Mali: „Die Krise wird nur noch verwaltet“

Mit dem Rückzug Frankreichs ist in Mali ein Machtvakuum entstanden. Jihadistische Gruppen nutzen dies konsequent aus. Alassane Dicko, Sprecher der afrikanischen Sektion des transnationalen Netzwerks „Afrique-Europe-Interact“, spricht über die politische und menschenrechtliche Lage im Land.

Die malischen Machthaber orientieren sich stärker nach Russland und China: Der malische Außenminister Abdoulaye Diop mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow am 20. Mai in Moskau. (Foto: EPA-EFE/Russian Foreign Affairs Ministry)

woxx: Anfang Mai hat die von der Armee dominierte Regierung Malis angekündigt, alle militärischen Verträge und Vereinbarungen mit Frankreich zu kündigen. Wie mächtig ist derzeit das Militär in Mali?

Alassane Dicko: Es wird stark aufgerüstet. Zudem gibt es mehr Militäroperationen, Säuberungsaktionen und Sicherheitseinsätze mit dem Ziel, Gebiete zurückzugewinnen, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. Bereits am 19. April hat die französisch geführte Antiterroroperation „Barkhane“ das Camp von Gossi, in dem Einheiten der Militärmission stationiert waren, an die malische Armee übergeben. Keine 48 Stunden später entdeckte man ein Massengrab einige Hundert Meter vom Camp entfernt. Derzeit gibt es zahlreiche gegenseitige Anschuldigungen. (Frankreich und die USA machen für die Tötungen Söldner der russischen „Wagner-Gruppe“ verantwortlich, Anm. d. Red.)

Wie ist die Stimmung in Mali?

Ende April hat der kommissarische Ministerpräsident Choguel Maïga, zehn Monate nach seiner Ernennung, vor der Nationalversammlung Rechenschaft abgelegt. Er sollte Einzelheiten über die Verwirklichung seines im August 2021 verabschiedeten Aktionsplans erläutern. Es gab hohe Erwartungen, die Sitzung der Nationalversammlung wurde landesweit im Fernsehen übertragen. In einigen Punkten war der Bericht wenig zufriedenstellend und widersprach dem, was die Regierung als einen Neuanfang für die Souveränität des Landes bezeichnet hatte. Dazu gehört der Ausstieg aus der Währungsunion CFA. Maïga sagte, dass Mali noch nicht bereit dafür sei. Erwartet wurde auch der Austritt aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas), doch der Ministerpräsident äußerte, man werde, statt die Mitgliedschaft zu kündigen, die Beziehungen erneuern. Dann ging es um das Mandat der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma), die Maïga zufolge auf alle Fälle verlängert werden soll.

„Es geht erst einmal darum, die Souveränität des Landes wiederherzustellen und die alten Systeme der Vetternwirtschaft zu überwinden.“

Nachdem die malische Übergangsregierung Ende Dezember 2021 die für Februar anberaumten Wahlen verschoben hatte, verhängte die Ecowas Sanktionen gegen Mali. Wie laufen die Gespräche über eine Ende der Sanktionen?

Der Konflikt zwischen den Vertretern der malischen Übergangsregierung und der Ecowas hat sich enorm zugespitzt. Assimi Goïta (der malische Übergangspräsident, ein Armeeoffizier, Anm. d. Red.) wurde von den Staatschefs der Ecowas zwar zu ihrem Treffen nach Accra Ende März eingeladen. Doch auf dem Treffen wurden die Sanktionen der Ecowas gegen Mali nicht gelockert.

Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf die Sicherheitslage?

Sie haben Erschütterungen der diplomatischen Beziehungen und der internationalen Kooperation zur Folge. Die westafrikanischen Staaten sind wichtige Partner der Minusma, sie stellen gut zehn Prozent aller Soldaten der Friedensmission. Die Verschlechterung in der Beziehung zu den westlichen Mächten hat ebenfalls Auswirkungen. Die malischen Machthaber orientieren sich stärker nach Osten. Das malische Militär gewinnt derzeit wieder an Einfluss durch die Kooperation mit Russland, dessen militärische Kräfte dort operieren, wo Frankreich sich zurückgezogen hat. Da die Sanktionen auch den Verkauf von Waffen betreffen, kooperiert die Regierung mehr und mehr mit russischen Akteuren. Es zeichnet sich ab, dass Mali immer mehr zu einem Depot russischer Waffen wird. Die Armee rüstet auf, auch mit schweren Waffen. Zudem sorgen die Sanktionen dafür, dass sich vor allem das Finanzsystem nach China orientiert, aber auch zur Türkei, zu Indien und Pakistan hin. Auch die Bevölkerung, die ja die Härten der Sanktionen erleiden und tragen muss, verändert ihre Haltung, Populismus und Nationalismus verbreiten sich. Die Mehrheit der Malierinnen und Malier folgt der Rhetorik der Regierung und jener, die behaupten, die Orientierung nach Osten sei der Weg, um aus der langjährigen Abhängigkeit vom Westen herauszukommen.

Nach fast zehn Jahren Militärpräsenz der französisch geführten Operation Barkhane und der Minusma scheint sich die Sicherheitslage nicht verbessert zu haben. Jihadistische Gruppen sind nicht nur im Zentrum und im Norden Malis aktiv. Bewaffnete Gruppen sind im gesamten Grenzgebiet zwischen Burkina Faso, Mali und dem Niger auf dem Vormarsch. Haben die Sanktionen einen Einfluss auf die Jihadisten?

Mit dem Rückzug Frankreichs ist ein Machtvakuum entstanden, die Sicherheitslage ist damit prekärer geworden, und zwar bis weit in den Norden, bis Tessalit. Einige Kontrollpunkte, die das französische Militär eingerichtet hatte, wurden von der malischen Armee übernommen. Doch es gibt andere, an denen nun bewaffnete Gruppen kassieren. Die jihadistischen Gruppen nutzen den Rückzug konsequent aus, sie reorganisieren sich und stehen kurz davor, weitere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Bevölkerung in den abgelegenen Regionen im Norden fühlt sich von der Regierung in Bamako alleingelassen, ebenso die im Zentrum des Landes. Die Jihadisten profitieren in diesen Regionen auch von den Sanktionen. Sie versprechen, die Leute zu schützen und zu unterstützen, zum Beispiel bei der Beschaffung dringend benötigter Güter. Zahlreiche Geschäfte wurden geplündert, sind geschlossen oder wurden niedergebrannt, sei es von der Armee oder von jihadistischen Gruppen. Diese sozioökonomische Destabilisierung führt dazu, dass viele junge Leute sich den bewaffneten Gruppen anschließen. Doch die Sanktionen haben sich auch auf die Jihadisten ausgewirkt, etwa bei der Beschaffung von Ressourcen. Auf alle Fälle hat die Grenzschließung zu einer enormen Militarisierung an den Außengrenzen Malis geführt. Alle Akteure haben ihre militärische Präsenz verstärkt. All das führte zum Beispiel zu der Offensive der malischen Armee in Moura, bei der mehrere Hundert Menschen starben, Terroristen und Zivilisten („Human Rights Watch“ macht die malische Armee sowie russische Söldner für den Tod von rund 300 Zivilisten verantwortlich; die malische Armee bestreitet dies und behauptet, 203 Terroristen getötet zu haben, Anm. d. Red.).

Wie steht die Zivilgesellschaft zur Übergangsregierung, zum Beispiel bäuerliche Gewerkschaftsgruppen und Menschenrechtlerinnen und -rechtler?

Viele der Menschen, ob vom Land oder aus den urbanen Zentren, die den Sturz des Regimes von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta 2020 herbeigeführt haben, unterstützen jetzt das Militär und die Übergangsregierung. Viele davon gehörten der Bewegung des 5. Juni (M5) an oder waren von ihr beeinflusst. Die M5 demonstrierte als oppositioneller Zusammenschluss 2012 gegen die malische Regierung und rief zu zivilem Ungehorsam auf. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem der Nationalismus zunimmt, die Krise nur noch verwaltet wird, Institutionen kollabieren und die Fundamente der Gesellschaft in Frage gestellt werden, auch wegen der Spaltung, die das Land mit dem Treiben der Jihadisten erfasst hat. Durch den Jihadismus hat sich die Haltung vieler Leute verändert, es bleibt wenig Raum für Debatten, für andere Meinungen oder andere Ideen. Den angestrebten Wandel auf wirtschaftlicher, sozialer und diplomatischer Ebene trägt die Zivilgesellschaft also weithin mit, und sie unterstützt das Vorgehen des malischen Militärs. Gleichzeitig werden durch diesen starken Rückhalt in der Zivilbevölkerung andere Stimmen marginalisiert; zu nennen sind hier einige Parteien, aber auch Medien, Journalisten und Analysten oder Menschenrechtler, die eine andere Einschätzung haben. Es werden sehr schnell sogenannte Feinde des Landes ausgemacht und es wird leichtfertig zwischen guten und schlechten Malierinnen und Maliern unterschieden. Dann gibt es keine Debatten mehr, sondern eine bedingungslose Unterstützung der Kräfte, die an der Macht sind und denen fast alle folgen.

Wie können unter diesen Bedingungen demokratische Wahlen abgehalten werden?

Das Thema Wahlen ist in Mali ein Tabu. Denn weite Teile der Bevölkerung unterstützen die Bewegung des 5. Juni und den Putsch, auch den von 2021, der von den Massen getragen wurde. Die politischen Grundlagen müssen erst erneuert werden, statt verfrüht zu wählen. Es geht erst einmal darum, die Souveränität des Landes wiederherzustellen und die alten Systeme der Vetternwirtschaft zu überwinden. Wahlen stehen auf der Wunschliste der Bevölkerung erst weit unten. Zudem ist die Bevölkerung weiterhin von den Parteien enttäuscht. Die Übergangsregierung wird dafür unterstützt, dass sie sich die Zeit nimmt, um das Fundament Malis zu erneuern. Da ist es nur logisch, dass Wahlen erst einmal verschoben werden müssen. Wir müssen das Zusammenleben neu gestalten, es geht um einen neuen Gesellschaftsvertrag und neue Institutionen.

Alassane Dicko ist Sprecher der afrikanischen Sektion des transnationalen Netzwerks „Afrique-Europe-Interact“, das lokale Basisinitiativen und solche von Migranten und Geflüchteten zwischen Afrika und Europa vereint und sich für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung einsetzt. Aufgrund der Repression gegen Menschenrechtsorganisationen in Mali musste Dicko seine Worte gut abwägen.


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