Die Hoffnung ist groß. Die neue Verfassung, über die am 4. September abgestimmt werden wird, könnte soziale und gesellschaftspolitische Reformen in Chile beschleunigen. Doch die Zustimmung ist alles andere als sicher.
Neue Verfassungen, auch wenn sie nicht allen Wünschen gerecht werden, sind meistens besser, oder zumindest zeitgemäßer als ihre Vorgängerinnen. Das sollte reichen, die nötige Zustimmung zu erzielen, um sie per Referendum von der Bevölkerung absegnen zu lassen. Reicht es nicht, dann kann das politische Establishment entscheiden, auf ein Referendum zu verzichten – so geschehen in Luxemburg. Oder man geht das Risiko ein, dass der neue Text abgelehnt wird – was am kommenden Sonntag in Chile der Fall sein könnte.
Meine Verfassung stinkt
Dabei geht es an der Südspitze des amerikanischen Kontinents nicht, wie in Luxemburg, um das Relikt einer Monarchie der Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern um ein Überbleibsel einer der markantesten Militärdiktaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Derzeit ist in Chile noch die 1980 unter General Augusto Pinochet redigierte Verfassung in Kraft. Dass dies nicht ausreicht, um am 4. September ein „Apruebo“ (Dafür) zu garantieren, ist umso verwunderlicher, als die alte Verfassung nicht nur für das Erbe des blutigen Putschs von 1973 steht. Sie bestimmt auch weiterhin die ökonomischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, unter denen in Chile seit der Demokratisierung in den 1990er-Jahren regiert wird. Genau das war der Grund, weshalb bei den sozialen Protesten Ende 2019 die Forderung nach einer neuen Verfassung eine so große Rolle spielte (Chile als Laboratorium, woxx 1559).
Der „Vertrag für Frieden und eine neue Verfassung“ wurde noch im November des gleichen Jahres zwischen Regierung und sozialen Bewegungen ausgehandelt. Im Oktober 2020 gab dann ein erstes Referendum mit großer Mehrheit grünes Licht für den Prozess und für eine direkt gewählte verfassungsgebende Versammlung (Convención Constitucional). Bei der Wahl für diese Convención, wie auch bei der Präsidentschaftswahl (Abkehr vom Erbe Pinochets, woxx 1664), gewannen 2021 die unabhängigen fortschrittlichen Kräfte. Die linke Übermacht in der verfassungsgebenden Versammlung hat bewirkt, dass der Ende Juni angenommene neue Verfassungstext viele fortschrittliche Elemente enthält. Weil die innerhalb der Gesellschaft immer noch starke Rechte beim Prozess zum Teil übergangen wurde, hat sich die Diskussion aber auch stark polarisiert. Die Kampagne für das „Rechazo“ (Dagegen) griff die der politischen Unbeholfenheit der Unabhängigen geschuldeten Fehlleistungen auf, sie operierte aber auch mit Falschinformationen zu sensiblen Themen wie Privatbesitz und Schwangerschaftsabbruch. Mit Erfolg, glaubt man den letzten Meinungsumfragen, die einen Vorsprung von etwa zehn Prozentpunkten für die Ablehnung des Textes messen.
Der neue chilenische Verfassungstext wird nicht nur von Konservativen bekämpft, auch Wirtschaftsliberale machen Front dagegen. So ruft ein Leitartikel im „Economist“ vom 6. Juli dazu auf, gegen die Verfassung zu stimmen. Neben technischen Argumenten wie dem, der Text sei zu lang und zu ungenau, erklärt die Zeitschrift den Chilen*innen, ihr Wohlstand sei gerade der alten, „wirtschaftsfreundlichen“ Verfassung zu verdanken. Die neue dagegen enthalte so gefährliche Elemente wie ein öffentliches Gesundheitssystem oder ein Verbot der Bodenspekulation. Dass gerade das Sprachrohr des globalen Neoliberalismus sich gegen den Wunsch nach sozialen Reformen in Chile ins Zeug legt, erinnert auf peinliche Art daran, dass ebendieser Neoliberalismus in den 1970er-Jahren zum Komplizen der chilenischen Militärdiktatur wurde. Und erklärt, warum der Ausgang des Referendums Signalwirkung für ganz Lateinamerika haben wird: Wieder einmal versucht Chile, wie unter Salvador Allende, den Weg einer sich ernst nehmenden Sozialdemokratie zu gehen, statt den einer korrupten „Demokratie“, die vor den Finanzmärkten kuscht, oder den einer linkspopulistischen Autokratie.
Sozialer und ökologischer
Was also ist das Ergebnis der verfassungsgebenden Versammlung, über das Merkmal hinaus, dass sie als weltweit erste paritätisch besetzte in die Geschichte eingehen wird? Sozialpolitisch revolutioniert sie die drei Bereiche, die im Mittelpunkt der sozialen Proteste von 2019 standen: Renten, Gesundheit und Schule. An die Stelle des von liberalen Ideolog*innen lange Zeit gefeierten privaten Kapitaldeckungsverfahrens soll laut BBC Mundo ein öffentliches, mit Beiträgen und staatlichen Einnahmen finanziertes Rentensystem treten. Auch die privaten Gesundheitskassen sollen von einem einheitlichen öffentlichen System flankiert werden, das die obligatorischen Beitragszahlungen verwaltet. Das Recht auf Bildung schließlich soll im Rahmen eines nationalen Systems garantiert werden, das auch private Schulen anerkennen kann. Chile soll ein „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ werden, wie es in Artikel 1 heißt.
Weitere institutionelle Attribute sind: plurinational, interkulturell, regional und ökologisch. An letzteres knüpft eine andere hochsymbolische Veränderung an: Die unter Pinochet realisierte Privatisierung der Wasserrechte soll rückgängig gemacht werden. Als Folge des Klimawandels ist die Frage der Verfügungsgewalt über das Wasser in den vergangenen Jahren immer dringlicher geworden. Dabei stehen sich einerseits die Nutzung als Trinkwasser und zur Bewässerung traditioneller Landwirtschaft, andererseits die Bedürfnisse der Großunternehmen gegenüber – insbesondere für die Herstellung der Exportprodukte Kupfer, Lithium und … Avocado. Ganz allgemein sieht Artikel 18 der Verfassung vor, der Natur Rechte zuzuerkennen, die dann im Kapitel III näher ausgeführt werden – und nicht unumstritten sind.
Für Diskussionen sorgt auch die geplante Abschaffung des Senats. Wie der Luxemburger Staatsrat war diese zweite Kammer geschaffen worden, um den Spielraum der – dem Volkswillen wohl zu nahestehenden – ersten Kammer einzuschränken. Die von Pinochet vorgegebene Besetzung des Senats wurde zwar bereits 1989 reformiert, doch er fungiert immer noch als Hochburg des Konservatismus. Nun soll er durch eine „Kammer der Regionen“ ersetzt werden, ähnlich dem deutschen Bundesrat, aber direkt gewählt. Deren Mitspracherecht würde sich auf 19 in irgendeiner Weise für die Regionen relevante Arten von Gesetzen beschränken (Artikel 268).
Die gesellschaftspolitischen Weichen werden ebenfalls in Artikel 1 gestellt: Chiles Demokratie soll „inklusiv und paritätisch“ sein. Nach Artikel 6 soll der Staat eine Gesellschaft fördern, „in der Frauen und Männer sowie die Verschiedenheit der sexuellen Orientierungen und Geschlechter gleichberechtigt teilnehmen“. So sollen alle öffentlichen Organe paritätisch besetzt werden in dem Sinne, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder Frauen sind. Artikel 61 garantiert die sexuellen und reproduktiven Rechte und insbesondere das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch (der in Chile derzeit nur unter sehr strengen Auflagen erlaubt ist).
Mut zum „Apruebo“?
Die Freude linker Chilen*innen über die vielen Verbesserungen in der neuen Verfassung wird allerdings getrübt durch die Sorge, was davon im Falle eines „Rechazo“ übrig bliebe. Der als unabhängiger Linker gewählte Präsident Gabriel Boric hatte bereits im Mai versucht, sich außerhalb der Grabenkämpfe zu positionieren, indem er wissen ließ, an der Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung gebe es manches, was ihm nicht gefalle. Mitte August legte seine Regierungskoalition, an der auch die traditionelle Sozialdemokratie beteiligt ist, Änderungsvorschläge am Verfassungstext vor. Mit dem Versprechen, gegebenenfalls den Text durch Garantien zu ergänzen oder abzuschwächen, hofft man, die Unentschlossenen für das „Apruebo“ zu gewinnen. So soll unter anderem die Kapitaldeckung der Renten teilweise erhalten bleiben und das Recht auf Hausbesitz ausdrücklich geschützt werden.
Die größten Zugeständnisse an die Skeptiker*innen macht die Regierung aber bei den Rechten der indigenen Völker, die mit dem Begriff „plurinational“ einhergehen. Der Text der Convención sieht vor, diese Völker und Nationen anzuerkennen und Gebiete mit politischer Autonomie zu schaffen. Die indigenen Völker bekämen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen, die ihre Rechte betreffen und die Möglichkeit, ein eigenes Justizsystem anzuwenden. Letztere Sonderrechte sind heiß umstritten, und die Regierung hat versprochen, hier Einschränkungen vorzunehmen.
Das Thema ist nicht ohne Grund emotional aufgeladen: In den vergangenen Jahren haben sich die Konflikte zwischen der größten indigenen Gemeinschaft, den Mapuche, und dem Staat verschärft. Gegen die Ausbeutung und Zerstörung der von den Mapuche beanspruchten Gebiete gehen diese mit Landbesetzungen und zum Teil mit bewaffnetem Widerstand vor – mit Todesopfern auf beiden Seiten. Die Situation in Araukanien, südlich der Hauptstadt Santiago, ist so angespannt, dass Borics Regierung – die eigentlich auf Dialog setzt – sich im Mai entschloss, dort den Ausnahmezustand zu verschärfen. Eine Entscheidung, die von jenen, die in den Mapuche eine Bedrohung sehen und deshalb die Verfassungsänderung ablehnen, als Bestätigung interpretiert werden kann. Die Verschärfung des Konflikts kann aber auch als Argument gelten, die längst überfällige Anerkennung der Rechte der indigenen Völker schnellstens mittels der neuen Verfassung vorzunehmen. Oder, wie es der Politologe Marco Moreno gegenüber BBC Mundo zusammenfasst: Das „Apruebo“ appelliert an die Hoffnung, das „Rechazo“ an die Unsicherheit und die Angst.