Ernährung: Alles im grünen Bereich?

Allzu lange wird es nicht mehr dauern bis hierzulande eine neue Nährwertkennzeichnung für Lebensmittel eingeführt wird. Sie soll Verbraucher*innen beim Einkauf helfen. Dabei ist die Methode alles andere als perfekt.

Der Nutri-Score soll helfen, sich gesünder zu ernähren. Aber tut er das wirklich? (© National Cancer Institute)

In Frankreich, Belgien, Portugal und Spanien gibt es ihn bereits, in Deutschland wird er bald eingeführt und auch in Luxemburg wird er nun breitflächig gefordert. Die Rede ist vom Nutri-Score (Abb. 1).

Dabei handelt es sich um ein fünfstufiges Ampelsystem, das Produkte anhand von Buchstaben und Farben bezüglich ihrer Nährwertqualität einordnet: Ein dunkelgrünes A ist die beste, ein rotes E die schlechteste Bewertung. Insgesamt werden sieben Stoffe in die Berechnung einbezogen: Kalorien, Zucker, gesättigte Fette, Salz, Obst und Gemüse, Ballaststoffe und Proteine.

Mit diesem System sollen Kaufentscheidungen erleichtert werden: Wo vorher eine mühselige Begutachtung der tabellarischen Nährwertangabe nötig war, reicht, dank Nutri-Score, ein kurzer Blick aus. Es geht aber nicht nur um die Einfachheit, sondern auch um die Signalwerbung, ist der Nutri-Score doch eine Methode, mithilfe derer Regierungen versuchen Hochgewicht und Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren.

In Luxemburg ist das Ministerium für Verbraucherschutz zurzeit bezüglich dieser erweiterten Nährwertkennzeichnung mit dem Industrieverband Fedil, der Handelskammer sowie Ernährungswissenschaftler*innen im Gespräch. Anders als etwa in Frankreich oder Deutschland, wo die Kennzeichnung als umstritten gilt, scheinen alle luxemburgischen Akteure dem Vorhaben gegenüber bisher positiv eingestellt zu sein.

So teilte etwa letzte Woche der Konsumentenschutz (ULC) in einem Schreiben seine ausdrückliche Befürwortung mit. Verbraucher*innen wünschten sich mehr Transparenz und Sicherheit beim Kauf von Lebensmitteln. Der Nutri-Score liefere eine solche gesundheitliche Einschätzung. Voraussetzung sei, wie der ULC schreibt, jedoch eine strikte Kontrolle der jeweiligen Angaben.

Auch die Patiente Vertriedung drückte letzte Woche zum wiederholten Mal ihre Befürwortung aus. Sie bedauert allerdings, dass die Anwendung des Systems auf Freiwilligkeit basiere, und fordert in diesem Kontext die zuständigen Minister*innen und Europaabgeordneten dazu auf, sich für eine europaweite verpflichtende Einführung des Nutri-Score einzusetzen.

Abb. 1

Was bringt’s?

Bezüglich der vom ULC geforderten Kontrolle betonte Paulette Lenert, Ministerin für Verbraucherschutz, am Montag auf RTL-Radio, dass die Ampelkennzeichnung derselben Überprüfung unterliege wie jede andere Form der Produktbeschriftung auch. Der Nutri-Score könne erst dann verpflichtend werden, wenn die EU eine entsprechende Verordnung verabschiedet habe. Dies scheiterte aber bisher an der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten.

Unter den bestehenden Kennzeichnungsmethoden ist der Nutri-Score sowohl bei Expert*innen wie auch bei Konsument*innen eine der beliebtesten. Eine an den Universitäten Paris, Grenoble und Borbigny durchgeführte Studie kam im August zu dem Ergebnis, dass eine flächendeckende Einführung des Nutri-Score dazu beitragen könnte, eine Vielzahl an ernährungsbedingten Krankheiten zu verringern. Die Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen würden um 3,4 Prozent sinken. An der Studie war auch die Forscher*innengruppe beteiligt, die den Nutri-Score entwickelt hat.

Der Vorteil gegenüber manch anderer Methode ist leicht zu erkennen. Das „Multiple-Traffic-Lights“-System (siehe Abb. 2) sieht beispielsweise Mengenangaben bezüglich Zucker, Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz pro Gramm beziehungsweise Milliliter in den jeweiligen Produkten vor. Je nach Menge wird die Angabe mit einer Farbe versehen: Dunkel- und Hellgrün bei geringer Menge, Orange und Rot bei hoher und Gelb, wenn der Wert irgendwo dazwischen liegt. Bestimmte Mengen sind immer im roten Bereich (mehr als 22,5 Gramm Zucker pro 100 Gramm zum Beispiel), andere immer im grünen (etwa weniger als 3,0 Gramm Fett pro 100 Gramm).

Anders als beim Nutri-Score wird also kein durchschnittlicher Wert ausgerechnet. Es bleibt den Konsument*innen selbst überlassen einzuschätzen, inwiefern sich der Kauf eines Lebensmittels lohnt, das in puncto Zucker grün, bei Salz orange und bei Fett rot bewertet wurde. Dieses Ampelsystem hat aber noch weitere Nachteile: Einerseits vermittelt es nicht, wie es um andere Inhaltsstoffe als die vier oben genannten steht. Andererseits suggeriert es, dass Salz, Zucker und Fett gleichermaßen schlecht für die Gesundheit sind. Dabei legen zahlreiche Studien nahe, dass zum Beispiel Zucker das Krankheitsrisiko deutlich stärker erhöht als Fett. Unabhängig davon könnte es einigen Konsument*innen den Eindruck vermitteln, dass es sich bei Zucker, Salz und Fett allesamt um „böse“ Nährstoffe handelt, die um jeden Preis zu vermeiden sind.

Der Nutri-Score seinerseits vermeidet eine solch explizite Einteilung von Inhaltsstoffen in „gut“ und „böse“ – auch wenn sie natürlich implizit ein Teil der Berechnung ist. Darüber hinaus lässt der Nutri-Score keinen Interpretationsspielraum zu. Die Entscheidung, wie die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe insgesamt zu bewerten ist, wird den Konsument*innen abgenommen. Anders als bei den „Multiple-Traffic-Lights“ wird durch die Einbeziehung von sieben Inhaltsstoffen ein stärkerer Fokus auf eine ausgewogene Ernährung gelegt.

Abb. 2

Illusion der Transparenz?

Aus welchen konkreten Berechnungen sich der Endwert ergibt, erfahren Konsument*innen anhand der Skala allerdings nicht. Wer wirklich informierte Kaufentscheidungen treffen will, wird sich demnächst eingehend mit der Nutri-Score-Methode auseinandersetzen oder aber doch die komplexere Nährstofftabelle konsultieren müssen. Nur so kann etwa herausgefunden werden: Ist ein Produkt gelb markiert, weil sämtliche der sieben Inhaltsstoffe nur in geringem Maße vorhanden sind – wie etwa bei Mehl oder Haferflocken –, oder weil es viel Zucker und Fett, aber nur wenig Vitamine und Proteine enthält? Heißt Dunkelgrün, dass das Produkt überhaupt keinen Zucker, kein Fett oder Salz enthält oder enthält das Produkt vielmehr derart viele Vitamine und Proteine, dass der Einfluss von Zucker und Co. aufgewogen wird? Fällt unter Zucker nur beigefügter Zucker oder auch Fruchtzucker und Kohlenhydrate? Wird bei der Berechnung ein Unterschied zwischen den einzelnen Zuckerarten gemacht? Immerhin unterscheiden sich deren Wirkungen auf den Organismus stark voneinander. Eine weitere Frage, die Konsument*innen überlassen bleibt: Ist es besser zwei Produkte im orangen Bereich zu kaufen oder doch lieber eines im grünen und eines im roten?

Wer den Nutri-Score als transparent bezeichnen will, muss sämtliche dieser Fragen ausblenden. Ähnlich einer Notenbewertung in der Schule wird durch dieses Ampelsystem die Illusion von Objektivität und Simplizität erzeugt, die aufgrund der Komplexität der Sachlage überhaupt nicht möglich ist. Davon abgesehen suggeriert die Kennzeichnung, dass sie das Produkt als ein Ganzes bewertet. Dabei fließen etwa Geschmacksverstärker, Süß-, Farb- und Konservierungsstoffe nicht in die Bewertung ein. Ebenso wenig die Frage, ob das Produkt aus biologischem Anbau stammt oder der Umstand, dass für jeden Menschen gesunde Ernährung ein wenig anders aussieht – abhängig von Genen, eventuellen Krankheiten, Verbrauch und ähnlichem.

Einige Ernährungswissenschaftler*innen wie etwa Eva Maria Enders sehen das System aus genau diesen Gründen kritisch. Deutschlandfunk Kultur gegenüber erklärte sie im September, dass sie es als sinnlos erachte, gesunde Ernährung auf einzelne Lebensmittel zu reduzieren. Immerhin komme es auf die Gesamtheit der Ernährung an. In der Tat fließt in den Nutri-Score nicht ein, welche Nährstoffmenge die jeweiligen Konsument*innen am entsprechenden Tag oder der entsprechenden Woche bereits zu sich genommen haben.

Tricksereien vorgeplant?

Der Nutri-Score bringt das Risiko mit sich, dass Konsument*innen zwar weniger Lebensmittel im roten oder orangen Bereich kaufen, dafür aber umso mehr solche im grünen oder gelben. Es könnte also sein, dass nicht nur rot markierte Produkte, wie etwa auch Butter oder Olivenöl, als „um jeden Preis zu vermeiden“ wahrgenommen werden, sondern grün markierte zudem als „kann in beliebigen Mengen verzehrt werden“.

Eine Frage, die sich vor allem bezüglich Zucker stellt, ist die, welche Mittel gegebenenfalls eingesetzt wurden, um einer roten Kennzeichnung zu entgehen. So wird etwa das Süßungsmittel Isoglukose nicht vom Körper gespeichert und erhöht das Krankheitsrisiko stärker als herkömmlicher Zucker. Da Isoglukose jedoch nicht unter die Kategorie Zucker fällt, kann es in beliebigen Quantitäten in Getränken, Süßigkeiten oder Fertiggerichten enthalten sein, ohne dass sich dadurch etwas am Nutri-Score ändert. Daran wird auch deutlich, dass das Ampelsystem Hersteller dazu ermutigen könnte, die jeweiligen Werte durch ein leichtes Erhöhen der Menge oder Hinzufügen von Zusatzstoffen so zu reduzieren, dass sie just unterhalb der roten Grenze liegen. Es besteht zudem das Risiko, dass nur solche Hersteller die Kennzeichnung – deren Anwendung ja auf Freiwilligkeit beruht – einführen, deren Produkte in der Bewertung gut abschneiden. Zurzeit weigern sich Marken wie Coca-Cola, PepsiCo, Nestlé und Unilever, Nutri-Score zu verwenden.

Aus diesen Gründen ist es irreführend, wenn gesagt wird, die Ampelkennzeichnung helfe, gesunde von ungesunden Lebensmitteln zu unterscheiden. Der Nutri-Score tut nicht mehr und nicht weniger als Konsument*innen Hinweise zu geben, die ihnen anhand der ausführlichen Etikette weniger leicht zugänglich sind. Es wäre also nur fair den Konsument*innen gegenüber, das System auch dementsprechend zu bewerben. Immerhin vermittelt es nur einen Bruchteil der Informationen, die notwendig sind, um eine hundertprozentig faktenbasierte Kaufentscheidung treffen zu können. Methoden wie diese erreichen zudem tendenziell vor allem solche Bevölkerungsgruppen, die sich ohnehin schon stark mit ihrer Ernährungsweise auseinandersetzen.

Eine Kennzeichnung wie Nutri-Score wäre nicht notwendig, wenn der Fett-, Zucker- und Salzgehalt von Produkten EU-weit stärker reguliert wäre. Stattdessen wird die Verantwortung den Konsument*innen überlassen, denen unterstellt wird, Lebensmittel nicht selbst einordnen zu können. Dabei ist das eigentliche Problem nicht, dass viele annehmen würden der Nährwert einer Schokoladentafel sei der gleiche wie der einer Banane. Was eine korrekte Einschätzung schwierig macht, ist, wenn beispielsweise Zucker in Lebensmitteln enthalten ist, bei denen Konsument*innen dies nicht unbedingt erwarten. So etwa in Kräckern, Fertiggerichten, Brot oder Soßen. Wichtig wäre ebenfalls konsequenteres Wissen darüber zu vermitteln, welche Lebensmittel welche Nährstoffe enthalten und wie diese sich auf den Körper auswirken, und wie eine ausgewogene Ernährung aussieht.

Fest steht: der Nutri-Score ist kein Wundermittel. Die Regierung wird also nicht daran vorbeikommen, neben dem Nutri-Score noch weitere Maßnahmen einzuführen, wenn sie konsequent sein will.


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