Die langwierige Umsetzung trübt den Sieg der Schweizer KlimaSeniorinnen. Dennoch steigt die Anzahl der Klimaklagen weiterhin. Auch hierzulande lassen die „Seniors for Climate Luxembourg“ trotz mangelndem Dialog vonseiten der Regierung nicht nach.

Noch keine Klagen wie ihre Schweizer Kolleginnen, dafür aber eine steigende Dokumentationsarbeit und die Unterstützung von Initiativen wie eine Petition gegen Nachtflüge in Luxemburg: Seniors for Climate Luxembourg auf einer Protestaktion in Cents. (© Seniors for Climate Luxembourg)
Ist Klimaschutz ein Menschenrecht? Einem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zufolge: ja. Der Verein KlimaSeniorinnen mit über 3.000 Mitgliedern erlangte im Frühjahr letzten Jahres weltweite Berühmtheit, als er vor dem EGMR gegen die Schweizer Regierung gewann (woxx 1782). Die Klage inspirierte hierzulande eine Gruppe Männer und Frauen: Mit Unterstützung von Greenpeace Luxembourg entstand 2022 die Gruppe „Seniors for Climate Luxemburg“ (SFCL), gibt Jan-Antoine Thommes stolz an. Bei SFCL kümmert er sich als Kommunikationsleiter hauptsächlich um die Arbeit auf den sozialen Netzwerken, koordiniert die Facebook-Gruppe und versucht, neue Mitglieder anzuwerben. Eine Handvoll sind es bisher, alle über 50 Jahre alt.
Bei der öffentlichen Anhörung der Klage Verein KlimaSeniorinnen v. Schweiz stand die luxemburgische Gruppe ihren Schweizer Kolleginnen in Straßburg zur Seite. Deren Sieg war historisch: Der EMGR entschied, dass die wenig ehrgeizigen Klimaziele der Schweiz das Menschenrecht auf ein Privat- und Familienleben (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verletzen. Die erfolgreiche Klage ist nur eine auf einer wachsenden Liste.
Ungleiche Auswirkungen
Der Schweizer Fall fiel auch deswegen auf, weil die Klägerinnen ältere Frauen waren. Das war zum Teil Taktik, um vor Gericht bessere Chancen zu haben. Denn besonders Kinder (siehe News S. 3), ältere Personen und vor allem auch Frauen sind von der Klimakrise betroffen. Vermehrt zeigen Berichte die geschlechtliche Ungleichheit der Auswirkungen des Klimawandels. Ältere und prekärere Gruppen sind zunehmend bedroht, weil sie anfälliger für Hitzewellen sind, da die Erwärmung kardiovaskuläre Krankheiten verschlimmert. Somit sind sie einer höhere Sterblichkeitsrate ausgesetzt, wie der Sommer 2022 gezeigt hat. Auch in Luxemburg steige jetzt schon die Sterblichkeitsrate bei Personen über 75 Jahre um 5,5 Prozent an Tagen extremer Hitze, gibt das Gesundheitsministerium auf Nachfrage der woxx an. Schaut man sich Klima- und demographische Projektionen zusammen mit der aktuellen Sterberate an, könne einer jüngst veröffentlichten Studie zufolge die Anzahl der Todesfälle bei über 75-Jährigen bis 2050 von heutigen 9,8 Todesfällen auf 51,9 steigen, so das Ministerium.
„Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz steigen. Dehydrierung, Hyperthermie, Ermattung, Bewusstlosigkeit, Hitzekrämpfe und Hitzschlag sind Konsequenzen dieser gestörten Wärmeregulation“, zählen die KlimaSeniorinnen die Auswirkungen der Hitzewellen auf ältere Menschen auf. Mit diesen Fakten zog der 2016 gegründete Schweizer Verein vor Gericht. Die Taktik ging auf: Die Schweizer Klimapolitik, so das Urteil des EGMR am 9. April 2024, schütze ältere Frauen nicht ausreichend. Zum ersten Mal bekräftigte der Gerichtshof den wissenschaftlichen Konsens: Die Klimakrise gefährde Menschenrechte. Und: Klimaschutz sei ein Menschenrecht. Artikel 8 beinhalte einen Schutz vonseiten staatlicher Behörden gegen die schwerwiegenden Folgen des Klimawandels. Das Gericht beschloss zudem, dass es nicht genüge, lediglich das Netto-Null-Ziel bis 2050 zu erreichen, um die Menschenrechte der Seniorinnen auf Privat- und Familienleben zu schützen. Wie die Schweiz das Urteil umsetzt, könnte demnach wegweisend für andere Staaten sein.
Die Justiz als Lösung
Aktivist*innen, NGOs und Senio- r*innen, aber auch Kinder, Bürger- meister“innen und Landwirt*innen greifen vermehrt auf den Rechtsweg zurück, um die Klimakrise zu bekämpfen. Bei den Klimagerichtsverfahren handelt es sich um ein rezentes Phänomen, das bis vor einigen Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten auftrat, sich aber zunehmend weltweit zeigt. Von 2017 auf 2022 verdoppelte sich die Anzahl der Klimaklagen mondial auf 2.180, wie ein Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen feststellte. Mindestens 70 davon waren Klagen, die die Angemessenheit der Klimaschutzmaßnahmen von Regierungen infrage stellten. Die globale Datenbank „Climate Case Chart“ verzeichnet bisher rund 3.750 Klagen rund um den Klimawandel.

Im Frühjahr letztes Jahr fuhren die Mitglieder von Seniors for Climate mit dem TGV nach Straßburg, um dem Verein KlimaSeniorinnen bei der öffentlichen Anhörung des EGMR Urteils zu unterstützen. (© Greenpeace)
Obschon man von „Klimaklagen“ spricht, argumentieren die meisten auf Grundlage der Menschenrechte – entweder seien diese bereits verletzt worden oder in Zukunft nicht ausreichend geschützt. So richtet sich die Mehrheit der Klimaklagen gegen Staaten. Zunehmend gibt es aber auch solche gegen Unternehmen, etwa gegen den Energieversorgungskonzern RWE. Sie reichen von Mahnungen, ehrgeizigere Klimamaßnahmen zu setzen bis hin zu Entschädigungsforderungen für Klimaschäden „Mehr als die Hälfte der Klimaklagen haben direkte gerichtliche Ergebnisse, die als günstig für den Klimaschutz angesehen werden können“, heißt es in einer Studie der London School of Economics. Die deutsche Bundesregierung, musste beispielsweise 2021 nach einer erfolgreichen Klage ihr Emissionsreduktionsziel von 55 Prozent bis 2030 auf 65 Prozent erhöhen. Auch außerhalb der Gerichtssäle hätten „Klimaklagen weiterhin erhebliche indirekte Auswirkungen“, so die Studie weiter, etwa sinkende Aktienpreise der verklagten Ölunternehmen.
Verfehlte Umsetzung
Ein Sieg vor Gericht bedeutet aber nicht ein Ende der Arbeit, denn die Umsetzung der Urteile kann Jahre dauern. Laut dem Entscheid des EGMR muss die Schweiz nicht nur neue Gesetze mit ehrgeizigeren Klimaschutzzielen erlassen, sondern auch ein sogenanntes „CO2-Budget“ aufstellen. Die Schweizer Regierung muss ausrechnen, wie viel CO2 das Land noch ausstoßen könne, bevor die globale Erwärmung 1,5º Celsius überschreite. Wie sie dieses Urteil umsetzt, ist ihr überlassen.
Allerdings wird alles vom Ministerkomitee des Europarates überprüft. Die Schweizer Regierung reichte im vergangenen Oktober einen Bericht ein, der darlegt, wie weit das Urteil bereits umgesetzt worden ist: Ein neues CO2-Gesetz sowie eins über Stromversorgung würden garantieren, dass die Schweiz das Ziel, bis 2030 ihre Treib- hausgasemissionen um die Hälfte zu reduzieren, erreiche. Beide Gesetze traten am 1. Januar 2025 in Kraft. Zudem werde die Schweiz regelmäßig neue nationale Klimabeiträge kommunizieren. Das geforderte CO2-Budget fehlt jedoch im Bericht. „Die KlimaSeniorinnen sind da ziemlich enttäuscht“, sagt Thommes der Seniors for Climate, die regelmäßig in Kontakt mit dem Schweizer Verein stehen.
Eine Zahl hat die Schweiz sehr wohl angegeben: 660 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. Doch das sind einfach nur die Emissionen, die die Regierung in den nächsten Jahrzehnten emittieren will. „Das ist einfach eine Absichtserklärung, Treibhausgase zu emittieren, ohne Rücksicht auf das verbleibende globale Kohlenstoffbudget und seinen fairen Anteil“, kritisierten die KlimaSeniorinnen in einer Stellungnahme. „Die Schweiz beansprucht mit ihrer aktuellen Klima- strategie viel zu viel des global noch verfügbaren CO2-Budgets. Wenn die Schweiz so weiter macht wie geplant, hat sie schon 2032 das für sie grösstmögliche noch verfügbare Budget restlos aufgebraucht“, zitiert der Verein eine unabhängige Studie in seiner Pressemitteilung.
Der Kritik des Vereins sowie von NGOs wie Greenpeace und Children’s Trust gab das Ministerkomitee des Europarates Anfang März Recht: Die Schweizer Regierung erfülle die im EMGR-Urteil festgehaltenen Anforderungen an eine menschenrechtskonforme Klimapolitik nicht. Auch die Erklärung, dass die Schweiz weiterhin die im Rahmen des Pariser Abkommens geforderten Klimabeiträge einreichen würde, genüge nicht. Laut EGMR-Urteil bestehe die Verantwortung des Staates, die Menschenrechte vor den Auswirkungen der Klimakrise zu schützen, unabhängig von den Verpflichtungen internationaler Abkommen. In den nächsten Monaten muss das Land einen zusätzlichen Bericht einreichen und ein konkretes Kohlenstoffbudget vorlegen. Erst im September soll die Umsetzung des Urteils erneut geprüft werden.
Petitionen statt Klagen
Der Fall zeigt, wie langwierig der Umsetzungsprozess sein kann. Dabei ist das Einreichen einer Klage selbst schon ein mühsamer Prozess. In Luxemburg ist bisher noch keine hiesige Umweltorganisation gegen die Regierung vor Gericht gezogen. Obschon die Schweizer Klimaklage die Gründung der Gruppe inspirierte, fokussiert sich SFCL momentan auf andere Aktionen, etwa eine Petition zum Verbot von Nachtflügen. In die Wege geleitet von Denis Troyan und dem Kollektiv „Findel+“, unterstützt die Senior*innen-Gruppe diese Forderung und organisiert Protestaktionen dazu. Auch dies sei Teil der Initiative, Klimaschutz mit Menschenrecht zu vereinen, erklärt Jan-Antoine Thommes. „Es ist erwiesen, dass Nachtflüge den Schlaf stören und gesundheitsgefährdend sind.“ In den letzten Jahren sei die Zahl der Nachtflüge von 1.500 auf 3.500 gestiegen. Bislang hat die Petition die notwendige Schwelle von 4.500* Unterschriften noch nicht erreicht, doch Thommes ist froh, über jeden Namen, der dazukommt – beweise das Interesse wie „ausgeartet“ die Nachtflüge sind, so der Aktivist, dessen Engagement in der Klimabewegung 2022 begann, als er Mitglied im Klimabürgerrat wurde.
Um rechtliche Wege einzuleiten, fehlen den Seniors for Climate momentan die finanziellen Mittel. Zudem dauern rechtliche Prozeduren lange, erklärt sich Thommes das bisherige Fehlen eines Klimaprozesses gegen die Regierung. „Prinzipiell ist es einfacher, sich an einen Tisch zu setzen und zu versuchen, einen Kompromiss zu finden. An direkte Ansprechpartner kommt man in Luxemburg ja relativ leicht.“ Doch auch das habe sich in den letzten Jahren verändert: „Der Dialog mit der jetzigen Regierung ist leider nicht so, wie mit der vorigen“, bemängelt er.

(© Greenpeace)
Dies zeigt auch eine Anfrage der SFCL an die Regierung in Reaktion auf den Sieg der KlimaSeniorinnen. Das Urteil ist ein Präzedenzfall: Alle Europaratsstaaten, auch Luxemburg, könnten nun „aufgefordert werden, ihre Klimapolitik zur Wahrung der Menschenrechte zu überprüfen“, kommentierte Martina Holbach von Greenpeace Luxemburg damals das Urteil (woxx 1782). Auf zwei Nachfragen von SFCL, wie die Regierung denn zum Urteil stehe, kam nie eine Antwort, bedauert Thommes.
So kontaktierte SFCL nach der staatlichen Funkstille „alle Abgeordneten, die in der Umwelt- oder der Justizkommission sitzen“. Eine direkte Antwort kam daraufhin auch nicht, dafür aber am 15. November 2024 eine parlamentarische Frage der Abgeordneten Claire Delcourt und Franz Fayot (beide LSAP). Hierauf antwortete Umweltminister Serge Wilmes (CSV): „Die Regierung ist der Ansicht, dass der luxemburgische Gesetzes- und Regulierungsrahmen nicht die gleichen Lücken aufweist wie der in diesem Fall in Frage stehende schweizerische Rahmen“. Worauf sich die Regierung dabei stützt, ist unklar. Auch auf Nachfrage der woxx hin, weist das Umweltministerium lediglich auf die parlamentarische Antwort hin und wiederholt, dass der luxemburgische Rahmen nicht die gleichen Lücken aufweise: „Aufgrund dieser Feststellung hat die Luxemburger Regierung keine detaillierte schriftliche Analyse gemacht“, so das Ministerium gegenüber der woxx. Dass das Erreichen internationaler Ziele nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Einhalten der Menschenrechte ist – im Fall der Schweiz befand der EGMR das Gegenteil – erkennt Wilmes in seiner Antwort nicht an.
„Wir müssten schauen, welche Folgen das Urteil für Luxemburg haben könnte. Man könnte das Beispiel der Nachtflüge nehmen und überprüfen lassen, inwiefern sie einem Richter nach menschenrechtskonform sind“, so Thommes. Klimaklagen, Petitionen, Nachfragen, Demonstrationen – alles sich ergänzende Initiativen für jetzige und vor allem zukünftige Generationen. Es gelte, den Druck auf Gesetzesgeber*innen weiterhin zu erhöhen und dafür zu sorgen, dass Klimaschutz auch als Menschenrecht angesehen wird. Sollte eine Klimaklage in Luxemburg vor Gericht gehen, würden vorherige Urteile zweifelsohne als Vorbild genommen werden. Der Aktivist zweifelt nicht an der Wirkung der Schweizer Klimaklage an sich: „Das Urteil existiert und wird nicht vergessen werden.“
Aufruf an die Bevölkerung
Ein Paar Arbeitspferde ziehen einen Karren durch eine dreißig Zentimeter hohe Schneedecke. Das Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1953 entstammt dem Archiv Theo Mey und wird in einer von SFCL organisierten Ausstellung zu sehen sein. Denn neben Initiativen wie die Petition gegen Nachtflüge, macht die Gruppe gerade einen Aufruf an die Bevölkerung: Fotos, Dokumente oder Erfahrungsberichte jeglicher Art zum Leben in Luxemburg in den letzten Jahrzehnten sollen gesammelt werden, um die Folgen und Evolution des Klimawandels in Luxemburg zu dokumentieren. Das gesammelte Material soll erstmals im kommenden Juli im Oekozenter im Pfaffenthal ausgestellt werden. Wer beisteuern oder mehr über das Projekt erfahren möchte, kann die Gruppe unter seniorsforclimatelux@gmail.com erreichen.
*Korrektur: Die neue Schwelle von 5.500 Unterschriften gilt für Petitionen, die nach dem 15. März eingereicht worden sind. Die Petition zu einem Verbot von Nachtflügen muss demnach nur 4.500 erreichen, damit eine öffentliche Debatte über sie stattfindet.