Häusliche Gewalt: Das Paradox der Zahlen

2023 überschritt die Zahl der Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt erstmals die 1.000-Marke. Im Gegensatz dazu stagniert die Zahl der Wegweisungen. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?

Kommt es zu einem Polizeieinsatz aufgrund von häuslicher Gewalt, steht den Beamt*innen das Mittel der Wegweisung (auch bekannt als „Ausweisung“ oder „Platzverweis“) zur Verfügung. Eine polizeiliche Maßnahme, die es erlaubt, die gewalttätige Person bis zu zehn Tagen der Wohnung zu verweisen. Rechtlich ist eine Wegweisung möglich, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass eine Person sich darauf vorbereitet, eine Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einer nahestehenden Person, mit der sie zusammenlebt, zu begehen oder erneut zu begehen. Laut dem „rapport violence“ des Ministeriums für Gleichstellung und Diversität (Mega) gab es letztes Jahr 246 solcher Fälle. Eine Zahl, die trotz steigender Einsätze seit Jahren stagniert.

Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Marc Baum (Déi Lénk) schreibt Anfang Juli eine parlamentarische Anfrage an den Innenminister. Aus dem Brief ergeben sich zwei mögliche Hypothesen: Erstens, die Kriterien der Richter*innen für eine Wegweisung haben sich im Laufe der Jahre verändert. Oder zweitens, die „bestmögliche“ Hypothese, dass die Fälle von schwerer häuslicher Gewalt in Luxemburg abgenommen haben. Bei gleichbleibenden Fallzahlen sind die Veränderungen relativ zu den vorherigen Zahlen zu sehen, nicht absolut.

Am 5. August senden Justizministerin Elisabeth Margue (CSV), Innenminister Léon Gloden (CSV) und Yuriko Backes (DP), Ministerin für Gleichstellung und Diversität, eine gemeinsame Antwort: „Weder die Ausweisungskriterien noch die internen Verfahren der Staatsanwaltschaften haben sich seit 2014 geändert und einige der derzeit in der Jugend-/Familienabteilung tätigen Richter sind dort seit mehreren Jahren und konstant in ihrer Bewertung der Fälle“, heißt es darin.

Dass die Staatsanwaltschaft eine größere Toleranz gegenüber Fällen häuslicher Gewalt entwickelt haben könnte, schließen die zuständigen Minister*innen ebenfalls aus. Stattdessen verweisen sie auf das Engagement sowie die Präventions- und Entstigmatisierungsarbeit vom Mega und anderen Akteur*innen. Die vorliegenden Zahlen könnten ein Indiz für die erfolgreiche Enttabuisierung häuslicher Gewalt sein. Polizist*innen würden deshalb auch bereits bei „leichteren“ Formen, bei denen keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bestünde, alarmiert.

Es sei bekannt, schreibt Marc Baum in seiner Anfrage, dass „eine gewisse Anzahl polizeilicher Einsätze im Bereich der häuslichen Gewalt nicht zu einem Bericht an die Staatsanwaltschaft führt, obwohl häusliche Gewalt für die Mehrheit der Tötungsdelikte in unserem Land verantwortlich ist“. Ein Statement, das in der Regierungsantwort mehrfach zurückgewiesen wird. Jede Intervention bei häuslicher Gewalt führe zur Erstellung eines Einsatzberichts, aber nicht jede Intervention führe zwangsläufig zu einer Wegweisung.

Fast drei Einsätze pro Tag aufgrund von häuslicher Gewalt

Ana Pinto, Präsidentin der 2022 gegründeten gemeinnützigen Organisation „La Voix des survivant-e-s“, forderte indes schon im März eine umfassendere Fortbildung von Polizist*innen zum Thema. Sie sieht in der Stagnation an Wegweisungen ein Symptom mangelnden Wissens. Lediglich vier Stunden würden in der zweijährigen Ausbildung auf das Thema häusliche Gewalt verwendet. Im Jahr 2023 gab es bei 1.057 Interventionen fast drei Einsätze pro Tag. Gegenüber der Zeitung „Le Quotidien“ sagte Pinto, dass sie aus Zeug*innenaussagen wisse, wie manche Beamt*innen in solchen Fällen verfahren. „Sie entscheiden, dass es nicht so schlimm ist, und leiten es daher nicht an die Staatsanwaltschaft weiter.“ Liegt offiziell kein Fall häuslicher Gewalt vor, muss es auch keinen Bericht an die Staatsanwaltschaft oder zuständigen Richter*innen geben. Innenminister Léon Gloden versprach Pinto, die Ausbildung der Polizei zu evaluieren und die Organisation bei einer Sensibilisierung zum Thema häusliche Gewalt mit einzubeziehen.

Im Antwortschreiben der Regierung werden drei neue Leuchtturmprojekte des Mega genannt: die Stärkung der Betreuung und Analyse der Sanktionen gegen Täter häuslicher Gewalt, die Einrichtung einer rund um die Uhr geöffneten zentralen Anlaufstelle für alle Opfer von Gewalt mit umfassender Hilfe sowie die Entwicklung eines nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung aller Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt. Eine Evaluierung mit anschließender Sensibilisierung der Polizeiausbildung wird nicht erwähnt.


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