Eine Radiosendung gegen das Vergessen: Iwwert d’Maueren ewech

Im Januar 1990 startete der Piratensender Radio RadAU Lëtzebuerg eine Musikwunschsendung, die bis heute einzigartig ist: jeden Freitag kamen Musikwünsche und Grüße ausschließlich von Gefangenen und deren Angehörigen. 35 Jahre lang war Jeannot Schmitz die Stimme der Sendung. Er hat Musikwünsche entgegengenommen, moderiert und sich für die Inhaftierten engagiert. Diesen Freitag sendet er zum letzten Mal.

Jeannot Schmitz sendet diesen Freitag zum letzten Mal. (Copyright: Radio Ara)

woxx: Was hat Sie vor 35 Jahren dazu bewegt, die Musiksendung „Iwwert d’Maueren ewech“ als Bindeglied zwischen den Inhaftierten „drinnen“ und ihren Angehörigen „daußen“ zu gründen?

Jeannot Schmitz: Der Radiosender Radau Lëtzebuerg, der später zu Radio Ara wurde, wurde unter anderem gegründet, um denjenigen Menschen eine Stimme zu geben, die in den offiziellen Medien damals kaum zu Wort kamen. Das betraf Themen wie die Dritte Welt, die Frauen-, Umwelt-, und Jugendbewegung. Im Oktober 1989 schrieb dann ein Häftling aus dem Gefängnis Schrassig dem Radio, weil er eine bestimmte Musik hören wollte. Zu der Zeit gab es zum Thema Gefängnis nur eine Gerichtschronik auf RTL. Die teilte allerdings nur mit, wer was verbrochen hatte und wie das Urteil lautete. Mehr bekamen die Leute draußen nicht vom Gefängnis mit. Das hinter den Mauern waren die Bösen, die bekamen ihre Strafe und weiter gab es keine Diskussion. Ich hatte mir schon vor dem Brief Gedanken gemacht, wie man das Thema anders angehen könnte, um den Leuten begreiflich zu machen, dass jemanden wegsperren das Problem nicht wirklich löst, sondern nur zeitlich verschiebt. Irgendwann werden die Menschen ja wieder entlassen und das Problem ist danach häufig sogar noch größer als vorher. Als der Brief in den Sender kam, hatte ich die Idee, eine Musiksendung zu machen, die ausschließlich mit Musikwünschen von Gefangenen zusammengestellt wird.

Ich habe also zurückgeschrieben und gefragt, ob er noch andere Gefangene dazu bewegen könnte uns ihre Wünsche zu schreiben. Zu der Zeit gab es noch eine Gefängniszeitung, die von den Gefangenen selbst gestaltet und gedruckt wurde. Auch mit denen nahm ich Kontakt auf. Im Januar 1990 sendeten wir zum ersten Mal. Das war zu Anfang eine reine Musik- und Grußsendung. Die Menschen im Gefängnis hatten damals nur vier Stunden Besuchszeit im Monat, das verlieh der Sendung Gewicht, weil sie eine zusätzliche Verbindung nach draußen darstellte.

Irgendwann werden die Menschen ja wieder entlassen und das Problem ist danach häufig sogar noch größer als vorher.

Nach ein paar Monaten wurde in der Sendung auch das Thema an sich aufgegriffen und diskutiert. Was heißt es, im Gefängnis zu sein? Was bedeutet es, nur auf Besuch zu gehen? Oder wenn ein Partner im Gefängnis ist und der andere draußen? Wie geht es den Angehörigen hier draußen? Die sind immer auch betroffen. Als das ein bisschen mehr thematisiert wurde und auch ehemalige Gefangene oder Inhaftierte, die auf Freigang waren, in die Sendung kamen und die Angelegenheit kritischer beleuchteten, wurde die Gefängnisverwaltung irgendwann hellhörig und verbot den Kontakt zum Radio.

Wie haben Sie diese Zeit dann überbrückt?

Es findet sich immer ein Weg. *lacht* Als Grund für den Kontaktverbot wurde von offizieller Seite angeführt, dass der Sender Radio Radau illegal war. Zu dem Zeitpunkt hatten wir bereits den Verein „Info Prisong“ gegründet, der aus der Sendung heraus entstand. Mit Mitgliedern des Vereins durfte weiterhin kommuniziert werden, al-lerdings nur in einem offenen Brief, sodass die Gefängnisleitung alles mitlesen konnte. Zum Glück gab es aber einige Abgeordnete im Parlament, die uns unterstützt haben. Wir konnten den Gefangenen sagen: „Schreibt eure Briefe direkt an die Abgeordneten.“ Die Abgeordnetenpost darf nämlich nicht von der Gefängnisverwaltung geöffnet werden. Die Gefangenen schickten ihre Grüße also an die verschiedenen Abgeordneten und diese gaben die Post an uns weiter. Später hatten wir mit Radio Ara dann eine legale Basis. Somit konnten die Menschen direkt telefonisch zu uns Kontakt aufnehmen.

Gab es ein Feedback, das Ihnen gezeigt hat, wie wichtig diese Arbeit ist?

Das gab es über die ganzen Jahre eigentlich laufend. Die Leute haben uns oft direkt im Brief oder am Telefon gedankt und gesagt, wie gut es ist, dass es uns gibt, weil sie durch uns den Kontakt zu Familie oder Freundschaften nach draußen haben. Manche kamen auch nach ihrer Entlassung zu Besuch ins Studio. Auch wenn Angehörige ins Studio kamen, war es eigentlich immer etwas Besonderes. Manchmal auch heikel, aber immer besonders.

Das Problem ist für eine Zeit gelöst, aber für das Danach ist eigentlich immer noch keine Lösung vorgesehen.

Gibt es einen Moment, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Es gibt eine besondere Geschichte, noch aus den Piratenzeiten des Radios: 1984 wurden die Menschen aus dem ehemaligen Gefängnis im Grund nach Schrassig umquartiert. Und die haben damals alles an Inventar mitgenommen. Auch das Geschirr. Zu Zeiten von Radau, bekamen wir mit, dass im Frauenblock immer noch von den alten Tellern gegessen wurde, auf denen hintendrauf ein Hakenkreuz abgebildet war. Wir haben das dann als Aufhänger genommen, um klarzumachen, dass auch von dieser Mentalität noch etwas im Gefängnis übriggeblieben war. Das traf besonders auf den Frauenblock zu, denn die inhaftierten Frauen wurden klar benachteiligt. Weniger Sport, weniger Ausbildungsmöglichkeiten, weniger Arbeitsmöglichkeiten außerhalb sogenannter typischer Frauenberufe, wie Näharbeiten oder ähnlichem. Die Geschichte mit den Tellern wurde für die inhaftierten Frauen zu einem Riesen-Erfolgserlebnis, weil die Hauptverantwortlichen des Frauenblocks dann sämtliche Teller einsammeln und draußen auf dem Hof kurz und klein schlagen mussten.

Welche Veränderungen haben Sie während Ihrer Zeit als Moderator und Aktivist im luxemburgischen Strafvollzug beobachtet?

Ich glaube, der Hauptpunkt ist, dass die Betreuung der Gefangenen wesentlich verbessert wurde. Zu Anfang war nur ein Sozialarbeiter für das gesamte Gefängnis in Schrassig zuständig. Dazu lediglich ein Psychiater, der hauptsächlich Pillen verschrieben hat. Das in einem Gefängnis, das viel mit Überbelegung zu kämpfen hatte und zeitweise 500 bis 600 Gefangene betreute. Das ist heute besser. Jetzt arbeitet dort ein ganzes Team von Sozialarbeitenden, und auch die medizinische Abteilung wurde verstärkt. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Verbesserung von schulischen Weiterbildungsmöglichkeiten für die Inhaftierten. Trotzdem glaube ich, dass es selbst mit der besseren Betreuung im Gefängnis heute schwieriger, mindes-tens aber genauso schwierig, ist, eine Arbeit und eine Wohnung zu finden, als vor 30 Jahren.

Die Probleme hier draußen, haben sich aber nicht nur für Ex-Inhaftierte verschlechtert, sondern für die gesamte Bevölkerung. Das hebt alles was drinnen an Betreuung gemacht werden kann, teilweise wieder auf. Im Gefängnis mag die Realität besser geworden sein; hier draußen jedoch nicht. Dieser Aspekt fehlt in der Diskussion. Die Gesellschaft ist sich nicht bewusst, dass die Leute ja auch wieder rauskommen. Das Problem ist für eine Zeit gelöst, aber für das Danach ist eigentlich immer noch keine Lösung vorgesehen.

Der erste Brief mit Musikwünschen erreichte Jeannot Schmitz 1989. (Copyright: Radio Ara)

Heute läuft die letzte Sendung. Gibt es jemanden, der das Projekt in irgendei-ner Form fortführt?

Dieses Projekt ist mit der Sendung heute abgeschlossen. Aber ich glaube, dass immer, wenn irgendwas aufhört und die Notwendigkeit weiter besteht, dann entsteht eine Lücke, die Platz für etwas Neues schafft. Als sich 2007 der Verein „Info Prisong“ aufgelöst hat, waren in der Zwischenzeit, auch mithilfe des Vereins, verschiedene andere Organisationen und Gremien entstanden, die sich dem Thema annahmen. Das waren Menschenrechtsorganisationen, der Ombudsmann und noch andere mehr. Mittlerweile gibt es auch den Verein „Eran, Eraus an elo?“, der inhaftierte Menschen informiert und begleitet. Daran sieht man, wenn es Notwendigkeit gibt, entsteht auch irgendwann wieder etwas. Vielleicht entsteht nach dem Ende der Sendung „Iwwert d’Maueren ewech“, in ein oder zwei Jahren eine Gefängniszeitung oder ein anderes Medium. Es ist immer gut, an der eigenen Abschaffung zu arbeiten. Es gibt natürlich auch andere Faktoren, weshalb ich jetzt aufhöre. Ich mache das seit 35 Jahren und will irgendwann auch einen Schlussstrich ziehen. Die Sendung lief jeden Freitag. Immer live, denn bei dieser Art von Sendung kann ich nichts im Voraus aufnehmen und muss auch vor Ort sein.

Glauben Sie, die Gesellschaft beschäftigt sich genug mit den Bedürfnissen von Gefangenen?

Nein, die Gesellschaft beschäftigt sich überhaupt nicht damit, weil ein Großteil immer noch auf dem Punkt ist zu glauben, dass jemand, der die Regeln bricht, einfach hart bestraft werden muss. Ich glaube, dieses Denken ist auch heute mehrheitlich in der Gesellschaft verankert. Da liegt noch viel Arbeit vor jedem, der sich mit dem Thema beschäftigt. Man muss den Menschen klarmachen, dass derjenige, der sich nicht an die Regeln hält, einen Grund dafür hat. Diese Gründe müssen erkundet werden, um zu verstehen warum es passiert. Das soll nichts entschuldigen, aber das gehört zur Präventivarbeit. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das hat mit der Organisation unserer Gesellschaft, mit dem System und wie es funktioniert, zu tun. Nach welchen Werten funktioniert dieses System? Das hat zum Beispiel auch mit Arbeitszeiten zu tun. Wenn die Leute nur noch arbeiten und keine Zeit mehr für ihre Kinder haben, können sie denen auch nichts Positives vermitteln. Das ist nicht nur eine Aufgabe für das Justizministerium in einer Regierung. Das ist eine Fragestellung, die eine ganze Regierung betrifft, weil ressortübergreifend gehandelt werden muss um das Problem anzugehen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Gefängnisse in Luxemburg? Die Abschaffung?

Nein, das wäre utopisch. Ich glaube nicht, dass Menschen dazu fähig sind, perfekte Menschen zu sein. Und deshalb glaube ich nicht, dass wir Gefängnisse ganz abschaffen können. Wir brauchen für verschiedene Leute eben auch diese Lösung auf Zeit. Wie sie währenddessen behandelt werden, ist eine ganz andere Diskussion. Was im Gefängnis geschieht, wie die Zeit dort genutzt wird, ist ein großes Thema. Das hängt vor allem mit der Betreuung zusammen, mit den Aussichten, die man hat, wenn man wieder rauskommt. Ganz konkret fehlt in Luxemburg zum Beispiel eine Art Übergangsmöglichkeit, sodass man Menschen, die rauskommen, sagen kann: „Wir müssen dich jetzt nicht in irgendeinem winzigen Zimmer auf dem zweiten Stock über einem Café einquartieren, sondern wir haben eine Lösung, wo du in einer Wohngemeinschaft mit festen Regeln wohnst. Hier kannst du einfach für die nächsten drei bis sechs Monate zur Ruhe kommen und dich organisieren.“ In so einer Übergangsstruktur, hätte die Person dann Zeit, eine Arbeit und eine eigene Wohnung zu finden. Es gibt verschiedene Foyers, die auch Ex-Gefangene integrieren, aber das reicht noch lange nicht.


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