entfernt, wo die

Oosterschelde in die Nordsee fließt. Dieses Wehr gilt als Krönung der Deltawerke, der Lebensversicherung der südwestlichen Niederlande. Als es 1986 in Betrieb genommen wurde, nannten manche es das achte Weltwunder: ein neun Kilometer langes Sperrwerk auf 65 Pfeilern, zwischen denen Schiebetore befestigt sind, die den Meeresarm bei einem vorausgesagten Pegel von drei Metern absperren.

 

Konzipiert wurde es für einen Seespiegel, der um einen Meter höher liegt als das damalige Normalniveau. Damals, in den 1980er-Jahren, wähnte man sich damit für die nächsten 200 Jahre geschützt. Inzwischen ist jedoch klar, dass selbst dieses Monument niederländischen Wassermanagements nicht genügen wird.

„Es geschieht nicht in der Zukunft oder weit weg. Der Klimawandel findet hier und jetzt statt.“

Im Sommer gibt es hier viele Tourist*innen. Nun ist die Anlage verwaist, lediglich ein paar Autos sind auf der darüber hinwegführenden Landstraße zu sehen. Unten tost die Oosterschelde der See entgegen, und trotz des stürmischen, diesigen Novemberwetters wird deutlich, wie weit sich die Menschheit hier notgedrungen vorgewagt hat, um den Elementen entgegenzutreten und der See ein Stück Land abzutrotzen.

Wie also soll es weitergehen? Würde Peter Glas diese Frage schlaflose Nächte bereiten, hätte er den falschen Job. Er ist „Deltakommissar“, eine Art Verbindungsoffizier zwischen den verschiedenen Instanzen des Hochwasserschutzes der Niederlande, wie er sagt. Und diesen Job bekommt man nicht ohne ein Verständnis für den Ernst der Lage, kombiniert mit einem Wissen um die zur Verfügung stehenden Mittel und der Fähigkeit zur nüchternen Analyse. „Ein Schock war das nicht“, sagt er zur Prognose eines möglichen Anstiegs der Nordsee um 1,20 Meter. „Aber eine Bestätigung der Sorge, die wir alle zusammen ernst nehmen müssen.“

Die Bezeichnung „Delta“ steht nicht nur für die imposanten Verteidigungsanlagen, mit denen man hier der Bedrohung, die die geografische Lage mit sich bringt, begegnet. Sie steht auch für die politischen und administrativen Formen, die man dem Hochwasserschutz gegeben hat. „Delta“ dort quasi allgegenwärtig: Die erste Deltakommission ließ ab 1953 die Küste mit den Deltawerken befestigen. Die zweite setzte sich fünfzig Jahre später mit den Folgen des steigenden Seespiegels auseinander. Ein jährliches Deltaprogramm gibt das Konzept vor, zur Finanzierung gibt es den Deltafonds, und das Deltagesetz bildet die juristische Grundlage.

Die Lebensversicherung der südwestlichen Niederlande: 
Ein gigantisches Sturmflutwehr, um das Flussdelta der Oosterschelde zu regulieren und vor der Nordsee zu schützen.

Was aber, wenn all dies nicht mehr ausreichen sollte? Für Deltakommissar Glas gehören solche Bedenken zum Alltag. „Wenn wir nichts täten, wären wir in einer schlechteren Position mit schlechteren Prognosen.“ Er beruft sich auf die Tradition, die das Land im Kampf mit dem Wasser hat. „Wir machen das schon seit fast 1.000 Jahren, stürzen dabei und rappeln uns wieder auf.“ So wie nach der zweiten Elisabethflut in der Nacht vom 18. auf den 19. November 1421. „Auf den Tag genau heute vor 600 Jahren kostete die Flut Tausende das Leben.“ Glas spricht von einer „tief gefühlten Dringlichkeit, weiterzumachen“ – und gesteht zugleich: „Vorbereitet zu sein ist das Maximum dessen, was wir tun können.“

Die jüngsten Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels jedoch liegen deutlich jenseits dessen, worauf die Niederlande bislang vorbereitet sind. Für den Oosterscheldekering und „die anderen Kunstwerke“, so Glas, bedeute dies, dass sie ein „Upgrade“ bräuchten oder ersetzt werden müssten. Beide Optionen gehören zu den Szenarien eines Berichts von 2019, der sich mit Anpassungsstrategien an einen schnell steigenden Meeresspiegel beschäftigt. Er enthält auch die Variante, die Wehre permanent zu schließen, wodurch für die Abfuhr der Flüsse enorme Pumpleistungen benötigt würden.

Grundsätzlich stellt sich bei all diesen Szenarien die Frage, ob die Niederlande ihre Küstenlinie in der heutigen Form erhalten wollen. Aktuell sei das die Devise, sagt der Deltakommissar, sei es durch aufgespritzten Sand, Dämme oder womöglich vorgelagerte Inseln. Laut Expert*innen könne man mit solchen Anpassungen einem Pegelanstieg von bis zu zwei Metern standhalten. „Es gibt aber auch ein Szenario, das wir ‚Mitgehen mit der See‘ nennen. Das wäre natürlich sehr eingreifend, denn es würde bedeuten, Land preiszugeben, auf dem wir schon Jahrhunderte wohnen. Aber wenn der Anstieg in Richtung mehrere Meter geht, rückt das leider näher.“

Nicht nur der Deltakommissar macht sich Sorgen. Gut 200 Kilometer nördlich, auf der Nordseeinsel Terschelling, stand im Winter 2019 das Hafendorf West-Terschelling nach einem Nordweststurm mit Springflut unter Wasser. Marlies de Boer, die Inselbuchhändlerin, weiß, dass es irgendwann mit Terschelling vorbei sein könnte. Dass dies nicht zu ihren Lebzeiten sein wird, macht die Perspektive abstrakter. Die 1,20-Meter-Prognose habe sie zwar nicht geschockt, doch dass „es schnell geht“, weiß auch sie.

„Vorbereitet zu sein ist das Maximum dessen, was wir tun können.“

Im Café mit dem bezeichnenden Namen „Storm“ berichtet Kellnerin Nikkie Zijlstra von ihren Bedenken. Sie kommt vom Festland und wohnt sehr gerne auf Terschelling. „Mein Mann kommt von hier und findet, dass wir hier sicher sind. Aber wir haben gerade ein Haus gekauft und haben drei kleine Kinder, an die denke ich natürlich. Und dann neulich diese Überschwemmungen in Limburg.“ Wie man sich angesichts dieser Entwicklung keine Gedanken machen könne, sei ihr ein Rätsel.

In Harlingen, drüben auf dem Festland, widmet sich Frank Petersen schon von Berufs wegen dieser Sorge. Beim Umweltministerium in Den Haag erlebte er einst die Zeit nach dem Klimagipfel von Rio, später arbeitete er bei Greenpeace. Nun kämpft er bei der „Waddenvereniging“ (Wattvereinigung) gegen die Erdgas- und Salzgewinnung aus dem Meer und das damit verbundene Absinken des Seebodens im Naturschutzgebiet.

Dass dieses einzigartige Ökosystem, das seit 2009 von der Unesco als Weltkulturerbe geführt wird, untergehen könnte, wenn die Nordsee erheblich anstiege, davor warnt die Waddenvereniging schon seit Jahren. In seinem eigenen Umfeld beobachtet Petersen, dass das Bewusstsein für die Bedrohung deutlich zugenommen hat. Die 1,20-Meter-Prognose des meteorologischen Instituts war für ihn selbst nur eine Bestätigung seiner eigenen Einschätzung. Allerdings eine, von der er hofft, dass sie der Politik endlich Beine macht. „Wenn es um den Erhalt des Wattenmeers ging, hat die Regierung Klimawandel und Seespiegelanstieg lange nicht ernst genommen.“

Sollte dieser Teil der Nordsee irgendwann nicht mehr regelmäßig trocken liegen, hätte das Folgen, die weit über die Niederlande hinausreichen, so Petersen. „Dann verschwände auch der Schlick, der Nährstoff für Algen und Plankton und damit die Basis dieses Ökosystems ist. Auch viele Vögel finden hier im Winter Futter oder rasten auf dem Weg von Sibirien nach Westafrika. Wenn sie kein Futter mehr finden, können sie ihre Brutgebiete nicht mehr erreichen. Damit nimmt die Gefahr zu, dass sie aussterben.“

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden; er lebt in Amsterdam.

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