Die Situation von LGBTI-Menschen ist europaweit bedenklich

Wie steht es um die Rechtslage und um das Wohlbefinden von LGBTI-Menschen in Europa? Zwei neue Dokumente der ILGA-Europe und der Europäischen Union für Grundrechte geben Anlass zur Sorge.

CC BY r2hox SA 2.0

Im öffentlichen Diskurs sind queere Menschen meist unsichtbar. Sie treten oft nur als Randfiguren politischer Debatten auf, wobei ihr Anspruch auf Menschenrechte von Anti-Gender-Bewegungen kontrovers besprochen wird. Am 14. Mai 2020 veröffentlichten sowohl ILGA-Europe als auch die Europäische Union für Grundrechte (FRA) Studien, die einen Einblick in ihre Lebensrealität in Europa geben. Auf politischer und auf gesellschaftlicher Ebene besteht Handlungsbedarf.

ILGA-Europe publiziert seit 2010 jährlich einen Index, der die Rechtslage von LGBTI-Menschen in Europa dokumentiert. Die Organisation hält im Zuge der Präsentation der Rainbow Map 2020 fest, dass diese sich letztes Jahr in 49 Prozent der EU-Länder nicht verbessert hat. Es sei das zweite Jahr in Folge, in dem sich die Situation teilweise sogar eher verschlechtert habe. „This is a critical time for LGBTI equality in Europe. With each year passing, more and more countries continue to fall behind in their commitments to equality for LGBTI people, while more governments take active measures to target LGBTI communities“, schreibt Evelyn Paradis, Direktorin von ILGA-Europe, dazu auf der Website der Organisation.

In Ungarn sanken die Rechte von LGBTI-Menschen um 8,46 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit führt Ungarn die Liste der Länder an, die 2019/2020 den Rückwärtsgang einlegten. Der Fall ist auf die Einstellung legaler Prozeduren zur Personenstandänderung und auf den mangelhaften Schutz von LGBTI-Aktivist*innen bei öffentlichen Veranstaltungen zurückzuführen. In der Türkei verschlechtert sich die Situation, so ILGA-Europe, seit 2015 kontinuierlich. 2019 waren dort vier Prozent der queerfreundlichen Gesetze in Kraft. Schlechter schneidet nur Azerbaijan mit zwei Prozent ab.

Luxemburg landet hingegen zusammen mit Belgien auf Rang drei. Im Großherzogtum gelten 73 Prozent der besagten Gesetze und Regelungen. Die LGBTI-Organisation „Rosa Lëtzebuerg“ gibt Luxemburg in einer Stellungnahme zu den ILGA-Ergebnissen trotzdem Hausaufgaben auf. „Luxemburg könnte sich recht zügig ein Verbot von Konversionstherapien geben. Auch das leidige Thema des Blutspendenverbotes für Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten könnte längst gelöst sein“, sagt Tom Hecker, Präsident der Organisation.

Bruchlandung nach der Pandemie?

Die Daten zur Erstellung der Rainbow-Map wurden vor der Covid-19 Krise erhoben. Die woxx verwies bereits in „Queerfeindlichkeit und Corona: Rechte von trans Menschen auf Talfahrt“ darauf, dass die Diskriminierung queerer Menschen und ihre Isolation durch die sanitäre Krise weltweit zunimmt. Das Centre d´information gay et lesbien (Cigale) ging in einem Schreiben zu Covid-19 und LGBTI-Menschen näher auf die allgemeinen Probleme ein, mit denen queere Menschen derzeit besonders zu kämpfen haben. Die Leiterin des Zentrums, Enrica Pianaro, äußerte sich darüber hinaus im „Lëtzebuerger Journalbesorgt über die Situation junger LGBTI-Menschen, die während der Ausgangsbeschränkungen zuhause einem hohen Risiko häuslicher Gewalt und der Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität ausgeliefert seien.

Ähnlich sorgenvoll angesichts der Auswirkungen der Krise auf LGBTI-Menschen, klingt die ILGA-Direktorin Evelyn Paradis: „History shows that those who are vulnerable before a crisis only become more vulnerable after a crisis, so we have every reason to worry that political complacency, increased repression and socio-economic hardship will create a perfect storm for many LGBTI people in Europe in the next few years.“ In dem Kontext lohnt sich ein Blick auf die Ausgangssituation. Die FRA gibt mit der Studie „A long way to go for LGBTI quality“ – es ist nach der FRA-Studie von 2012 die zweite und bisher umfangreichste Studie zu LGBTI-Menschen in Europa – einen Anhaltspunkt.

Ähnlich bescheiden wie 2012

Über die Hälfte der 140.000 Befragten gaben an, im Jahr vor der Datenerhebung queerfeindliche Angriffe erlebt zu haben. Trans und intersex-Personen sind am meisten betroffen. Es verwundert demnach nicht, dass insgesamt 61 Prozent aller Befragten aus Angst vor Belästigugnen und Gewalt es vermeidet in der Öffentlichkeit mit ihren Parnter*innen Händchen zu halten. Tatsächlich gehen die wenigsten Umfrageteilnehmer*innen offen mit ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität um. Allen voran bisexuelle Männer, die zu 77 Prozent gar nicht bis selten geoutet sind, dicht gefolgt von intersex Menschen (70 Prozent), bisexuellen Frauen (65 Prozent) und trans Menschen (60 Prozent).

Bildquelle: cottonbro/ Pexels

In Luxemburg leben 56 Prozent der Befragten ihre sexuelle Orientierung oder ihre Geschlechtsidentität oft bis immer offen aus. Gleichzeitig wurden 37 Prozent der insgesamt 361 Umfrageteilnehmer*innen aus Luxemburg im Jahr vor der Umfrage Opfer queerfeindlicher Belästigungen, 10 Prozent erfuhren aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Sexualität körperliche oder sexualisierte Gewalt in den vergangen fünf Jahren. 19 Prozent der Betroffenen haben die Fälle von Diskriminierung gemeldet. Nach körperlichen Gewalterfahrungen wandten sich 21 Prozent der Opfer aus Angst vor queerfeindlichen Reaktionen nicht an die Polizei.

Zwar sind LGBTI-Menschen laut FRA im Schnitt nicht unzufriedner als heterosexuelle cis-Menschen, doch variiert ihr Maß an Wohlbefinden stark. Es hängt unter anderem maßgeblich davon ab, ob sie geoutet sind oder nicht. Micheal O’Flaherty, Direktor der FRA, bedauerte in einer Videobotschaft zur Veröffentlichung der Studienergebnisse, dass es europaweit keinen erheblichen Fortschritt in Sachen LGBTI-Freundlichkeit im Vergleich zu 2012 gibt. Er ruft die Zivilgesellschaft dazu auf, Eigenverantwortung zu übernehmen, um ein inklusiveres Lebensumfeld zu schaffen. Die EU-Kommission veröffentlichte im Februar 2020 eine Liste der Maßnahmen, die sie selbst im Kampf gegen die Diskriminierung von LGBTI-Menschen vornimmt.

ILGA-Europe und FRA präsentieren ihre Ergebnisse kurz vor dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie am 17. Mai 2020, über den auch die woxx kurz berichtete. Der Aktionstag findet dieses Jahr unter dem Slogan „Breaking the silencestatt. Im dem Zusammenhang ruft das Cigale, zusammen mit Amnesty International, in Luxemburg zur Unterzeichnung der Petition zum Schutz und der Freisprechung der militanten Feministin und russischen Künstlerin Youlia Tsvetkova auf. Die Aktivistin wird aufgrund ihres Engagements für Frauenrechte und LGBTI-Menschen bedroht und strafrechtlich verfolgt.


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