Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Verfolgung schwuler Männer in Deutschland nicht vorbei. In seinem neuen Film erzählt der österreichische Regisseur Sebastian Meise aus der Perspektive eines Betroffenen.

Anfangs sieht Viktor in Hans nicht mehr als einen „Perversen“. (Fotos: © Freibeuterfilm_Rohfilm)
Deutschland, 1968: Ein junger Mann namens Hans (Franz Rogowski) muss eine 20-monatige Gefängnisstrafe absitzen. Es scheint nicht zum ersten Mal zu sein: Er kennt das Gebäude, die Rituale, manche der Insassen. Der Freiheitsentzug gehört genauso zu Hans’ Leben wie seine sexuelle Orientierung. Sie ist es, die ihn in den Augen der Gesellschaft zu einem Kriminellen macht.
1873 wurden homosexuelle Handlungen zwischen Männern in Deutschland unter Strafe gestellt. Der entsprechende Paragraf 175 wurde 1935 von den Nationalsozialisten überarbeitet, die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre angehoben. Im Gegensatz zur DDR hielt die BRD bis 1969 an dieser Version fest.
Genau dort lebt auch Hans. Mittels einer versteckten Kamera wurde er von den Behörden beim Sex mit Männern auf einer öffentlichen Toilette gefilmt. Im Gefängnis hört die Stigmatisierung aber nicht auf: Der auf seiner Zellentür angebrachte Verweis auf seine Straftat lässt ihn zu einer potenziellen Angriffsfläche für homofeindliche Insassen werden.
Als Hans eines Tages im Gefängnishof eine Gruppe von Männern dabei beobachtet, wie sie einen jüngeren schwulen Insassen bedrängen, geht er dazwischen – und landet dafür prompt in Einzelhaft: Tagelang muss er bis auf die Unterhose ausgezogen in einem stockdunklen Raum ausharren.

Eine ihm zugeworfene Streichholzschachtel wird in der Einzelzelle für Hans zum einzigen Trostspender.
Nach dieser Schwarzblende sind wir im Jahr 1945: Gerade noch im KZ, kommt Hans nun ins Gefängnis. Immer wieder erfolgen in „Große Freiheit“ solche Zeitsprünge. Was Hans außerhalb des Gefängnisses erlebt, erfahren wir nicht. Der Fokus auf seine Inhaftierungen hat zweierlei Effekte: Einerseits wird das Klaustrophobische, Entwürdigende und Monotone an diesen Gefängnisaufenthalten für die Zuschauer*innen dadurch greifbarer, andererseits wird so deutlich, wie wenig sich in Hans’ Leben mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geändert hat.
Was das mit Hans macht, wird lediglich angedeutet. Seine politische Verfolgung scheint er mehr oder weniger widerstandslos hinzunehmen. Oder zumindest zu verdrängen. Stattdessen konzentriert er sich auf die wenigen Freuden, die ihm noch bleiben. Anders als die heterosexuellen Insassen um ihn herum, ist körperliche Intimität für ihn nämlich auch in diesem Kontext möglich.
Während seine Gefängnisliebhaber stets wechseln, bildet ausgerechnet sein Verhältnis zu dem anfangs homofeindlichen Zellenmitbewohner Viktor (Georg Friedrich) die Konstante in Hans’ Gefängnisaufenthalten. Viktor sitzt wegen Mord, ob er jemals wieder freikommt, erfahren wir nicht. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit freunden sich die beiden Männer an. Draußen wäre das wohl nicht passiert, im Gefängnis jedoch lernen sie, füreinander da zu sein – eine Entwicklung, die die beiden Schauspieler glaubwürdig vermitteln.
Besonderes Lob gilt Franz Rogowski, der dem so traumatisierten wie optimistischen Hans mit jedem Wort, jeder Geste und jedem Blick Leben einhaucht. So zurückhaltend sein Spiel auch ist: In jedem Augenblick vermittelt er, dass weit mehr in dieser Figur vorgeht, als er sagt.
In „Große Freiheit“ geht es ebenso um das Leben im Gefängnis wie um Freundschaft und Resilienz. Dabei wird nüchtern erzählt, auf die Tränendrüse drücken will Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Meise mit seinem Film nicht. Wie Hans, lernt man auch als Zuschauer*in, sich auf die wenigen Momente von Menschlichkeit, Zärtlichkeit und Schönheit zu konzentrieren. Wirklich aufatmen kann man aber nicht einmal am Ende des Films: Zwar wurde der Paragraf 175 im Jahr 1969 gelockert, gänzlich aufgehoben wurde er jedoch erst 1994. Ob die fiktive Figur Hans dies noch miterlebte, lässt der in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnete Film offen.
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