Guatemala: Indigener Aufbruch

Anfang der Woche wurde in Guatemala der neue Präsident Bernardo Arévalo vereidigt. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte das zuletzt noch zu verhindern versucht. Sie ist damit jedoch gescheitert – dank internationalem Druck und massiver, indigen geprägter Proteste.

Schluss machen mit der Korruption: Die Proteste für die Bestätigung der Wahl von Bernardo Arévalo zum neuen Präsidenten Guatemalas waren maßgeblich von indigenen Ethnien getragen. (Foto: Knut Henkel)

Auch am 14. Januar, dem Tag der geplanten Vereidigung, war vor dem „Ministerio Público“, dem Amt der Generalstaatsanwaltschaft, in Guatemala-Stadt einiges los. Kardinal Álvaro Ramazzini machte um 10 Uhr morgens den Auftakt und las die Messe vor hunderten, meist indigenen Aktivist*innen. Die lauschten dem progressiven Kirchenmann, der sich immer wieder auf die Seite derjenigen stellt, die in Guatemala meist ausgegrenzt werden. In seiner Predigt warb er nicht nur für ein anderes, ein solidarisches Guatemala, sondern auch für eine aktive Zivilgesellschaft und für mehr Menschlichkeit und Respekt untereinander.

„Das ist in Guatemala immer zu kurz gekommen“, sagt der 76-jährige Kardinal später im Gespräch: „Wir sind eine Gesellschaft, in der die indigenen Völker von den Ladinos, den hellhäutigeren Mischlingen wie mir selbst, oft als Menschen zweiten oder gar dritten Ranges angesehen werden.“ „Indio“ sei in Guatemala ein Schimpfwort, rassistische Diskriminierung ein gravierendes Problem“, so Ramazzini, der ungezwungen auftritt und von allein auf die Idee gekommen war, die Messe vor der Generalstaatsanwaltschaft zu lesen.

„Das war mir ein Bedürfnis. Ich wollte mich dafür bedanken, dass die indigenen Autoritäten für die Verteidigung der Demokratie in Guatemala aufgestanden sind und 105 Tage ununterbrochen protestiert haben, damit Bernardo Arévalo heute als neuer Präsident vereidigt werden kann“. Enttäuscht ist Monseñor Ramazzini jedoch, dass heute zur Messe an einem Sonntag nur wenige Hauptstädter den Weg ins Zentrum der Stadt vor den mächtigen, wie eine Festung wirkenden Büroriegel der Generalstaatsanwaltschaft gefunden haben.

„Die Stadtbevölkerung hat in Guatemala traditionell wenig mit der Landbevölkerung zu tun, aber in einer so politisch brisanten Situation hätte ich mir gewünscht, dass man mehr aufeinander zugeht“, so Ramazzini, der 1947 in Guatemala-Stadt geboren wurde und seit 2012 Bischof von Huehuetenango ist. Der Verwaltungsdistrikt an der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze ist indigen geprägt und der Kardinal tritt für jene ein, die in der sozialen Hierarchie des Landes ganz unten stehen. Mehrfach hat er Bergbauprojekte, die über die Köpfe der Bewohner*innen hinweg beschlossen wurden, kritisiert und genießt daher unter den indigenen Völkern in Guatemala einen guten Ruf. Das gilt nicht für alle Kirchenvertreter in einem Land, in dem mindestens 44 Prozent der Bevölkerung Ethnien der Maya, der Xinca oder der Garifuna angehören. Der Rest der Gesellschaft bezeichnet sich als Ladinos, als Mischlinge, und man bezieht sich dabei oft auf spanische, in einigen Regionen wie Alta Verapaz auch auf deutsche Vorfahren.

Von einer multikulturellen Gesellschaft wollen wenige etwas wissen ,und Diskriminierung ist genauso weit verbreitet wie die ökonomische Ausgrenzung indigener Bevölkerungsschichten. Dagegen regt sich mehr und mehr Widerstand. Bestes Beispiel sind die Proteste gegen den Versuch, die Vereidigung des gewählten Präsidenten zu hintertreiben.

Am 20. August war Bernardo Arévalo, der versprochen hatte, die Korruption im Land bekämpfen zu wollen, mit rund 60 Prozent der gültigen Stimmen zum neuen Präsidenten des Landes gewählt worden. Die Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatten die Wahl als sauber bezeichnet. Doch Arévalo, Soziologe, Ex-Diplomat und Mitgründer der Partei „Movimiento Semilla“, war dem in Guatemala de facto herrschenden „Pakt der Korrupten“ ein Dorn im Auge. Das mächtige informelle Bündnis aus Militär, Politik, Wirtschaft und organisierter Kriminalität hat in den vergangenen sechs bis acht Jahren sämtliche Institutionen des Staates unterwandert und mit prallen Briefumschlägen und massiven Drohungen das Land weitgehend unter seine Kontrolle gebracht. Es will verhindern, diese Macht und die damit verbundenen persönlichen Vorteile zu verlieren und setzt dafür die politisch kontrollierte Justiz ein. Deren Zentrale ist die Generalstaatsanwaltschaft. Auch Ramazzini war laut Information des Vatikan zeitweilig in den Fokus der korrupten Ermittlungsbehörden gerückt.

Von einer multikulturellen Gesellschaft wollen wenige etwas wissen, und Diskriminierung ist genauso weit verbreitet wie die ökonomische Ausgrenzung indigener Bevölkerungsschichten.

Die Proteste der Indigenen Guatemalas gegen diese Strukturen hatten am 2. Oktober begonnen. Zunächst mit Straßenblockaden, dann mit Kundgebungen, Mahnwachen und Happenings vor den Zentralen der Macht: vor der Generalstaatsanwaltschaft, aber auch vor dem „Congreso“, dem Sitz des 160 Abgeordnete zählenden Parlaments. Die indigenen Autoritäten haben in den langen Wochen des Protests Einfallsreichtum bewiesen und das Programm um Yoga, Workshops und Musik erweitert. Damit wollte man nicht nur die eigenen Leute, sondern auch die progressive Zivilgesellschaft in Guatemala-Stadt bei der Stange halten.

Das hat funktioniert, wovon auch die Transparente am Zaun des „Ministerio Público“ zeugen. Nicht nur der Rücktritt der Generalstaatsanwältin María Consuelo Porras wird auf ihnen gefordert, sondern auch die ihrer wichtigsten Helfershelfer. Gemeint sind Rafael Curruchiche, Leiter der Staatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit (FECI), und dessen Kollegin Cinthia Monterroso; des Weiteren der Richter Freddy Orellana. Die vier gelten als Zentrale einer nicht enden wollenden Kampagne, um Bernardo Arévalos Amtsübernahme zu verhindern. Seit einigen Wochen sind sie allerdings in der Defensive, denn sie haben sich verkalkuliert: Sie haben nicht damit gerechnet, dass die internationale Gemeinschaft einmütig das Vorgehen der Justiz gegen einen legitimierten Präsidenten verurteilen wird und für den Fall, dass Arévalo nicht vereidigt werden sollte, harte Sanktionen in Aussicht stellt.

Das ist auch ein Verdienst der indigen geprägten Proteste, die die institutionelle Krise in Guatemala und das drohende Abdriften in den Autoritarismus überhaupt erst sichtbar gemacht haben. Als der „Pakt der Korrupten“ am 8. Dezember schließlich aufs Ganze ging und die Wahl vom 20. August aus fadenscheinigen Gründen annullieren wollte, haben die USA, die EU und die OAS wirtschaftliche Sanktionen in Aussicht gestellt, falls die Amtsübernahme Bernardo Arévalos scheitern sollte. Einreiseverbote für Funktionäre staatlicher Institutionen, korrupte Parlamentarier und Richter wurden verhängt, zudem wurde mit dem Ausschluss Guatemalas aus der OAS gedroht. Daraufhin lenkte das guatemaltekische Verfassungsgericht ein und erklärte die Wahl als rechtmäßig. In letzter Minute, wie Kardinal Álvaro Ramazzini meint: „Die Verhinderung der Amtsübernahme Arévalos hätte die Herrschaft des ‚Paktes der Korrupten‘ zementiert.“

Ramazzini engagiert sich für den Aufbau einer aktiveren, einigen und inklusiven Zivilgesellschaft. Dazu gehören auch die indigenen Ethnien, die extrem stark von den Folgen der Korruption betroffen sind. Laut Schätzungen von Experten versickern rund 40 Prozent des staatlichen Haushalts in dubiosen Kanälen. Davon betroffen sind alle rund 18 Millionen Guatemaltek*innen, überproportional stark allerdings die am unteren Ende der sozialen Pyramide stehenden indigenen Ethnien. Die haben sich in den letzten Jahren besser organisiert, sind erstmals seit langem einig und zunehmend sichtbar.

Das bestätigt auch die Rechtsanwältin Wendy López. Sie stammt aus der Region Sololá, gehört den Quiché-Mam an und hat als erste Frau aus der indigenen Gemeinde Panajachel das juristische Staatsexamen absolviert. Ermöglicht hat das ein Stipendium an der jesuitischen Universität Rafael Landívar. „An der staatlichen Universität San Carlos hätte ich kaum eine Chance gehabt, sagt López. „Ich musste aber auch so nach Quetzaltenango ziehen, um studieren zu können – in meiner Region wäre das unmöglich gewesen.“

Es fehlt schlicht an Infrastruktur in den indigen geprägten Regionen Guatemalas. Zu wenige, meist miese Schulen und Gesundheitseinrichtungen, zugänglich oft nur über holprige Schlaglochpisten. Dass sind Realitäten, die indigenes Leben in Guatemala in nahezu allen Regionen prägen. „Eine Kernursache dafür ist die Korruption“, sagt Bernardo Caal Xol, indigener Aktivist aus Cahabón. „Investitionsgelder für indigen geprägte Regionen Guatemalas verschwinden überproportional häufig und zementieren die Rückständigkeit unserer Gemeinden“, kritisiert der ehemalige Dorflehrer und Umweltaktivist, der in den letzten Monaten immer wieder bei Protesten vor der Generalstaatsanwaltschaft zu sehen war. Er kommt aus dem rund zweihundert Kilometer von der Hauptstadt entfernten Distrikt Alta Verapaz, wo Kaffee, Kardamon und viele andere Agrarprodukte angebaut werden.

Caal Xol kämpft für indigene Rechte und gegen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen über die Köpfe der indigenen Bevölkerung hinweg. Daher tritt er für die Verteidigung der „Reste unserer Demokratie“ an und hat sich engagiert, um Bernardo Arévalo den Weg ins Amt zu ermöglichen. Bislang hat die indigene Bevölkerung nie von den schwachen demokratischen Strukturen im Land profitiert: „Wir haben erkannt, dass eine funktionierende Demokratie die besten Aussichten für die indigenen Völker bietet und glauben an Arévalo.“

Am 15. Januar wurde Arévalo schließlich mit rund neunstündiger Verspätung nach harten politischen Auseinandersetzungen im Parlament vereidigt Mit der Bekämpfung der omnipräsenten Korruption steht ihm eine Mammutaufgabe bevor, bei der er weiterhin auf die Unterstützung der indigenen Gemeinden angewiesen sein wird. Die indigenen Autoritäten sind in Guatemala derzeit so präsent und sichtbar sind wie noch nie in der jüngeren Geschichte des Landes.

Das bestätigt auch Wendy López, die die indigene Bewegung aber noch am Anfang sieht. „Alle Indikatoren belegen, dass wir enormen Nachholbedarf haben: Bildung ist der Schlüssel für unsere Zukunft“, meint die 33-jährige Juristin. Sie arbeitet für die Menschenrechtsorganisation „Udefegua“ und vertritt Journalisten, aber auch indigene Gemeinden, die von der vom „Pakt der Korrupten“ kontrollierten Justiz kriminalisiert werden. Damit müsse Schluss sein, hat Arévalo in seiner Antrittsrede bekräftigt.

Doch mit solchen Beteuerungen ist es nicht getan. Die indigenen Autoritäten haben weitere konkrete Forderungen gestellt, darunter ihre Einbindung in die Entscheidungsprozesse beim Bau von Infrastrukturprojekten, Kraftwerken oder Bergbauanlagen. Dazu ist der guatemaltekische Staat eigentlich ohnehin verpflichtet, tatsächlich jedoch ist er dem kaum oder gar nicht nachgekommen.

Das wird künftig schwieriger werden. Ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte von vergangenem Dezember verpflichtet die Regierung Guatemalas dazu, indigene Gemeinden vor Großprojekten auf dem Territorium, das sie bewohnen, zu konsultieren und um ihr Einverständnis zu bitten. Die erfolgreiche Klage der Maya-Ethnie der Q’eqchi’ in der Region Izabal im Norden Guatemalas ist wegweisend, denn das Urteil hat bindenden Charakter und stellt die Existenz der extrem umstrittenen und für massive Umweltschäden verantwortlichen „Solway“-Nickelmine in der Region in Frage. Guatemalas Regierung muss nun einen neuen rechtlichen Rahmen schaffen, „der die kollektiven Rechte der indigenen Völker als eigenständige rechtliche, soziale und politische Einheiten innerhalb des Nationalstaates wahrt“, wie es in dem Urteil heißt.

Die Umsetzung liegt in den Händen der frisch vereidigten Regierung von Bernardo Arévalo. Die will Guatemala verändern, partizipativer machen und dazu würde die Implementierung des Urteil einen Beitrag leisten. So könnte sich Arévalo für die Unterstützung durch die indigenen Autoritäten revanchieren, wenn die Mehrheitsverhältnisse im Parlament es zulassen. Doch wie tragfähig die Bündnisse im Regierungslager sind, muss sich erst noch zeigen. Eins allerdings ist sicher: An den Indigenen Autoritäten kommt Arévalo kaum mehr vorbei.

Knut Henkel berichtet für die woxx aus Lateinamerika.

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