Die italienische Verfassung soll grunderneuert werden, wenn es nach dem Willen von Matteo Renzi geht. Das Referendum zur Reform wird über die politische Zukunft des Ministerpräsidenten entscheiden – und über die Aushöhlung der italienischen Demokratie.
Die letzten Umfragen prognostizierten den Gegnern des italienischen Verfassungsreferendums einen Vorsprung von mehreren Prozentpunkten. Doch Ministerpräsident Matteo Renzi, der den Volksentscheid von Beginn an zu einem Plebiszit über seine Regierung stilisierte, gibt sich zuversichtlich, schließlich sei in diesem Jahr noch jede Wahlprognose falsch gewesen, warum sollte das ausgerechnet am 4. Dezember anders ein.
Zur Abstimmung steht die größte Verfassungsänderung in der Geschichte der italienischen Republik. Die geplante Revision eines Drittels aller Artikel zielt auf eine Neugestaltung des institutionellen Machtgefüges.
Auf dem Stimmzettel werden die komplexen Zusammenhänge zu einer Frage vereinfacht, die nur wenige, ausgewählte Aspekte des Reformvorhabens benennt. Abgefragt wird die Zustimmung zu einer Serie von Veränderungen, die ernsthaft niemand ablehnen kann, etwa die Überwindung des bisherigen Zwei-Kammern-Systems, die Reduzierung der Abgeordnetenzahl und eine Senkung der Ausgaben für den institutionellen Staatsapparat. Von den Oppositionsparteien wurde die Frage aufgrund ihres suggestiven Charakters als „Werbespot“ für die Reform kritisiert, Klagen des Movimento 5 Stelle (M5S) und der Linkspartei SEL gegen die irreführende Vereinfachung der Formulierung wurden jedoch vom zuständigen Verwaltungsgericht zurückgewiesen.
Das Reformvorhaben zielt nicht auf eine grundsätzliche Abschaffung des Zwei-Kammern-Systems. Der Senat wird lediglich zu einer Länderkammer verkleinert, statt den aktuell circa 300 direkt gewählten Mitgliedern soll er zukünftig noch 100 Mitglieder umfassen, die von den Regionalparlamenten entsandt beziehungsweise in geringer Zahl vom Staatspräsidenten ernannt werden sollen.
Mit der Umstrukturierung wird jedoch nicht die föderale Organisation gestärkt, vielmehr sollen künftig regionale Beschlüsse im „nationalen Interesse“ aufgehoben werden können. Die Klausel stößt vor allem bei den sozialen Bewegungen im Kampf gegen umstrittene Bauprojekte wie die Hochgeschwindigkeitstrasse TAV in Piemont oder die Brücke über die Meerenge von Messina auf Widerstand.
Der neue Senat soll seine bisherige legislative Kompetenz nur im Hinblick auf verfassungs- und europapolitische Fragen behalten, für die Mehrheit der Gesetzgebungsverfahren soll dagegen künftig allein das Parlament zuständig sein.
Die Verfassung wäre nicht länger Basis, sondern Gegenstand der politischen Auseinandersetzung – der Konflikt um die institutionellen Rahmen- bedingungen würde auf Dauer gestellt.
Im Abgeordnetenhaus erhofft man sich durch ein neues Wahlgesetz, dessen Verfassungsmäßigkeit derzeit noch geprüft wird, eindeutige und stabile Mehrheitsverhältnisse, indem der Partei, die die relative Stimmenmehrheit gewinnt und üblicherweise den Ministerpräsidenten stellt, ein überproportional hoher Wahlbonus in Form zusätzlicher Abgeordnetensitze zugesprochen werden soll. In der Kombination von Wahl- und Verfassungsgesetz erhielte demnach die Regierung einen Machtzuwachs, der durch keine parlamentarische Kontrollinstanz ausbalanciert würde.
Für Renzi ist die Verfassungsreform das Herzstück seines Regierungsprogramms: Vor knapp drei Jahren ist er als „Verschrotter“ der alten Eliten angetreten, mit dem Versprechen auf einen „schnellen“ und „schlanken“ Staat, in dem die politischen Entscheidungsprozesse „rationalisiert“ würden. Doch inzwischen ist das Charisma des selbsternannten „Erneuerers“ verblasst.
Die von ihm selbst geschürten anti-institutionellen Ressentiments werden auch von der rechtspopulistischen Konkurrenz bedient. Für die Lega Nord, die von ihrem Vorsitzenden, Roberto Salvini, nach dem Vorbild des Front National als Anti-System-Partei geführt wird, geht es bei der Abstimmung schon nicht mehr um die Verfassungsänderung, sondern um Renzis Abwahl.
Auch der Movimento 5 Stelle mobilisiert gegen die Verfassungsreform. Die Bewegung verweist auf inhaltliche Gründe, insbesondere auf die Einschränkungen der Partizipationsmöglichkeiten. Andererseits würde der M5S im Falle vorgezogener Neuwahlen als mutmaßlich stärkste Gruppierung vom Wahlbonus des neuen Wahlgesetzes profitieren.
Die Befürworter des Reformvorhabens warnen deshalb eindringlich vor der drohenden Unsicherheit einer Regierungskrise, sie fürchten negative Auswirkungen auf das Finanzsystem und einen allgemeinen rechtspopulistischen Aufschwung. Doch obwohl der M5S immer wieder propagiert, einen Volksentscheid über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone organisieren zu wollen, wurde die von der Londoner Wirtschaftszeitung „Financial Times“ vergangene Woche verbreitete Sorge, eine Abstimmungsniederlage Renzis würde Italiens Ausstieg aus dem Euro beschleunigen, allgemein als übertriebene Panikmache zurückgewiesen.
Wahrscheinlicher erscheint derzeit, dass es im Falle von Renzis Rücktritt nicht unmittelbar zu Neuwahlen käme, sondern einmal mehr eine Übergangsregierung eingesetzt würde, die nach einem neuen Reformkompromiss suchen müsste. Zu diesem mahnte zuletzt auch die englische Wochenzeitung „The Economist“, da der vorgelegte Verfassungsentwurf die populistische Gefahr nicht banne, sondern die Position des „starken Mannes“ überhaupt erst einführe.
Die Ablehnung einer übermäßigen Stärkung der Exekutive motiviert auch die linksliberale Nein-Kampagne, die von einer Minderheit der Demokratischen Partei, den linken Oppositionsparteien und zahlreichen Intellektuellen, darunter namhafte Verfassungsrechtler, getragen wird. Entgegen aller Diffamierungsversuche seitens der Regierung, bilden die Linksliberalen keine Querfront mit den rechtspopulistischen Gegnern der Verfassungsänderung. Sie betonen vielmehr die Kontinuität von Renzis Reformvorhaben mit früheren, von Silvio Berlusconis Rechtsregierungen eingebrachten, aber letztlich gescheiterten Reformvorschlägen.
Ebenso wie damals unter Berlusconi geht es heute unter Renzi um den Versuch, den Verfassungskonsens von 1948, aus dem seinerzeit nur die Nachfolgeorganisation der Faschisten ausgeschlossen war, aufzukündigen, um durch einen einfachen, parlamentarischen Mehrheitsbeschluss die Grundlagen des politischen Systems zu modifizieren. Mit der zur Abstimmung stehenden Reform würde ein Präzedenzfall geschaffen, die Verfassung wäre nicht länger die Basis der politischen Auseinandersetzung, sondern das Kampffeld wechselnder politischer Mehrheiten, der Konflikt um die institutionellen Rahmenbedingungen würde auf Dauer gestellt.
In einem über die Sommermonate ausgetragenen Streit mit Carlo Smuraglia, dem Präsidenten der Partisanenvereinigung Anpi, unterstellte Renzi den Gegnern seiner Reform eine nostalgische Verklärung der aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangenen Verfassung.
Tatsächlich geht es der linksliberalen Nein-Kampagne um den Erhalt des Konsensprinzips, das seinerzeit die verfassungsgebende Versammlung charakterisierte, nicht aber um die Verteidigung des Status quo. Insbesondere Gruppierungen aus dem Spektrum der sozialen Bewegungen betonen, dass ihr „Nein“ nicht auf die Bewahrung des Bestehenden zielt. Sie erinnern daran, dass die seit mindestens zwei Jahrzehnten betriebene Verleumdung der Verfassung als „sozialistisch“ längst dazu geführt hat, dass im Zuge der Bildungs-, Arbeits- und Rentenreformen ehemals fortschrittliche, in der Verfassung verankerte soziale Rechte kontinuierlich ausgehöhlt oder einfach abgeschafft wurden.
Die Verfassungs- und Wahlreform markiert demnach nur den vorläufigen Abschluss eines langen neoliberalen Transformationsprozesses. Mit ihrem „Nein“ versuchen die sozialen Bewegungen dazu beizutragen, dass der Abschluss kurzfristig aufgeschoben werden muss. Im Bewusstsein der globalen Vernetzung fordern sie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die nicht mehr auf den nationalstaatlichen Rahmen bezogen bliebe und die überlieferte Form der Staatsbürgerschaft radikal in Frage stellen würde. Dass sich im Falle einer Abstimmungsniederlage für Renzi wirklich die Chance für eine neue linke Mehrheit ergeben könnte, die in der Lage wäre, diesen Vorschlag aufzunehmen, glaubt niemand, dennoch bleibt er die einzige emanzipative Alternative im derzeitigen Verfassungsstreit.