IPCC-Bericht: Last orders!

Um den Klimawandel noch aufzuhalten, ist es fast zu spät; jedenfalls macht jeder Bruchteil eines Grades weniger Erderwärmung einen Unterschied. Was der Weltklimarat der Politik zu sagen hat.

Mögliche Interaktionen der AMOC mit anderen Klima-Subsystemen. (Wikimedia; DeWikiMan, CodeOne; CC BY-SA 4.0)

Alles bleibt, wie es war – das ist die wichtigste Erkenntnis im am Montag vom Weltklimarat (IPCC) veröffentlichten Bericht zu den physikalischen Grundlagen der Erderwärmung. Nicht, dass es keinen Klimawandel geben würde, im Gegenteil. Doch woran sich nichts geändert hat: Die Erde erwärmt sich weiter und, wie vorhergesagt, werden die Auswirkungen davon, insbesondere die extremen Wetterereignisse, immer spürbarer. Außerdem: Der Ausstoß von Treibhausgasen ist noch gestiegen, wie in den pessimistischen Szenarien des fünften IPCC-Berichts prognostiziert. Gewiss, dieser aktuelle Bericht, der sechste seiner Art, enthält auch eine Reihe von neuen wissenschaftlichen Ergebnissen – auf ein paar der wichtigsten gehen wir weiter unten ein. Vor allem aber sind zwischen dem fünften und sechsten Bericht acht Jahre verstrichen, in denen versäumt wurde, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um den Klimawandel zu stoppen. Nun läuft, das bestätigt der Bericht, der Menschheit die Zeit davon.

Der 1,5-Grad-Zug ist abgefahren

Schon wieder? Ende Juni hatten manche Medien bereits Alarm geschlagen, aufgrund eines geleakten IPCC-Dokuments, dessen Inhalt von der Presseagentur AFP verbreitet worden war (online-woxx: Weltklimarat warnt vor Zusammenbruch). Dabei handelte es sich um den Bericht der Working Group II, die die Auswirkungen des Klimawandels und die Anpassung daran untersucht. Allerdings waren die geleakten Informationen nicht offiziell abgesegnet; außerdem erschwert die extreme Komplexität ökologischer und sozialer Systeme es, präzise Vorhersagen zu treffen. Das jetzt veröffentlichte Dokument stammt von der Working Group I (WG1) und macht zum Teil recht zuverlässige Aussagen zur künftigen physikalisch-chemischen Entwicklung des Systems Erde und seiner Subsysteme. Nicht zuletzt ist es auch der einzige IPCC-Bericht, der vor der COP26 im November vorliegt – obwohl für die Weltklimakonferenz insbesondere jener der Working Group III über die Begrenzung der Erderwärmung eigentlich am relevantesten wäre.

Doch auch die Aussagen des WG1-Berichts bieten eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Politik: Von fünf untersuchten Hauptszenarien durchbrechen drei das 1,5- und das 2-Grad-Ziel des Pariser Abkommens von 2015. Sogar die beiden optimistischen führen zu einer Erderwärmung von mehr als 1,5 Grad gegenüber dem Beginn der Industrialisierung, stabilisieren den Temperaturanstieg aber unterhalb von 2 Grad. Einzig das Szenario SSP1-1.9 würde wahrscheinlich unter 1,6 Grad bleiben, es ist verbunden mit einem drastischen Ausstieg aus fossilen Energien, der spätestens ab der COP26 in die Wege geleitet werden müsste.

Der sechste WG1-Bericht enthält auch erstmalig ein Kapitel über Wetterextreme, wie der Informationsdienst Carbon Brief in seiner detaillierten Analyse hervorhebt. Die Fortschritte der vergangenen zehn Jahre in der Attributionsforschung ermöglichen dem Team von IPCC-Wissenschaftler*innen, den Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und der größeren Häufigkeit von extremen Wetterereignissen als „etablierte Tatsache“ zu qualifizieren. Außerdem geht der Bericht davon aus, dass diese Auswirkungen des Klimawandels mittelfristig nicht umkehrbar sind, selbst wenn der CO2-Ausstoß auf null gesenkt und die Erderwärmung gestoppt wird. Auch der Anstieg des Meeresspiegels wird sich noch über das Jahr 2100 hinaus fortsetzen, in den optimistischen Szenarien allerdings wesentlich langsamer als in den anderen.

Wenn der Eisschild kippt

Das alles ist nicht neu für die, die sich mit dem Klimawandel befasst haben – allerdings sind die wissenschaftlichen Prognosen in vielen Fällen verbindlicher, als sie es zuvor waren. Eigentlich ist es der nächste Bericht, geplant für Ende des Jahrzehnts, der Neuland betreten kann: Wenn er nämlich gegebenenfalls die Dimension der Klimakatastrophe determinieren muss, weil die Menschheit dabei gescheitert ist, die Erderwärmung aufzuhalten.

Besondere Beachtung verdienen die Aussagen des Berichts über die sogenannten Kippelemente (tipping points) des Erdklimasystems. Dabei handelt es sich um Systeme, die nicht linear auf die Erderwärmung reagieren, sondern ab einem bestimmten Punkt abrupt in einen anderen Zustand wechseln, was zu quasi unumkehrbaren Veränderungen führt. Ein Beispiel hierfür ist der grönländische Eisschild, dessen Abschmelzen sich nach dem Jahr 2000 plötzlich beschleunigt hat. Allerdings hält der WG1-Bericht es für unwahrscheinlich, dass die Schmelze sich so beschleunigt, dass der Schild wirklich binnen ein paar Jahrzehnten verschwindet.

Im westantarktischen Eisschild sehen die Autor*innen dagegen ein authentisches Kippelement, dessen Reaktion insbesondere in Szenarien oberhalb von 3 Grad kaum vorhersagbar ist und katastrophal sein könnte (online-woxx: Die Antarktis schmilzt weg). Neue Aufmerksamkeit wird dem Amazonas zuteil: Durch die Entwaldung und den Temperaturanstieg könnte ein Kipppunkt überschritten werden, ab dem sich die Zone in eine Savanne verwandelt. Allerdings ist die Modellisierung eines solchen Systems so komplex, dass diese Aussagen derzeit mit großer Unsicherheit behaftet sind.

Und was, wenn der Golfstrom kippt? Beginnt dann in Europa eine neue Eiszeit, wie im Katastrophenfilm The Day After Tomorrow (2004)? Sicher nicht – der Einfluss des warmen Golfstroms auf die Temperaturen in Westeuropa ist eher gering. Sein Wegfallen dürfte nicht einmal reichen, um den vom Treibhauseffekt verursachten Temperaturanstieg zu kompensieren. Womit der Film aber wohl richtig lag, ist, dass es sich beim Golfstrom um ein Kippelement handelt. Genauer gesagt ist es die Nordatlantische Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC), von der der Golfstrom nur ein Teil ist, die potenziell in ein anderes Zirkulationsmodell übergehen kann.

Es geht bergauf? Die Prognosen für eine anhaltende Erderwärmung sind fast gleich geblieben. Doch bestimmte Erkenntnisse des neuen IPCC-Berichts lassen aufhorchen. (Wikimedia; Rcraig09, Ed Hawkins; CC BY-SA 4.0)

AMOC und Kollaps

„Der Golfstrom wird schwächer, verschwindet aber nicht“, heißt es beruhigend in den „Frequently asked questions“ des WG1-Berichts. Liest man im Detail nach, so erfährt man, dass sich die Wissenschaftler*innen aber nur „mittelsicher“ sind, dass die AMOC nicht vor 2100 kollabiert. Noch beunruhigender, wie Carbon Brief unterstreicht: Sollte es zu einem Kollaps kommen, so würden sich Wetterverhältnisse und Wasserkreislauf rund um den Atlantik drastisch verändern. Und weil die AMOC Teil der weltumspannenden thermohalinen Zirkulation ist, einer Art ozeanischem Förderband, das Wärme und Salze über die Weltmeere verteilt, wären weltweit destabilisierende Auswirkungen auf das Klima zu erwarten.

Eine neue Studie des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, die im WG1-Bericht noch nicht berücksichtigt ist, belegt, dass die AMOC durch die Erderwärmung nicht nur abgeschwächt wird, sondern als System an Stabilität verliert. Der Guardian zitiert den Autor Niklas Boers, der erläutert, der exakte Kipppunkt für die AMOC sei unbekannt, doch „deswegen ist alles, was wir tun können, die CO2-Emissionen so niedrig wie möglich zu halten“.

In der Tat: Der wissenschaftliche Beleg dafür, dass ein System in einen anderen Zustand wechseln, also kippen kann, bedeutet nicht, dass sich die Eckwerte des Systems bestimmen lassen. Weil die Klimatologie keine experimentelle Wissenschaft ist, sind bei komplexen Systemen grundsätzlich nur vage, qualitative Aussagen möglich. Ihre Reaktion bleibt weitgehend unvorhersagbar, auch die kleinste zusätzliche Störung kann destabilisierend wirken. Erst nachdem ein Zustandswechsel eingetreten wäre, ließen sich wohl quantitative Aussagen über das AMOC-System machen. Die Menschheit wäre dann um eine wissenschaftliche Erkenntnis reicher, müsste aber mit den Folgen des „Experiments“ fertigwerden.

Reaktionen des Climate Action Network auf online-woxx zusammengefasst: Letzte Warnung

 


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