Expedition in den Ruhrpott
: Fettig, aber nett

Es ist ein Reisebericht der anderen Art: Der ostdeutsche Autor Gregor Sander wagt sich auf eine literarische Entdeckungsreise in den Westen – und zwar ausgerechnet dorthin, wo dieser dem Osten am ähnlichsten ist: in den Ruhrpott.

Lenin auf Schalke von Gregor Sander

Vor der ehemaligen Sparkassen-Filiale in Gelsenkirchen-Horst wird das erste Lenindenkmal Westdeutschlands enthüllt. Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) hat das Gebäude aufgekauft. Davor haben sich 300 Nostalgiker*innen versammelt, um die gute alte Zeit hochleben zu lassen.

Wir schreiben das Jahr 2020, vor Putins Überfall auf die Ukraine also, und damit auch ehe Schalke 04 in die zweite Bundesliga absteigen und den Schriftzug des nunmehr ehemaligen Sponsors Gazprom von den Trikots entfernen wird.

Inmitten der Menge der um die Leninstatue Versammelten steht der ostdeutsche Autor Gregor Sander, Jahrgang 1968, und wundert sich. Die Stadt Gelsenkirchen hat gegen das Denkmal geklagt, aber ohne Erfolg. Eine Rednerin beschwört den Sieg des Proletariats. Das Problem ist nur, dass es in Gelsenkirchen kein Proletariat mehr gibt, nur noch „viele arme Leute“: In der ärmsten Stadt Deutschlands fehlt die Arbeit. Gelsenkirchen ist ein „Stadt gewordenes soziales Problem“. In den letzten fünfzig Jahren sind 100.000 Einwohner*innen weggezogen. Zurück blieb viel günstiger Wohnraum.

Sander hätte sich für seine Feldstudie jede andere Stadt aussuchen können, aber er wollte den Westen dort erkunden, wo er dem Osten am ähnlichsten ist. Im Ruhrpott. Der Osten im Westen. Auch wenn Autor und Protagonist denselben Namen tragen, besteht „Lenin auf Schalke“ zu gleichen Teilen aus Wahrheit und Fiktion. Die Leninstatue gibt es wirklich, aber ansonsten lässt Sander offen, ob die Figuren, die er auftreten lässt, real sind oder ausgedacht. In Gelsenkirchen wohnt der Erzähler Sander bei Gabi, der angeblichen Cousine seines besten Freundes. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Gabi, sondern um „Zonengabi im Glück“, die Frau, die nach dem Mauerfall die Titelseite des Satiremagazins „Titanic“ zierte, mit einer geschälten Gurke in der Hand. In Sanders Fantasie wohnt sie heute im ehemaligen Arbeiterviertel Flötz Dickebank und gibt ihrem Schriftsteller-Gast aus Schwerin einen Crashkurs in Sachen Ruhrgebiet.

Dazu gehört natürlich Schalke 04 und fettige Currywurst („Hinrichtung mit roter Soße“) oder die ehemaligen Zechen, die man zu Touristenattraktionen umfunktioniert. Während im Osten alles abgerissen wurde, was nach DDR aussah, hat man im Ruhrpott sogar die Abraumhalden der Zechen aufbewahrt und Aussichtstürme drauf gebaut. Aber Gelsenkirchen, das ist auch die mehr oder minder erfolgreiche Kohabitation von 130 Nationalitäten.

Und die Büdchen. Gabis Freund Ömer betreibt schon seit Jahrzehnten ein solches Büdchen, also eine Trinkhalle. Sein Vater kam einst aus der Türkei nach Deutschland und arbeitete in der Zeche. Unter Tage beschwor er die Solidarität der Bergleute, aber nachher beim Duschen spotteten die „Kartoffeln“ über die Türken, die mit Unterhose unter die Brause traten. Ob Ömer Deutschland oder die Türkei als seine Heimat empfinde? „Die Trinkhalle ist meine Heimat.“

Die Leninstatue gibt es wirklich, doch ansonsten lässt Sander offen, ob die Figuren, die er auftreten lässt, real sind oder ausgedacht.

(Bildquelle: Wikimedia/CC-BY-SA-4.0)

Drei Monate mit Unterbrechungen verbrachte der Autor in der Stadt. In einem Fernsehinterview gab er zu, dass die Zeit womöglich zu kurz war, um wirklich Tiefgründiges zutage zu fördern. Das Personal, das er auftreten lässt, wirkt in der Tat beinahe wie gecastet. Die ältere Dame zum Beispiel, die auf dem Schalker-Fan-Feld (einem Friedhof nur für Anhänger*innen der Königsblauen) ein Bierchen aus der Baumwolltasche zieht und auf den verstorbenen Liebhaber trinkt.

„Liebenswert schrullig“ sollen sie sein, die präsentierten Charaktere, aber die Liebe kommt manchmal ein wenig zu kurz. Obwohl Sander wortgewandt ist und Situationen plastisch beschreibt, reizt er leider oft lediglich das komische Potenzial seiner Protagonist*innen aus. Und verschätzt sich dabei auch mal, zum Beispiel wenn er die osteuropäischen Frauen beschreibt, die vor dem Bahnhof im „Babuschka-Look“ betteln. Wenn es sein Anliegen ist, über Armut zu schreiben, warum begnügt er sich mit dieser saloppen Formulierung, anstatt genauer hinzuschauen und das zu zeigen, was die vorbeihastenden Zugpassagiere nicht sehen?

Wirklich spannend wird das Buch am Ende, als sich Sander mit einer AfD-Politikerin mit Migrationshintergrund unterhält, die ihm erklärt, warum auch Migrant*innen gegen Migration sein können. Hier ist Sander in seinem Element und verlässt die Rolle des Beobachters, um auch Fragen zu stellen, auf die er die Antworten nicht im Voraus kennt. Es entsteht Reibung, plötzlich ist er nah an den Figuren dran, während er bei den Pott-Bewohner*innen die Distanz nie ganz überwinden kann.

Inzwischen wurde Sanders Buch von den aktuellen Ereignissen eingeholt. In Gelsenkirchen hat man den Lenin zwar noch nicht wieder vom Sockel geholt (im hiesigen Mondorf wurde Juri Gagarin zu seinem eigenen Schutz ein- und dann wieder ausgewickelt). „Es ist vorbei mit der Kohle“, sagt Gregor Sander. Sogar das ist nun nicht mehr ganz sicher. Wenigstens die Nostalgiker*innen hätten ein bisschen Grund zur Freude.

Gregor Sander: Lenin auf Schalke. 
Penguin Verlag, 192 Seiten.

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