Im Kino: Aftersun

In Charlotte Wells’ Erstlingswerk lässt eine Frau einen Türkei-Urlaub mit ihrem damals dreißigjährigen Vater Revue passieren. Die unbeschwerte Zeit bewertet sie aus heutiger Perspektive anders.

Calum ist bemüht, Sophie von seiner inneren Verfassung abzuschirmen. (Fotos: © Outside the Box)

Sonne, Pool, Karaoke: Das All-Inclusive-Hotel, in dem der dreißigjährige Calum (Paul Mescal) und seine elfjährige Tochter Sophie (Frankie Corio) ihren Türkei-Urlaub verbringen, hat so einiges zu bieten. Die beiden sehen sich nicht oft – Calum wohnt in London, Sophie bei ihrer Mutter in Schottland –, umso größer ist das Bedürfnis, das meiste aus der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit herauszuholen. Sie schnorcheln, spielen Billard, gehen ins Hammam und dann ist auch schon wieder Zeit für ein Mittagsschläfchen auf dem Liegestuhl.

Das, was wir hier sehen, ist eine Erinnerung. Das wird schon nach wenigen Minuten klar, als eine von Sophies Camcorder-Aufnahmen aus diesem Urlaub erst abrupt gestoppt und dann zurückgespult wird. In der Spiegelung des Fernsehapparats sehen wir eine Frauengestalt: eine erwachsene Sophie, die sich die Videos aus den 1990ern ansieht.

Schon am Drehbuch wird das Talent von Newcomer-Filmemacherin Charlotte Wells deutlich. Statt plumper Dialoge gibt es subtile Anspielungen: Informationen über Calum und Sophie sind über die 100 Minuten Spielzeit verstreut. Calum stellt zwar ab und zu eine Frage oder erzählt von einer Erfahrung, meist ist es aber Sophie, die eine Unterhaltung zu initiieren versucht. Wann hast du Omi zuletzt besucht? Wieso sagst du immer noch „Ich liebe dich“ zu Mami, obwohl ihr nicht mehr zusammen seid? Wirst du irgendwann wieder nach Schottland ziehen? Calum antwortet oft recht wortkarg, manchmal auch gar nicht. Immer dann, wenn Letzteres zutrifft, ahnen wir, dass Sophie einen wunden Punkt getroffen hat. Die ständig wechselnde Dynamik zwischen den beiden – das Ringen um Nähe, die Schaffung von Distanz – ist das eigentliche Spannungsmoment des Films.

Erinnern, um zu verstehen

Vieles kann man erst im Nachhinein richtig einordnen – oder zumindest besser als am Anfang. Genau davon handelt „Aftersun“: Von einer erwachsenen Person, die auf eine ganz spezifische Periode ihrer Kindheit zurückblickt und nun aus dieser Perspektive vieles sicherlich anders einordnet. Ausgesprochen wird es nicht, wie so vieles, wird auch das im Film nur angedeutet. An einer Stelle fragt Sophie ihren Vater, ob es wehgetan habe, als er sich den Arm brach. Er antwortet: „Ich weiß es nicht.“ Es sind Aussagen wie diese, die einem als Kind zwar vielleicht ungewöhnlich vorkommen, über die man aber Jahre danach anders nachdenkt.

Irgendetwas stimmt nicht, das wird den Zuschauer*innen schon sehr bald klar. Calum ist mehr als nur ein wenig betrübt, weil sein bisheriges Leben nicht so verlaufen ist, wie er es sich erhofft hatte. Als Elfjährige kann Sophie das freilich noch nicht verstehen. Den Großteil ihrer Aufmerksamkeit widmet sie etwas älteren Teenagern im Hotel. Genau an der Schwelle zur Pubertät stehend, hat sie verständlicherweise andere Sorgen als die mentale Gesundheit ihres Vaters.

Dieser ist zudem sehr darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen. Und in Momenten, in denen seine innere Verfassung offenbar wird, ist Sophie meist nicht zugegen. Calums Motiv ist zweifelsohne seine Tochter zu schützen, ihr den Urlaub nicht zu verderben. Dadurch, dass er sein Befinden überspielt, raubt er der Erfahrung aber zugleich die Authentizität. „War der Urlaub wirklich schön oder war alles nur Theater?“, muss Sophie sich im Nachhinein gefragt haben.

Die emotionale Distanz zwischen Calum und Sophie wird auch durch die Bildgestaltung visualisiert. Vor allem im Schlafzimmer sind die beiden selten innerhalb eines Bildes zu sehen: Entweder eine*r von beiden ist im Badezimmer oder umgekehrt. Oder aber eine*r ist lediglich in einer Spiegelung zu sehen. Die Urlaubshandlung ist gespickt mit dialogfreien Szenen von der erwachsenen Sophie bei einem Rave. Durch den Stroboskopeffekt sind die Menschen dort kaum zu erkennen. Diese Szenen verraten uns mehr über Sophies Gefühlsleben, als es ein Dialog jemals tun könnte. Wells setzt die visuellen und akustischen Mittel der Filmkunst so gekonnt ein, dass wir als Zuschauer*innen schon ahnen können, wie es nach der Filmhandlung für Calum weitergeht, ohne dass es aber jemals explizit gesagt oder gezeigt wird. Das naturalistische Spiel des Protagonist*innen-Duos tut sein Übriges, um uns in die Haut der Figuren zu versetzen.

Hätte mir etwas auffallen können, wenn ich weniger auf mich konzentriert gewesen wäre? Habe ich durch meine Fragen unnötig Salz in die Wunde gestreut? Wie gehe ich damit um, dass meine Eltern nicht die Menschen sind, als die ich sie als Kind wahrgenommen habe? Ob die erwachsene Sophie sich all diese Fragen stellt, erfahren wir nicht. Das spielt auch keine Rolle. Was „Aftersun“ so besonders macht, ist wie der Film den Trauerprozess einer jungen Frau emotional nachvollziehbar macht.

Im Utopia. Alle Uhrzeiten finden Sie hier.

Bewertung der woxx : XXX


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