Gerechte Impfstoffverteilung: Erst das Boostern, dann die Moral?

Der Impfstoff gegen eine Covid-19-Erkrankung ist zu knapp, um nicht allein Risikogruppen flächendeckend zu boostern, so die Weltgesundheitsorganisation WHO. Wichtiger sei ein erstmaliger Impfschutz in ärmeren Ländern. Westlichen Industrienationen scheint es indessen zupass zu kommen, dass es etwa in Afrika logistische Probleme bei der Verteilung gibt.

Impfung gegen eine Covid-19-Erkrankung in einem Krankenhaus in Harare, der Hauptstadt von Zimbabwe: Aktuell haben in dem südafrikanischen Land rund 27 Prozent der Bevölkerung ihre erste Impfdosis erhalten. (Foto: EPA-EFE/Aaron Ufumeli)

„Kein Land kann sich den Weg aus der Pandemie boostern.“ – Zum wiederholten Male wies Tedros Adhanom Ghebreyesus kurz vor Weihnachten darauf hin, dass eine auf die je eigenen nationalen Grenzen beschränkte Impfkampagne gegen eine Covid-19-Erkrankung zum Scheitern verurteilt sei. Jede fünfte verimpfte Dosis weltweit sei derzeit eine Auffrischungsimpfung, so der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zugleich jedoch haben bislang nur knapp 60 Prozent der Weltbevölkerung im Alter von zwölf Jahren und älter wenigstens eine Impfdosis verabreicht bekommen.

Die Verteilung lässt sich klar am Reichtum der jeweiligen Ländern bemessen, wie eine aktuelle Statistik der Zeitschrift „Economist“ zeigt. In Ländern mit einem hohen bis mittleren Bruttonationaleinkommen (BNE) von über 12.500 Dollar bis 4.000 Dollar pro Kopf wurden mehr als 160 Impfdosen pro 100 Personen verabreicht – diese Zahl schließt zweite Dosen und Auffrischungsimpfungen ein. In Ländern mit einem Pro-Kopf-BNE zwischen 4.000 und 1.000 Dollar wurden etwa 85 Dosen pro 100 Personen verabreicht. Länder mit einem noch niedrigeren Einkommen erhielten zwölf Dosen pro 100 Personen.

Doch die aktuelle Situation ist nicht ausschließlich eine Folge der mangelnden Zahlungsfähigkeit der Länder des globalen Südens. Für großangelegte Boosterkampagnen fehlen derzeit laut dem WHO-Chef real noch die Bestände (hierzu unser Online-Artikel „Dritte Impfung oder Dritt-Welt-Impfung?“ von August 2021). Noch mindestens bis zum Ende des ersten Quartals des angebrochenen Jahres stünden – auf die Weltbevölkerung bezogen – allein für Hochrisikogruppen Auffrischungsimpfungen zur Verfügung. Dennoch haben laut der NGO „Oxfam“ die USA, EU und Großbritannien in den sechs Wochen vor Weihnachten gemeinsam mehr Impfstoff erhalten als der afrikanische Kontinent im gesamten Jahr 2021.

Noch ehe das erste Impfmittel gegen das neue Virus zugelassen worden war, deutete sich an, dass die Diskussion um eine gerechte Verteilung der Vakzine im Sande verlaufen würde (dazu unser Artikel „Hoffen aufs Labor“ aus woxx 1603). Auch eine von mehr als hundert Staaten sowie vielen NGOs im vergangenen Jahr lancierte Forderung nach einer zumindest temporären Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe gegen eine Covid-19-Erkrankung wurde von den wohlhabenden Industrienationen nicht unterstützt. Stattdessen setzte man auf die Covax-Allianz. Die von der WHO ins Leben gerufene Initiative soll auch Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen einen kostengünstigen Zugang zu Impfstoff gewähren und lebt nicht zuletzt von den Spenden der reichen Länder. NGOs wie „medico international“ bezeichnen dies als „modernen Ablasshandel“. Die Impfstoffhersteller selbst halten die versprochenen Liefermengen an Covax nicht ein.

Wenig überraschend verhallte auch die Kritik der WHO am flächendeckenden Boostern in den wohlhabenden Nationen und ihren Gesundheitsbehörden ohne Resonanz. „Wir haben sogar einen Teil unserer Covax-Spenden, also internationalen Spenden mit Biontech, jetzt aus Dezember in den Januar und Februar geschoben“, lobte sich Ende November beispielsweise der damals noch amtierende deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn ganz ungeniert für seine Boosterkampagne.

Die meisten der an afrikanische Länder gespendeten Impfstoffe seien bislang „ad hoc, mit kurzer Vorankündigung und kurzer Haltbarkeitsdauer bereitgestellt worden“.

Die Folgen davon betreffen jedoch nicht nur die Menschen etwa in Zentralasien oder in Subsahara-Afrika, wo bislang gerade einmal 0,6 beziehungsweise 0,3 Prozent mit einer zweiten Impfdosis versorgt werden konnten (in ganz Afrika liegt die Quote derzeit bei rund 9,5 Prozent). Auch die globalen Auswirkungen dessen sind bekannt: Umfassende Auffrischungsprogramme werden die Pandemie laut WHO vorläufig „eher verlängern als beenden, da sie den Nachschub in Länder lenken, die bereits eine hohe Durchimpfungsrate haben“. So erhalte das Virus andernorts mehr Gelegenheit, sich zu verbreiten und zu mutieren.

Dieser Argumentation der WHO und ihrem Vorhaben, in jedem Land mindestens 70 Prozent der Bevölkerung zu impfen, wird allerdings bisweilen entgegnet, eine höhere Impfrate sei derzeit im globalen Süden ohnehin nicht realistisch. Andere wiederum stellen die Frage, ob diese Zielsetzung überhaupt überall die dringlichste ist. So bezeichnete der Luxemburger Virologe Claude Muller die Sorge um die mögliche Entstehung neuer Mutationen im vergangenen Sommer gegenüber Radio 100,7 als „eurozentrisches“ Argument. Auch auf dem afrikanischen Kontinent wird Kritik laut, die Bekämpfung der Malaria sowie die Impfung gegen Masern und andere Krankheiten drohe aufgrund der vom Westen priorisierten Bekämpfung der Coronapandemie auf der Strecke zu bleiben. „Es sollte den afrikanischen Ländern überlassen bleiben, ihre eigenen Ziele im Bereich der öffentlichen Gesundheit festzulegen, und Covid-19 ist heutzutage bei weitem nicht das größte Problem der öffentlichen Gesundheit in Afrika“, schrieb etwa der Medizinhistoriker Samuel Adu-Gyamfi von der Kwame Nkrumah University in Ghana Ende vergangenen Dezember in einer scharfen Kritik am von ihm sogenannten „medizinischen Neokolonialismus“.

Demgegenüber mag es sich bei der Kritik der WHO an aktuellen Booster-Kampagnen nicht zuletzt um einen verzweifelten Appell an die wohlhabenderen Länder handeln, das jeweilige nationale Interesse zumindest etwas weiter gefasst zu formulieren. Dabei beließ es Ghebreyesus bei seiner Rede Ende Dezember in Genf unterdessen nicht. „Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die überwiegende Mehrheit der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle bei ungeimpften Menschen auftreten, nicht bei geimpften Menschen“, so der WHO-Direktor.

Und dieser Umstand trifft in zunehmendem Maße überwiegend auf die Länder des globalen Südens zu. Angesichts dessen jedoch werde laut der NGO „medico international“ vor allem bezogen auf afrikanische Länder der „Mythos“ verbreitet „dass die Menschen dort den Impfstoff nicht haben wollen“. Denn das kommt den reichen Industrienationen hinsichtlich ihrer nationalen Impfstrategien anscheinend gerade recht.

Zwar gibt es durchaus auch in verschiedenen Regionen Afrikas eine Skepsis, sich impfen zu lassen. Ein in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ Ende vergangenen Dezember von Polydor Ngoy Mutombo und weiteren Experten für öffentliche Gesundheit veröffentlichter Artikel klärt über die Gründe auf. Neben einem mangelnden Wissen über die Impfstoffe wird nicht zuletzt auf die lange „Geschichte des kolonialen Missbrauchs“ hingewiesen, der die afrikanische Bevölkerung in der medizinischen sowie der Impfstoff-Forschung unterworfen gewesen sei. Auch die „Doppelzüngigkeit der Weltgemeinschaft“ spiele eine Rolle: Obwohl diese nämlich „die Notwendigkeit einer weltweiten Impfstoffversorgung zur Beendigung der Covid-19-Pandemie anerkennt, ist sie nicht fest entschlossen, den Einsatz von Impfstoffen auf dem afrikanischen Kontinent zu beschleunigen, was die zögerliche Haltung gegenüber Impfstoffen weiter verstärkt und aufrechterhält“.

Diese Doppelzüngigkeit werde durch die Impfstoffdiplomatie und die Abhängigkeit von einzelnen Geberländern noch verstärkt (hierzu auch unser Artikel „Umsonst ist nur der Tod“ in woxx 1630). Das führe dazu, dass zahlreiche Vakzine ohne behördliche Genehmigung in viele afrikanische Länder gelangen. Auf diese Weise gerate Afrika erneut in den Ruf, ein „Testgebiet für Impfstoffe“ zu sein, was die zögerliche Haltung in der Bevölkerung abermals fördere. Bilaterale Vereinbarungen, die gemeinsame Bemühungen der afrikanischen Gesundheitsbehörden umgehen, festigten den geopolitischen und ökonomischen Einfluss der Impfstoffanbieter: „Das Ergebnis ist, dass Geopolitik und wirtschaftliche Interessen der Impfstoffanbieter die Akzeptanz von Impfstoffen beeinträchtigen, indem sie Fehlinformationen aus sozialen Medien, religiösen Gruppen und anderen Kanälen verstärken.“

Dennoch ist die Impfzurückhaltung in der Bevölkerung nicht das größte Problem. Die Mitte Dezember veröffentlichten Ergebnisse einer Umfrage in 19 Ländern der Afrikanischen Union zeigen, dass 78 Prozent der Befragten bereit sind, sich impfen zu lassen. Die Erhebung weise nach, „dass die Nachfrage nach Impfstoff wesentlich größer ist als das Angebot“, so John Nkengasong, Direktor des „Africa Centre for Disease Control and Prevention“ (Africa CDC).

Auch auf die logistischen Probleme vieler Länder des globalen Südens wird immer wieder hingewiesen: diese seien nicht in der Lage, die Impfstoffe unter die Leute zu bringen. 40 Prozent der bis Anfang Dezember auf dem afrikanischen Kontinent eingetroffenen Impfstoffe sind nicht verwendet worden, wenn man Berichten des Thinktank „Tony Blair Institute for Global Change“ Glauben schenkt. Zum Teil liegt das an der unzureichenden Infrastruktur. So fehlen häufig die Kühllastwagen, um die Impfstoffe über längere Distanzen zu transportieren. Laut der Nachrichtenagentur Reuters verfügt beispielsweise Kamerun mit einer Bevölkerung von zirka 28,5 Millionen lediglich über einen solchen LKW, das mehr als doppelt so großflächige Mali über zwei. Hier wurde es vom Covax-Programm versäumt, in entsprechende Unterstützung zu investieren. Neben Injektionsspritzen fehlen auch Fahrzeuge wie Motorräder, um Impfteams in die teils entlegenen Gemeinden zu transportieren.

Ende vergangenen Jahres machte Nigeria mit der Nachricht Schlagzeilen, man müsse dort wohl rund 800.000 Impfdosen vernichten. Laut WHO konnten die Dosen zwar schließlich verimpft werden. Deutlich wurde dabei jedoch ein anderes Problem: Nicht selten sind Impfstoffe, die von einzelnen Ländern an das Covax-Programm oder direkt an afrikanische Länder gespendet werden, offenbar nur noch wenige Wochen von ihrem Verfallsdatum entfernt. Es drängt sich der Eindruck auf, unwillkommene Überbestände der westlichen Industrienationen würden mithilfe von Covax entsorgt. Nigeria jedenfalls machte kurz vor Jahreswechsel klar, man werde künftig keine solchen Schenkungen an der Grenze der Haltbarkeit mehr akzeptieren.

Auch die Afrikanische Union und das Africa CDC veröffentlichten Ende vergangenen November ein gemeinsames Statement, in dem sie darlegten, die meisten der bisherigen Spenden seien bislang „ad hoc, mit kurzer Vorankündigung und kurzer Haltbarkeitsdauer bereitgestellt worden“: „Dies macht es für die Länder äußerst schwierig, Impfkampagnen vorzubereiten.“ Die Organisationen fordern daher, Lieferungen müssten künftig einen ausreichend großen Umfang haben, um eine sinnvolle Planung zu ermöglichen. Zudem sollten sie mindestens vier Wochen vor Versand angekündigt werden und die Haltbarkeitsdauer der Impfstoffe solle bei Ankunft im Bestimmungsland zehn Wochen nicht unterschreiten.

Auch John Nkengasong betont, wie wichtig es sei, eine kontinuierliche Versorgung mit Impfstoffen und die Unterstützung von Impfprogrammen in Afrika zu gewährleisten, damit die Impfkampagnen reibungslos und für die Menschen vor Ort zuverlässig ablaufen können. Die Autoren der zitierten Lancet-Studie ergänzen, schon bei der Einführung der Ebola-Impfstoffe in Westafrika habe sich gezeigt, dass ein ausreichender Vorrat an Vakzinen, der der Bevölkerung einen gleichberechtigten Zugang und Nutzen biete, das beste Argument gegen Impfskepsis liefert: „Sobald genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen, wird das Engagement der Bevölkerung zum wirksamsten Mittel, um erfolgreich gegen Impfzurückhaltung und -verweigerung vorzugehen.“ Sie fordern zudem, dass in jedem afrikanischen Land eine Beobachtungsstelle eingerichtet wird, um Fake News, Gerüchteküchen und Fehlinformationen über die Covid-19-Erkrankung und die Impfstoffe dagegen zu überwachen und zu bekämpfen.


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