Nur eine von zehn Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren hat, erstattet Anzeige gegen den Täter. Wiederum nur eines von zehn Ermittlungsverfahren landet am Ende vor Gericht. Der Luxemburger Opferhilfeverein „La voix de survivant(e)s“ will mit einem Gesetzesentwurf für mehr Gerechtigkeit sorgen.
Das Auditorium im Cercle Cité in Luxemburg-Stadt ist am vergangenen Montagabend fast bis auf den letzten Platz besetzt. In der ersten Reihe sitzt Justizministerin Elisabeth Margue (CSV) umgeben von Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft, Journalist*innen, Mitarbeitenden sozialer Einrichtungen, und auch Betroffenen von (sexualisierter) Gewalt und ihren Angehörigen.
Es herrscht betretenes Schweigen, als Ana Pinto, Präsidentin des Opferhilfevereins „La voix de survivant(e)s“ (LVDS), schockierende Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Luxemburg vorliest. Jede fünfte Frau hierzulande hat innerhalb der letzten 12 Monate (zum Zeitpunkt der Befragung) Gewalt erlebt. 78 Prozent von ihnen wandten sich weder an die Polizei noch an medizinische, psychologische oder andere Fachkräfte. Sie bilden die Dunkelziffer, die in diesem Bereich enorm hoch ist. Die Zahlen sind nicht neu, sie entstammen einer Befragung, die das nationale Statistik- amt „Statec“ 2020 durchgeführt hat. Neu hingegen ist der Gesetzesentwurf, den die juristische Arbeitsgruppe des Vereins, ein interdisziplinäres Team aus Jurist*innen, Kinderschutzexpert*innen und Betroffenen, an diesem Abend präsentiert.
Der Text umfasst 52 Maßnahmen, die in drei Teilbereiche aufgegliedert sind, und zielt darauf ab, „diese Form der Gewalt zu verhindern, die Straflosigkeit zu beenden und die Unterstützung der Opfer zu verbessern“, wie es in der Pressemitteilung zur Veranstaltung heißt. Die Vorschläge basieren zum Teil auf Erfahrungen aus den Reihen der Menschen, die selbst unter dem durchlässigen System zu leiden hatten. Die Gesetzesebene ist das eine, die Umsetzung durch Gericht, Polizei und soziale Dienste eine ganz andere. Auf beiden Ebenen herrscht akuter Verbesserungsbedarf.
Gewaltbekämpfung in drei Teilen
Nicht nur Erfahrungsberichte von Betroffenen, auch Best-Practice-Modelle aus anderen Ländern wurden in das luxemburgische Gesetz übertragen. Allen voran Spanien, aber auch andere EU-Länder, wie Dänemark, Belgien, die Niederlande, und Nicht-EU-Länder wie Kanada haben mit ihren Konzepten Ideen geliefert, die sich dort bereits in der Praxis bewährt haben. So wurden im ersten Teil des Entwurfs neue Straftatbestände hinzugefügt und bestehende modifiziert, um Lücken im aktuellen Gesetz zu schließen. Dazu zählen Aspekte psychischer und wirtschaftlicher Gewalt und auch das Konzept der Zwangskontrolle, des contrôle coercitif. Der Begriff beschreibt, wie Täter durch systematische Kontrolle das Leben von Frauen und Kindern bestimmen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern um Manipulation und die Kontrolle von wirtschaftlichen Ressourcen sowie die Einschränkung von Rechten und Freiheiten. Auch der Straftatbestand des Femizids soll endlich als Begriff und Konzept im Gesetzestext auftauchen.
Der zweite Teil des Entwurfs fokussiert auf die Rechte von Opfern und Mitbetroffenen sowie auf Präventionsmaßnahmen. Unter anderem soll ein Verwaltungsstatus für Opfer eingeführt werden, der vom geplanten „Centre national d’accueil pour les victimes“ vergeben werden soll und mit dem bestimmte Rechte einhergehen. Dazu gehören psychologische Beratung, finanzielle und rechtliche Unterstützung sowie Vorrang bei der Wohnungsvergabe. Zur Prävention sollen alle betroffenen Fachkräfte geschult werden, darunter Polizist*innen, Mitarbeitende sozialer Institutionen wie der „Service central d’assistance sociale“ sowie medizinisches Personal. Auch eine rund um die Uhr erreichbare Hotline für Opfer sowie eine separate für Täter*innen soll eingerichtet werden. Die Einrichtung eines spezialisierten Gerichts für Fälle von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt soll Retraumatisierungen und lange Wartezeiten verhindern und bildet den dritten Teil des Entwurfs.
Ana Pinto und die LVDS wollen mit der Vorlage des Gesetzesentwurfs einen fundierten Beitrag zum für Anfang nächsten Jahres geplanten nationalen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt leisten und das Thema als parteiübergreifende Priorität positionieren. Für das Schlusswort verlässt Elisabeth Margue ihren Platz in der ersten Reihe und betritt die Bühne. „Es muss eine Abwägung zwischen vielen Interessen und auch vielen Gesetzestexten vorgenommen werden. Man könnte sicherlich Projektideen aufgreifen und über den gesamten Vorschlag diskutieren, aber ich bin bereit, das zu tun. Ich möchte, dass die Waage zugunsten der Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt ausschlägt.“ Wie viele Ideen des Gesetzesentwurfs die Regierung tatsächlich in ihrem Aktionsplan berücksichtigen wird, zeigt sich im Frühjahr nächsten Jahres.