Exit-Strategie: Über das Recht, mental auf ein Worst-Case-Szenario vorbereitet zu werden

Im Umgang mit der Krise äußert sich die luxemburger Regierung zurzeit nur ungern über den Zeitraum von wenigen Wochen hinweg. Langfristig könnte das sowohl ihrer Glaubwürdigkeit als auch der Kooperationsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung schaden.

Quelle: Pxfuel

In einem Interview mit dem Lëtzebuerger Land äußerte sich Gesundheitsministerin Paulette Lenert vergangene Woche mit ungewohnt deutlichen Worten zu dem, was noch auf uns zukommen könnte. Sie sprach von „gewaltigen Herausforderungen“ und kündigte an, dass uns eine „verdammt schwierige“ Zeit bevorstehen könnte. Dass Restriktionen noch für mehrere Jahre notwendig seien, hält sie jedoch für unrealistisch.

Es ist ein Drahtseilakt: Auf der einen Seite sollen keine falschen Hoffnungen geschürt, auf der anderen aber auch keine Panik verbreitet werden. Dabei gibt es nicht nur das eine und das andere Extrem, sondern vor allem den Graubereich dazwischen. Davon abgesehen befinden wir uns in einer beispiellosen Situation – es kann lediglich darüber spekuliert werden, wie die breite Öffentlichkeit auf welche Kommunikationsstrategie reagieren wird. Würde nächste Woche angekündigt, dass die Ausgangsbeschränkungen noch für weitere drei Monate gelten, würde sich wahrscheinlich recht schnell Unmut verbreiten. Doch wäre es für die allgemeine Stimmung wirklich so viel besser, die Beschränkungen würden häppchenweise alle vier Wochen um einen weiteren Monat verlängert?

Es wurde in den vergangenen Jahrzehnten verpasst, sich präventiv auf das Worst-Case-Szenario einer globalen Pandemie vorzubereiten. Umso wichtiger ist es, dass der Worst Case jetzt in Erwägung gezogen wird. Jetzt, da sich die Frage, wie eine steile Kurve und damit die Überlastung unseres Gesundheitswesens vermieden werden kann, nicht mehr mit der gleichen Dringlichkeit stellt, ist es ein anderer Worst Case, der ernsthaft in Erwägung gezogen werden muss: Was, wenn strenge Maßnahmen noch viele Monate durchgesetzt werden müssen, damit die Kurve flach bleibt?

In Vorbereitung der für diese Woche angekündigten Exit-Strategie gehen die Regierungsvertreter*innen und ihre Berater*innen zurzeit ohne Zweifel unzählige Optionen und Handlungsverläufe durch. Von welchen Lockerungen geht das geringste Risiko aus? Welche Läden könnten wann wieder öffnen? Was, wenn die Dunkelziffer an Infizierten hoch ist? Was, wenn sie sehr niedrig ist? Bevor die Regierung der Öffentlichkeit das angekündigte Stufenmodell präsentiert, sollte sie für jede dieser Fragen eine Antwort parat haben – wenn auch eine rein hypothetische, sind zuverlässige Prognosen zurzeit ohnehin nicht möglich. Es wird notwendig sein, ein Best-Case-Szenario, ein Worst-Case-Szenario sowie zahlreiche dazwischen liegende Szenarien durchzugehen.

Was im Land-Interview auffällt, ist, dass Lenert mehrmals von einer „Rückkehr zur Normalität“ spricht. Auch wenn sie dafür keine Zeitangabe nennt: Zu suggerieren, dass es irgendwann wieder genauso sein könnte wie vor der Pandemie, ist gewagt. Auch wenn es noch nicht absehbar ist, welche langfristige wirtschaftliche, soziale und psychologische Veränderungen die aktuelle Krise nach sich zieht – so wird es doch unweigerlich welche geben.

Noch am Donnerstag sprach der US-amerikanische Immunologe Anthony Fauci die Empfehlung aus, Händeschütteln als soziale Konvention für immer abzuschaffen. So drastisch diese Aussage auch klingt, so erscheint sie doch plausibler als die Vorstellung, dass langfristige Auswirkungen auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktionen völlig ausbleiben werden.

Ein „Zurück zur Normalität“ gibt es einfach nicht. Sicherlich nicht innerhalb der nächsten 12 Monaten: In einem am 2. April veröffentlichten Youtube-Video gibt die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim Erklärungen zur potenziellen Dauer der aktuellen Ausnahmesituation. Zur Strategie, erst einmal abzuwarten wie die aktuelle Maßnahmen greifen und dann weiter zu schauen, sagt sie ganz klar: „Über ein paar Dinge sollten wir jetzt schon ausführlich sprechen.“ Mit Verweis auf Modellrechnungen der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie schätzt die Youtuberin, dass, selbst wenn Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden, manche Maßnahmen noch für weitere ein bis zwei Jahre notwendig sein werden. Konkret würde das heißen, dass in den nächsten zwölf Monaten Großveranstaltungen eher unwahrscheinlich sind, egal ob sportlicher, kultureller oder feierlicher Natur. Nguyen-Kim spricht explizit über die Situation in Deutschland und auch sie kann natürlich nichts mit Sicherheit sagen. Dennoch sollte die wissenschaftliche Grundlage, auf der sie zu ihren Schlussfolgerungen kommt, ernst genommen werden.

Auf solch klare Worte wartet man zurzeit vergebens vonseiten der Regierung. Über den Zeitraum von wenigen Wochen hinaus wird sich nur ungern geäußert. Angesichts der Datenlage handelt es sich dabei jedoch nicht um angemessene Zurückhaltung. Wenn die Regierung ihrer Linie treu bleibt, wird sie beim Exit äußerst langsam und vorsichtig vorgehen – und das ist auch gut so. Dennoch sind klare Worte dringend notwendig. Es kann nicht früh genug damit begonnen werden, die Bevölkerung mental darauf vorzubereiten, dass sie in diesem Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl Club- und Schwimmbadbesuche als auch Schueberfouer und Weihnachtsmärkte knicken kann.

Auch wenn die Pandemie nicht das geschätzte Ausmaß annehmen sollte: Worst-Case-Szenarien sollten nicht ausschließlich hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, jetzt schon von Entscheidungsträger*innen zu erfahren, was ihnen in den nächsten Monaten bevorstehen könnte – und dass sie gut daran täte, sich auf eine neue Normalität einzustellen.

Es ist also zu hoffen, dass uns diese Woche nicht nur ein, sondern gleich mehrere Stufenmodelle präsentiert werden. Oder zumindest klargemacht wird, dass die anvisierte Strategie jederzeit geändert werden könnte, wenn die Infektionen wieder steigen. Sich jetzt schon mental auf ein solches Szenario vorbereiten zu können, ist nicht nur für die langfristige Kooperationsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung unabdinglich, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der Politik.


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