Corona-Impfstoff für den globalen Süden: „Covax ist ein moderner Ablasshandel“

Beim Gerangel um den Impfstoff gegen eine Covid-19-Erkrankung haben die ärmeren Länder das Nachsehen, denn das Vakzin ist bislang nicht nur knapp, sondern auch teuer. Wirklich helfen würde eine Aussetzung der Patentrechte, doch die wird auch von der EU abgeblockt. Mit tödlichen Folgen, so Anne Jung von „medico international“.

Sieht das politische Handeln auch der Europäischen Union durch die Gewinninteressen der Pharmaindustrie mitbestimmt: Anne Jung, Gesundheitsreferentin bei „medico international“. (Foto: J. Schaaber/medico international)

woxx: In vielen Ländern der EU wird derzeit über Impfstrategien und die Beschaffung von ausreichend Impfstoff gestritten. Wie stellt sich die Lage in den ärmeren Ländern außerhalb der EU und insbesondere im globalen Süden dar?

Anne Jung: Die Lage sieht nicht gut aus, und das aus mehreren Gründen. Zum einen haben sehr viele Länder des globalen Südens auch mit anderen pandemisch sich ausbreitenden Krankheiten zu tun, die natürlich nicht verschwunden sind, nur weil nun die Covid-19-Pandemie hinzugekommen ist. Bereits zuvor waren Gesundheitssysteme von ärmeren Ländern durch HIV/Aids und viele andere Ansteckungserkrankungen wie Malaria, Tuberkulose etc. sehr stark belastet. Zwar wurden einige politische Maßnahmen in die Wege geleitet, diesen Ländern als Hilfsleistung Impfdosen gegen Covid-19 zur Verfügung zu stellen. Insgesamt stellt sich die Situation derzeit aber so dar, dass die reichen Länder lange vor den ärmeren Zugang zum Impfstoff haben werden. Die anderen werden sich zum Teil noch mehrere Jahre gedulden müssen. Und das ist dort besonders dramatisch, wo die Menschen durch die Lockdowns unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sind.

Die Schutzmaßnahmen schaden den Menschen demnach teils mehr als sie ihnen helfen?

Mit dieser Paradoxie müssen sich die Länder des globalen Südens gerade auseinandersetzen. In Ländern, in denen teilweise bis zu achtzig Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten, also keine Festanstellung haben, ist die Arbeit häufig so organisiert, dass man nur ein Einkommen erzielen kann, das für das tägliche Überleben genügt. Ein Lockdown bedeutet in dieser Situation, dass die unmittelbare Existenzgrundlage entzogen wird. Mit Blick auf diese Lebensrealitäten wäre es dort also besonders notwendig, schnell eine flächendeckende Impfung herbeizuführen, eben weil die Schutzmaßnahmen selbst lebensbedrohlich sind.

Eine vernünftige globale Impfstrategie müsste also den Schwerpunkt auf diese Länder setzen?

Ganz genau, das ist jedoch ausgeblieben. Direkt nach dem Ausbruch der Pandemie wäre daher eine Art Ethikkommission nötig gewesen, die aber auch mit politischen Maßnahmen hätte einhergehen müssen. Wir als medico international haben gefordert, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO die Führung übernimmt und das koordiniert, weil sie eine Institution ist, die jenseits von nationalstaatlichen Interessen agiert. Stattdessen gab es den viel beklagten Impfstoffnationalismus, der die globale Ungleichbehandlung verschärft.

Momentan werden verschiedene Regierungen in Europa eher für einen Mangel an nationalen Alleingängen bei der Impfstoffbeschaffung kritisiert. Der globale Süden scheint da kaum zu interessieren.


Zu beobachten sind zwei Entwicklungen. Zum einen ist es so, dass der Impfstoffnationalismus abgelöst wurde durch einen Impfstoffeurozentrismus. Es gibt durchaus ein europaweit abgestimmtes Vorgehen der Regierungen. In diesem europäischen Zusammenschluss geht aber tatsächlich der Blick auf das globale Geschehen verloren. Zum anderen führt die Angst, dass beispielsweise Deutschland nicht schnell genug ausreichend Impfstoff zur Verfügung hat, nun jedoch paradoxerweise dazu, dass etwa mit dem FDP-Politiker Christian Lindner ausgerechnet ein Mitglied der wirtschaftsliberalsten Partei hierzulande die Lizensierung von Arzneimitteln ins Spiel gebracht hat.

Was würde diese Lizensierung konkret bringen?


Pharmaunternehmen sollen dazu gezwungen werden können, gegen eine Lizenzgebühr anderen Herstellern genügend Wissen zur Verfügung zu stellen, damit der Impfstoff nachproduziert werden kann. Diese Forderung wird von zivilgesellschaftlicher Seite, aber auch von den Regierungen vieler ärmerer Länder schon sehr lange erhoben. Doch hier besteht eine Blockadehaltung Deutschlands und der gesamten EU, ja fast aller Industrienationen. Das Thema der Patente in den Fokus zu rücken wäre eine Möglichkeit, um der globalen Ungleichverteilung des Impfstoffes etwas entgegenzusetzen. Der Schutz der Interessen der Pharmaindustrie steht im Widerspruch zu dem, was epidemiologisch notwendig und sinnvoll wäre. Das politische Handeln wird durch die Gewinninteressen dieser Unternehmen mitbestimmt.

„Die Frage nach dem Recht auf Gesundheit und gute Gesundheitsversorgung soll gar nicht erst aufkommen.“

Weshalb hat die Weltgesundheitsorganisation keine Führungsrolle übernommen?


Das hat zwei Gründe: Zum einen hat die WHO viel zu wenig freie Mittel. Ihr Jahresbudget ist ungefähr so hoch wie das von einem mittelgroßen Krankenhaus in Deutschland, also viel zu niedrig angesetzt. Damit kommt man global betrachtet natürlich nicht sehr weit. Zudem bezahlen viele Mitgliedsstaaten ihre Mitgliedsbeiträge nur zum Teil. Dieser Gesamtzustand wurde durch die Ankündigung der US-Administration, im Juli 2021 aus der WHO auszutreten, aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Auch wenn dieser Schritt nun höchstwahrscheinlich durch Joe Biden als US-Präsident revidiert wird, war der Aufschrei groß. Dabei geriet aus den Augen, dass zwar auch Deutschland beispielsweise immer wieder betont, man müsse die WHO stärken, zugleich jedoch wichtige Initiativen der Organisation blockiert.

Foto: Wikimedia/CC-BY-2.0

Was meinen Sie konkret?

Es gab von Seiten der WHO, initiiert von Costa Rica, einen weitreichenden Vorschlag zur Frage eines Technologietransfers, des sogenannten Covid-19 Technology Access Pools (C-Tap), der auf der Erfahrung mit HIV/Aids und den jahrelangen Auseinandersetzungen um die Patentregelungen und hohen Preise für HIV/Aids-Medikamente basiert. Zehntausende Menschen sind unnötigerweise an dieser Krankheit verstorben, weil sie sich die Medikamente nicht leisten konnten. Doch am Ende ist es nicht zuletzt dank eines massiven zivilgesellschaftlichen Engagements gelungen, bei der WHO einen offenen Patentpool zu schaffen. Seit seiner Gründung im Jahr 2010 hat das so „gepoolte“ geistige Eigentum zur Bereitstellung von fast 15 Milliarden Dosen von Medikamenten in 140 Ländern geführt und mehr als eine Milliarde Euro an öffentlichen Gesundheitsausgaben eingespart. Davon abgeleitet hat die WHO schon im Frühjahr 2020 mit Blick auf das Coronavirus die C-Tap-Initiative vorgeschlagen. Zwar hätte das auf Freiwilligkeit basiert, es wäre jedoch ein wichtiger Schritt gewesen, um über Forschungsergebnisse in Austausch zu treten. Das hätte Ländern wie Indien, Bangladesch und Südafrika, die über pharmaproduzierende Industrien verfügen, entsprechende Informationen verschaffen können, um Impfstoffe dezentral zu produzieren. Doch die Pharmaindustrie möchte das nicht, aus Angst um ihre Profite, und die Regierungen der wohlhabenden Länder unterstützen sie dabei, obwohl Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln aus diesen Staaten in Forschung und Entwicklung geflossen sind. Die Pharmaindustrie vermarktet ein dank dieser Mittel generiertes Wissen, das auch der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden muss. Das geschieht jedoch nicht und ist aus unserer Sicht skandalös. Die Länder, die die WHO verteidigen, haben die Organisation also zugleich geschwächt, weil sie eine ihrer wichtigsten Initiativen nicht unterstützt haben.

Es gibt doch aber die Covax-Initiative der WHO zur Beschaffung von Impfstoff für ärmere Länder, an der die EU finanziell beteiligt ist.

Aus meiner Sicht ist das eine Art moderner Ablasshandel. Die reichen Mitgliedsstaaten der WHO haben sowohl die Einrichtung eines offenen Patentpools verhindert als auch die Initiative der Regierungen Südafrikas und Indiens, bei der Welthandelsorganisation WTO eine Aussetzung von Patentrechten für Covid-19-Medikamente zu erreichen. Zugleich wissen die Industrienationen natürlich, dass es durchaus in ihrem Interesse ist, wenn die Pandemie auch auf globaler Ebene irgendwann eingedämmt wird. Deshalb haben sie mit Covax ein Charity-Modell aufgelegt, das an die WHO angebunden ist, aber in Kooperation mit der Pharmaindustrie und mit philantrokapitalistischen Organisationen wie der „Bill und Melinda Gates-Stiftung“ organisiert wird. Dafür müssen sehr viele Gelder akquiriert werden, nicht zuletzt wiederum aus öffentlicher Hand. Auf dieser Grundlage können sich die Pharmaunternehmen dann scheinbar großzügig zeigen und freiwillig ein bestimmtes Kontingent an Impfdosen zu einem geringeren Preis abgeben. Dabei waren sie selbst es, die bei der Welthandelsorganisation eine strikte Reglementierung des geistigen Eigentums überhaupt erst erwirkt haben. Das hat die hohen Medikamentenpreise zur Folge, die ärmere Länder nun vor derart überwältigende Probleme stellen. Die Frage der Rechte, also das Recht auf Gesundheit und gute Gesundheitsversorgung, das Recht auf essenzielle Medikamente, die sich alle leisten können, soll gar nicht erst aufkommen. Auf einer pragmatisch-politischen Ebene bleibt mir daher nichts übrig als zu sagen: Natürlich möchte ich, dass die reichen Länder viel Geld in die Covax-Initiative stecken, aber strukturell betrachtet halte ich sie nicht für das Mittel der Wahl.

Unser Kommentar zu Covid, Klima und Kapitalismus in woxx 1618: Répétition générale.

Anne Jung ist Politikwissenschaftlerin und als Gesundheitsreferentin bei der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation „medico international“ tätig. Ihre Arbeitsbereiche sind unter anderem globale Gesundheit und politische Einflussfaktoren von Gesundheit, darunter internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffhandel. Seit 2018 leitet sie die Öffentlichkeitsabteilung der Organisation. Im Frühjahr 2020 hat „medico international“ den Aufruf „Patente töten“ veröffentlicht, in dem die Aufhebung des Patentschutzes auf alle essenziellen Arzneimittel gefordert wird, dazu zählt auch der Impfstoff gegen Covid-19.


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