Integration: „Einen Schneeballeffekt verhindern“

Je länger der Krieg in der Ukraine währt, desto größer wird die Notwendigkeit einer langfristig ausgerichteten Integrationspolitik. Wir haben mit Sérgio Ferreira, dem politischen Beauftragten der Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés (Asti), über vergangene Fehler und aktuelle Herausforderungen gesprochen.

„Viele Fragen bleiben offen. Das zum Beispiel in puncto Arbeitsmarktzugang.“ – Im Gespräch mit der woxx plädiert Sérgio Ferreira von der Asti für intensive, praxisorientierte Sprachkurse für Flüchtlinge. (© bomdia.lu)

woxx: Wie gut ist Luxemburg zurzeit aufgestellt, um die Integration ukrainischer Flüchtlinge zu meistern?


Sérgio Ferreira: Nicht gut genug. Das liegt zum einen natürlich daran, dass wir uns aktuell in einer absoluten Ausnahmesituation befinden. Bisher ging der Rekord der nach Luxemburg geflüchteten Menschen auf das Jahr 1999 zurück. Während des Balkankriegs kamen damals innerhalb eines Jahres rund 3.000 Menschen nach Luxemburg – so viele wie jetzt in nur einem Monat. Eine große Herausforderung stellt vor allem die private Beherbergung dar, da diese hierzulande ein eher neues Phänomen ist. Es ist vor allem der Reaktivität und Kreativität der Behörden und Organisationen sowie der Hilfsbereitschaft der breiten Bevölkerung zu verdanken, dass die Beherbergung bisher so erfolgreich verlaufen ist.

Die Freiwilligenarbeit wird von der Asti koordiniert. Wie kommen diese Arbeiten voran?


Die Freiwilligenarbeit ist ein unerlässlicher Aspekt des Integrationsprozesses, weil sie eine Annäherung zwischen Migranten und Einheimischen ermöglicht. Aktuell werden diejenigen, die im Bereich der Beherbergung helfen wollen, von uns an die Caritas und die Croix-Rouge weitergeleitet. So wichtig aber Freiwilligenarbeit auch ist, sie muss betreut werden. Innerhalb der nächsten Monate soll deshalb ein Angebot an Weiterbildungen ausgearbeitet werden. Nicht nur in Bezug auf ukrainische Flüchtlinge, sondern allgemein. Interessierte werden sich dann etwa über Rechte und Pflichten von Asylbewerbern und Asylempfängern informieren können, oder über die unterschiedlichen Hilfsstrukturen und Wohnmöglichkeiten. Sie können aber auch an Weiterbildungen teilnehmen, um zu lernen, die Anzeichen für Traumata oder Menschenhandel zu erkennen.

„In Luxemburg werden Asylbewerber nicht als Schutzbedürftige angesehen, sondern als Nutznießer.“

Sie haben jetzt vor allem die kurzfristigen Herausforderungen angesprochen, sicherlich stellen sich aber auch längerfristige?


Viele Fragen bleiben offen. Das zum Beispiel in puncto Arbeitsmarktzugang. Die meisten Menschen aus der Ukraine verfügen nicht über die nötigen Sprachkompetenzen, um hierzulande eine Arbeit zu finden. Es muss jetzt möglichst schnell ein Angebot an intensiven, praxisorientierten Sprachkursen geschaffen werden, und dazu fehlen aktuell die Mittel. Die Geschichte der Migrationsbewegungen lehrt uns, dass viele Menschen dauerhaft in dem Land bleiben, in das sie geflüchtet sind. Wir als Asti fordern deshalb schon seit Langem, mit der Integrationsarbeit zu beginnen, sobald eine geflüchtete Person luxemburgischen Boden betritt. Es ist höchste Zeit, dass wir uns die nötigen Mittel geben und in die Integration dieser Menschen investieren. Sie brauchen nicht nur Sprachkurse, sondern auch Weiterbildungen, um sie auf den hiesigen Arbeitsmarkt vorzubereiten. Wir müssen aus unseren vergangenen Fehlern lernen und es diesmal richtig machen.

Welche Fehler meinen Sie?


Wie eine 2021 veröffentlichte Studie der OECD aufgezeigt hat, besteht hierzulande in puncto Arbeitsmarktzugang noch viel Nachholbedarf. Die Menschen, die ins Großherzogtum kommen, erhalten Schutz, ihnen wird allerdings nicht dabei geholfen, autonom zu werden. Asylbewerber müssen sechs Monate warten, bevor sie eine Arbeitserlaubnis anfragen dürfen. Ein Arbeitsplatz ist jedoch unerlässlich, um sich eine Wohnung leisten zu können und aus dem Asylsystem rauszukommen. Dank einer gemeinsamen Studie von Liser und Cefis (Centre d’étude et de formation interculturelles et sociales; Anm. d. Red.) wissen wir, dass nicht-weiße Menschen bei der Wohnungssuche benachteiligt werden. Dies umso mehr, wenn sie keine Arbeit haben und auf den Revis (Revenu d’inclusion sociale; Anm. d. Red.) angewiesen sind. Es muss alles darangesetzt werden, diesen Schneeballeffekt zu verhindern.

© kalhh/pixabay.com

„Es ist an der Zeit, dass wir dieses Know-how für evidenzbasierte Migrationspolitik nutzen.“

Der Lëtzebuerger Flüchtlingsrot, zu welchem auch die Asti gehört, hat in den vergangenen Wochen die unterschiedliche Behandlung von ukrainischen und anderen Flüchtlingen kritisiert. Woher rührt diese Ungleichbehandlung in Ihren Augen?


Bei Immigrationsbehörden überall auf der Welt besteht das Phantasma: Je besser man Migranten behandelt, desto mehr werden ihr Land verlassen, um zu uns zu kommen. Das entspricht aber weder der Realität, noch lässt sich diese These wissenschaftlich bestätigen. Ausschlaggebend für eine Flucht ist nicht die Aufnahmesituation, sondern die Zustände in dem Land, das man verlässt. Niemand lässt alles in seiner Heimat zurück, weil er von der Sozialversicherung in Luxemburg profitieren möchte. Diejenigen, die sich ihr Migrationsland selbst aussuchen können, gehen zudem meist dorthin, wo sie vernetzt sind, sei es durch Freunde, Verwandte oder eine Community. Das Phantasma, das ich zuvor erwähnte, hält sich jedoch hartnäckig und ist der Grund, weshalb der Zugang zum Arbeitsmarkt möglichst schwierig gestaltet wird. In den Augen der Asti entbehrt das jeder Logik, immerhin werden dringend Arbeitnehmer gebraucht, vor allem im Handwerk.

Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass es diesbezüglich jetzt zu einem Umdenken kommt?


Die Autoritäten haben uns beteuert, dass zurzeit an einem Gesetzentwurf gearbeitet wird, um Asylbewerbern den Arbeitsmarktzugang zu erleichtern. Ich glaube das erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.

Welche weiteren Forderungen hat die Asti?


Erstens ist es höchste Zeit, dass Luxemburg ein neues Integrationsgesetz bekommt. Zweitens muss unbedingt enger mit der Wissenschaft zusammengearbeitet werden. Institute wie das Liser, das Cefis und die Universität Luxemburg haben in den letzten Jahren viel im Bereich der Immigration geforscht. Es ist an der Zeit, dass wir dieses Know-how für evidenzbasierte Migrationspolitik nutzen. Drittens bedarf es eines Mentalitätswandels. In Luxemburg werden Asylbewerber nicht als Schutzbedürftige angesehen, sondern als Nutznießer. Nach dieser Logik ist das Ziel von Migrationspolitik nicht, diese Menschen zu schützen, sondern unser Land vor ihnen zu schützen. Es reicht nicht, dass Luxemburg Mitglied des UN-Menschenrechtsrats ist: Luxemburgs Rhetorik muss endlich mit der Praxis übereinstimmen. Wir müssen kohärenter werden. Wir müssen einsehen, dass wir ein multikulturelles Land sind, und lernen, unter den bestehenden Umständen zusammenzuleben.

Wie könnte dieser Mentalitätswechsel gefördert werden?


Die einzelnen Parteien müssten sich selbstkritisch hinterfragen. Wenig hilfreich ist es etwa, auf Bürgerversammlungen wieder und wieder zu implizieren, dass die Kriminalität im hauptstädtischen Bahnhofsviertel ausschließlich von Migranten ausgehe. Das trägt zu einem fremdenfeindlichen Klima bei. Eine andere notwendige Maßnahme betrifft die Verfassung. „Les Luxembourgeois sont égaux devant la loi“, ist darin zu lesen. Welch ein Fauxpas! Wie können wir diese Formulierung als Immigrationsland beibehalten? Das mag nur symbolisch sein, aber es hat auch seine Wichtigkeit.

Die von Sérgio Ferreira erwähnte OECD-Studie mit dem Titel „Die Funktionsweise des Integrationssystems und seine Akteure im Großherzogtum Luxemburg“ wurde vom Ministerium für Familie, Integration und die Großregion in Auftrag gegeben. Im Rahmen der Ergebnisvorstellung im November 2021 wurden unter anderem Mängel bei der Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt deutlich. Die Forscher*innen kamen zum Schluss, dass die für Migrant*innen und anerkannte Flüchtlinge angebotenen Sprachkurse nicht ausreichen, um auf dem hiesigen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Laut Studie ist Luxemburg eines der OECD-Länder mit der geringsten Anzahl an Kursstunden. Die Forscher*innen kritisieren, dass das erfolgreiche Bestehen der Kurse einzig an der physischen Präsenz, nicht aber an den erworbenen Kompetenzen der Teilnehmenden festgemacht wird.

https://www.oecd.org/fr/migrations/Le-fonctionnement-du-systeme-dintegration-et-ses-acteurs-au-grand-duche-de-Luxembourg.pdf


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