Haiti: Banden als Staatsersatz

Die Entführung einer Gruppe nordamerikanischer Missionare in Haiti hat internationale Aufmerksamkeit erregt. Sie ist das Resultat eines tiefgreifenden Staatsverfalls. Die kriminellen Banden haben inzwischen so viel Macht, dass sie die politische Führung offen herausfordern.

Verspricht Sicherheit vor Gefahren, die er selbst repräsentiert: Der Bandenchef Jimmy Chérizier, genannt „Barbecue“, vorige Woche auf einem von ihm einberufenen Pressetermin im verarmten Viertel La Saline in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, bei dem er den geschäftsführenden Präsidenten Ariel Henry zum Rücktritt aufforderte. (Foto: EPA-EFE/Orlando Barria)

Der haitianische Staat befindet sich vier Monate nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse und etwa drei Monate nach einem verheerenden Erdbeben, das Tausende obdachlos machte, weiter in einem rapiden Verfall. Zwei Krisen stehen paradigmatisch für diesen Prozess. Die erste ist die Entführung einer Gruppe US-amerikanischer und kanadischer Missionare und ihrer Familien sowie ihres haitianischen Fahrers am 16. Oktober. Wilson Joseph, der Anführer der Gang „400 Mawozo“, die hinter der Entführung steckt, drohte wenige Tage nach der Tat, wenn seine Gruppe nicht die geforderten 17 Millionen US-Dollar Lösegeld erhalte, werde er die Geiseln töten lassen. Anfang November berichtete Reuters, die US-Regierung habe Beweise erhalten, dass zumindest einige der Geiseln noch lebten.

Die Zahl der Entführungen in Haiti ist in jüngster Zeit stark angestiegen. Angaben des Centre d’analyse et de recherche en droits de l’homme (CARDH) zufolge waren es im laufenden Jahr bereits 628, im dritten Quartal habe es eine Zunahme um 300 Prozent gegeben. Fälle wie jener der Missionare erregen zwar international Aufsehen, die meisten Opfer kommen jedoch aus der haitianischen Mittelschicht. Es sind Ärzte, Lehrer, Anwälte – Menschen, bei denen etwas zu holen ist, die jedoch nicht zur Oligarchie gehören, deren Mitglieder sich aufwendige Sicherheitsmaßnahmen leisten können. Entführungen stellen ein lukratives Geschäft für die kriminellen Banden dar, deren Einfluss in Haiti wächst.

Darin besteht die zweite Krise. Seit der Ermordung Moïses streben die Gangs zusehends nach direkter politischer Macht. Dabei nutzen sie das Vakuum aus, das der Tod des Präsidenten, dessen Legitimität ohnehin gering war, hinterlassen hat. Seinem Nachfolger Ariel Henry, der das Amt am 20. Juli nach einiger politischer Auseinandersetzung auf internationalen Druck hin kommissarisch übernommen hat, wird vorgeworfen, mit dem mutmaßlichen Auftraggeber des Mords in Verbindung gestanden zu haben. Moïse wurde am 7. Juli in seinem Wohnhaus ermordet, die haitianische Polizei beschuldigt eine Gruppe kolumbianischer Söldner, die in jener Nacht in das Haus eingedrungen war. Unklar ist bislang jedoch, wer den Mord in Auftrag gab, sowie die Rolle der Leibwächter Moïses, die das Attentat nicht verhinderten.

Die Bevölkerung überlebt nicht zuletzt aufgrund von Geldsendungen der großen haitianischen Diaspora.

Die unter dem Namen G9 zusammengeschlossenen kriminellen Banden, die Port-au-Prince kontrollieren, blockieren seit Ende Oktober Treibstofftransporte in der Hauptstadt, wodurch das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen gekommen ist. Dazu kam ein Generalstreik, der sich aus Anlass der Missionarsentführung gegen die wachsende Kriminalität und die Unfähigkeit von Regierung und Polizei, sie zu bekämpfen, richtet. Krankenhäusern, Gefängnissen und anderen Einrichtungen droht der Kollaps in einer ohnehin seit Jahren prekären Lage. Jimmy Chérizier, genannt „Barbecue“, der Anführer der G9, forderte den geschäftsführenden Präsidenten Henry am 25. Oktober in einem Interview mit dem Radiosender „Mega“ zum Rücktritt auf. Als Grund nannte er dessen mutmaßliche Verwicklung in den Tod Moïses. Dabei machte Chérizier die politischen Ambitionen seiner Gruppe deutlich: „Wir befinden uns in einem politischen Kampf. Wir sind eine bewaffnete politische Gruppierung.“ Nach einem Rücktritt Henrys würden Chériziers Leute dazu beitragen, die Sicherheit in Port-au-Prince wiederherzustellen. „Niemand wird Entführungen durchführen können in unseren Vierteln.“

In einem Gespräch mit der spanischen Tageszeitung „El País“ sagte der haitianische Menschenrechtsanwalt und Direktor des CARDH, Gédéon Jean, die haitianischen Banden seien dabei, eine ähnliche Bedeutung zu erlangen wie die mexikanischen Kartelle, die Maras in Zentralamerika oder einst die kolumbianischen Guerilla-
gruppen: „In ihren Zonen sind sie der Staat.“ Dort kontrollierten sie praktisch alle ökonomischen Prozesse, die Infrastruktur und die Sicherheit. Tatsächlich sei die Zahl der Verbrechen und auch der Entführungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten niedriger, so Jean.

Bewaffnete Gruppen spielen in Haiti indes schon lange eine bedeutende politische Rolle. Bereits die Diktatoren François und Jean-Claude Duvalier, auch bekannt als „Papa Doc“ und „Baby Doc“, verfügten über eine Miliz, die „Tonton Macoute“, die ihre politische Macht stützte. Selbst Jean-Bertrand Aristide, dessen politische Laufbahn als Armenpriester im Widerstand gegen die Diktatur Duvalier begann und der zwischen 1990 und 2004 mehrmals Präsident war, bediente sich in den 1990er-Jahren sowie im darauffolgenden Jahrzehnt einer bewaffneten Gruppe namens „Chimères“.

Doch diese Gruppen haben sich mehr und mehr aus der Abhängigkeit von einzelnen Politikern gelöst, stabile Strukturen aufgebaut und sich zu eigenständigen politischen Kräften entwickelt. Nun versuchen sie, sich als Beschützer der Bevölkerung und als Alternative zum gescheiterten haitianischen Staat zu inszenieren. In einem Video spricht Chérizier davon, dass es der Staat sei, der die Menschen in der Misere halte. Die Botschaft ist klar: Wir machen es besser. Die Treibstoffkrise ist eine Machtdemonstration gegenüber einer inkompetenten und illegitimen politischen Führung.

Die Bevölkerung überlebt unterdessen nicht zuletzt aufgrund von Geldsendungen der großen haitianischen Diaspora. Diesen Umstand nutzen Banden, die Entführungen planen – Tausende US-Dollar Lösegeld sind für die meisten Haitianerinnen und Haitianer unmöglich zu bezahlen, das Geld kommt häufig von Verwandten in den USA oder anderswo. Die haitianische Migration wird jedoch von den meisten Staaten der Region bekämpft. Im September drängten berittene US-Grenzpolizisten rund 15.000 haitianische Migrantinnen und Migranten an der Grenze zu Mexiko brutal zurück. Mitte Oktober zählte die „Internationale Organisation für Migration“ (IOM) über 10.000 haitianische Migrantinnen und Migranten, die binnen eines Monats vor allem aus den USA, aber auch aus Kuba und von den Bahamas nach Haiti abgeschoben worden waren.

Unterdessen haben einige Staaten der unmittelbaren Nachbarschaft unter Ägide der Dominikanischen Republik den Vorschlag unterbreitet, Haiti zu entwaffnen. In den vergangenen zehn Jahren kamen große Mengen Waffen nach Haiti, worin insbesondere die Dominikanische Republik aufgrund ihrer Landgrenze zu Haiti eine Bedrohung für die eigene Sicherheit sieht. Wie eine solche Entwaffnung aussehen soll, bleibt jedoch unklar. Weder Ordnungskräfte noch kriminelle Banden werden ihre Waffen freiwillig abgeben, dafür wäre eine Militärintervention nötig – die USA, der einzige Akteur, der dazu in der Lage wäre, schließt eine solche bisher aber aus. Die bislang letzte Militärintervention in Haiti, die unter der Verantwortung der Vereinten Nationen von 2004 bis 2017 stattfand, schleppte die Cholera ins Land und führte nicht zu einer dauerhaften Stabilisierung der Lage. Haitis Abstiegskampf wird wohl weitergehen.

Haiti ist so zum Zerrbild des einst von westlichen Nationen propagierten Konzepts des „nation building“ und „state building“ geworden. Nicht internationale Geldgeber, die die lokale Führungsschicht alimentieren, bauen staatliche Strukturen auf, sondern Banden, die ihren Machtanspruch politisch verstetigen wollen. Haiti ist insofern zugleich ein Verfallsprodukt des Projekts bürgerlicher Staatlichkeit als auch das Labor seines Nachlebens unter Bedingungen eines unter Stress stehenden Akkumulationsregimes. Deshalb dürfte auch anderen Staaten eine „Haitianisierung“ drohen. Die Kombination aus Korruption, ökonomischer Dauerkrise und Abhängigkeit, politischer Instabilität sowie einer starken, im Zuge der Klimaveränderungen noch wachsenden Verwundbarkeit durch Naturkatastrophen dürfte künftig auch andere Staaten des globalen Südens destabilisieren.

Leander F. Badura arbeitet als freier Journalist.

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