Der Autor und Journalist Mark Gevisser hat mit seinem neuen Buch „Die pinke Linie“ ein Referenzwerk für LGBTQ+ Geschichte geschrieben. Auf Reisen durch über zwanzig Länder dokumentiert er politische Entwicklungen und porträtiert queere Menschen.
Ich verdanke Mark Gevisser meine erste Weltreise – und die führte an zahlreichen Pride-Flaggen entlang. In seinem Buch „Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität”, 2021 in der deutschen Übersetzung im Suhrkamp Verlag erschienen, nimmt er seine Leser*innen mit in afrikanische und indische Dorfgemeinschaften, sowie an Colleges in den USA oder nach Russland, um LGBTQ+ Menschen aus aller Welt zu treffen.
Gevisser reiste in den letzten sieben Jahren in über zwanzig Länder und begegnete vor Ort Menschen, die entweder von der binären Geschlechterordnung abweichen oder in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben. Manchmal auch beides. Stilistisch lässt sich sein Buch irgendwo zwischen Reisereportage, Essay und Artikel verorten. Eine Mischung, die das Geschriebene lebhaft macht. Der Mehrwert seines Werks liegt zweifelsfrei auch in seiner nicht-eurozentrischen Weltsicht.
Der Autor thematisiert zum Beispiel den Einfluss der Kolonialmächte, wenn es um die Rechte Homosexueller in Afrika geht. An einer Stelle schreibt er: „Großbritannien verlor den größten Teil seines Weltreichs, bevor es 1967 die Homosexualität legalisierte, was zur Folge hatte, dass homosexuelle Handlungen in fast allen unabhängig gewordenen Ländern des Commonwealth illegal blieben.” Er zitiert außerdem den indischen Rechtswissenschaftler Alok Gupta, der die homosexuellenfeindlichen Maßnahmen der britischen Kolonialmächte als Obsession beschreibt – als die „Angst vor ‘moralischer Infektion’ durch die indigene Bevölkerung und dem Bedürfnis, die neuen Untertanen ‘moralisch zu reformieren’.”
In dem Kontext verweist Gevisser auch auf die Geschichte des bugandischen Königs Mwanga II. Buganda, historische Kernregion des heutigen Uganda, war damals das mächtigste Königreich Afrikas. Der Machthaber Mwanga II soll in den 1880er-Jahren katholische und protestantische Höflinge, die ihm Sex verweigerten, öffentlich verbrannt haben. 1888 wurde er durch eine Koalition von Christ*innen und Muslim*innen – mit der Hilfe von Großbritannien – gestürzt und Buganda kolonialisiert. „Die Entstehung des modernen christlichen Uganda ist also mit der Ausmerzung des Gräuels der Homosexualität verbunden”, erklärt Gevisser. An dieser Stelle anzumerken: In einem Artikel aus der taz zu Mwanga II ist von pädophilen Neigungen des Königs die Rede, nicht von Homosexualität. Darauf geht Gevisser in seinem Buch leider nicht ein.
Kritik an westlichen Bemühungen
Dafür spricht er ferner über den heutigen Druck westlicher Staaten gegen queerfeindliche afrikanische Länder. Er nennt folgendes Beispiel: 2011 zog der britische Premierminister David Cameron in Erwägung, die Entwicklungshilfe an die Legalisierung der Homosexualität zu knüpfen. Afrikanische Aktivist*innen der Schwulenbewegung berichteten kurz danach über einen „signifikanten Anstieg homophober Gewaltakte (…) und fast alle LGBT-Organisationen und führenden Mitglieder der Bewegung unterzeichneten einen offenen Brief, der eine Politik verurteilte, die queeren Afrikaner*innen das Leben nur noch schwerer machen würde“.
Ähnliche Kritik gibt es, so Gevisser, auch von Aktivist*innen aus arabischen Ländern. Einige von ihnen würden bezweifeln, dass der „identitätsbasierte westliche Ansatz für die Ausweitung der sexuellen Freiheit auch für Weltregionen geeignet ist, die nicht über die liberale westliche Tradition verfügen“. Er nennt Joseph Massad, Professor für zeitgenössische arabische Politik und Ideengeschichte. Der Politikwissenschaftler vertrat 2002 in einem „provokativen und einflussreichen Essay“ dieselbe Ansicht und machte Menschenrechtsaktivistinnen für die Zerstörung „ursprünglicher Formen homosexueller Aktivitäten in der arabischen Welt“ verantwortlich.
Gemeint waren wohl das übliche Händchen halten in der Öffentlichkeit oder das gegenseitige Waschen in Badehäusern zur Tarnung homosexueller Aktivitäten. Die seien inzwischen „suspekt“. Massad spricht in dem Essay von einem „verengten Spielraum“, weil westliche Bewegungen die „fluide Sexualität arabischer Männer“ jetzt in „gay“ oder „hetero“ zwinge. Gevissers Recherchen und Gesprächspartner*innen bestätigen diese Annahmen teilweise.
Über die einzelnen Aussagen und Positionen lässt sich zweifelsfrei streiten, doch es ist notwendig die Perspektiven möglichst vieler Kulturkreise in die Diskussion über die Rechte und Sichtbarkeit von LGBTIQA+ Menschen einzubinden. Vor allem im Hinblick auf die rezenten Ereignisse in Europa. Ungarn verabschiedete vor wenigen Tagen ein Gesetz, das die Verbreitung von Inhalten über homosexuelle oder trans Menschen an Minderjährige untersagt. Das, nachdem die ungarische Regierung bereits 2020 die Personenstandänderung verbot. Polen verfolgt ebenfalls seit Jahren eine queerfeindliche Politik. In der Schweiz kommt es im Herbst zum zweiten Jahr in Folge zur Volksabstimmung über die Rechte von homosexuellen Menschen – nachdem sich die rechtskonservativen Parteien Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) und Schweizerische Volkspartei (SVD) gegen Regierungsbeschlüsse auflehnten. Die Möglichkeit diese Entwicklungen in einen globalen Kontext einzuordnen, ist wichtig, um drohende Rückentwicklungen sowie Gegenreaktionen aus den eigenen Reihen zu erkennen.
Fragilität queerer Rechte
Gevisser führt vor Augen wie schnell es zum politischen Sinneswandel gegenüber LGBTIQA+ Menschen kommen kann und wie zerbrechlich die Errungenschaften der Aktivist*innen sind. Er erwähnt den Libanon, wo 2004 die erste offene LGBT-Organisation der Region entstand. Sie baute das internationale Netzwerk „Arab Foundation for Freedoms and Equality“ auf. 2019 wurden Mitglieder des Netzwerks bei einem Jahrestreffen vom Geheimdienst des Landes verhaftet – „zum Schutz der Gesellschaft vor importierten Lastern.“ Gegen die internationalen Teilnehmer*innen verhängte man ein Wiedereinreiseverbot. Ein anderes Beispiel: die Türkei. Gevisser schreibt über die Jahre, in denen die Türkei um die EU-Mitgliedschaft bestrebt war und sich deswegen auch um Offenheit gegenüber der LGBTIQA+ Gemeinschaft bemühte.
„Ab 2003 gab es Gay-Pride-Paraden, die auf dem Taksim-Platz am Gezi-Park starteten – die ersten in der muslimischen Welt“, erinnert Gevisser sich. „Im Jahr 2013 nahmen mehr als 10.000 Menschen an der Parade teil, 2014 wurde sie nach der Besetzung des Gezi-Parks, bei der LGBT-Aktivist*innen eine wichtige Rolle gespielt hatten, verboten.“ Später kam es zu Polizeigewalt gegen queere Aktivist*innen, zu Verboten aller LGBT-Veranstaltungen in Ankara sowie zu Morden an trans Frauen. Die Türkei zeige, so Gevisser, die höchste Mordrate an trans Frauen in Europa auf. Auch laut ILGA-Europe verschlechtert sich die Lage am Bosporus kontinuierlich. 2020 waren dort vier Prozent der bestehenden queerfreundlichen Gesetze in Kraft.
Gevisser traf bei seinen Recherchen auf Menschen, die aufgrund queerfeindlicher Diskriminierung und Verfolgung aus ihrer Heimat flüchteten. Die Gespräche mit ihnen zeigen, dass mit der Flucht neue Probleme einhergingen. Eine lesbische Ägypterin wurde beispielsweise mit Fremdenfeindlichkeit in den Niederlanden konfrontiert und sehnte sich bald zurück nach Kairo. Eine Stadt, in der sie sich nach dem arabischen Frühling zunehmend unsicher fühlte. Ähnliches widerfährt Homosexuellen aus Jaffa, Tel Aviv und Ramallah, denen Gevisser begegnet ist. Der Nahostkonflikt und ihre Homosexualität macht sie gleich doppelt angreifbar und verletzlich.
Die Zusammenhänge zwischen Politik und Queerfeindlichkeit, zwischen Revolution und Regression, die Gevisser offenbart, sind zugleich lehrreich und tragisch. Es sind vor allem ambivalente, komplexe Erzählungen. Genauso stellt Gevisser auch die Themen Geschlechtsidentitäten und trans Bewegungen dar. Der Autor bewegt sich einerseits auf dünnem Eis, wenn er transfeindliche Menschen zu Wort kommen lässt. Andererseits zeichnet er ein umfassendes Bild der Debatten über trans Rechte und Gemeinschaften. Er dokumentiert Konflikte zwischen Communities von trans Menschen – sowohl in Indien, auf den Philippinen als auch in den USA – , trans Feindlichkeit innerhalb der LGBTIQA+ Gemeinschaft sowie zwischen Eltern und ihren Kindern. Dabei erzählt er jedoch auch positive Geschichten von trans Menschen, die auf Akzeptanz hoffen lassen. Den Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung kann man Gevisser in dem Zusammenhang jedenfalls nicht machen.
„Die pinke Linie“ wird somit zum Referenzwerk für alle, die sich für LGBTIQA+ Bewegungen interessieren. Auch wenn man an manchen Stellen mit den Augen rollt, wenn Gevisser sich als Helfer stilisiert und über seinen „Stolz“ auf seine Interviewparnter*innen schreibt. Die Recherche und die Arbeit, die zwischen den Buchdeckeln stecken, sind dennoch bemerkenswert.
Der Autor:
Mark Gevisser ist unter anderem Journalist und Autor aus Südafrika. Er schreibt für die Leitmedien Südafrikas über politische und kulturelle Themen. Mit einem Stipendium der Open Society Foundation reiste er in mehrere Länder und schrieb Artikel über LGBTQ+ Menschen, die teilweise in sein Buch „Die pinke Linie“ einflossen.
Mark Gevisser: Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität. Suhrkamp Verlag: 2021. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heike Schlatterer.