Mentale Gesundheit: „Jede Option ist zurzeit suboptimal“

Kontaktverbote sind eine große Belastung für die mentale Gesundheit. Vor allem psychisch Vorerkrankte und Senior*innen haben es zurzeit schwer. Wir haben mit dem Psychotherapeuten Sacha Bachim über die gegenwärtigen Herausforderungen gesprochen.

„Jetzt eine Lockerung anzukündigen, die immer wieder hinausgezögert wird, würde sowohl der psychischen Verfassung der Bevölkerung als auch dem Vertrauen in die Regierung schaden“: Sacha Bachim ist als kognitiver Verhaltenstherapeut auf Ängste und Trauer spezialisiert. (Quelle: privat)

woxx: Die Regierung kommuniziert zurzeit hauptsächlich bezüglich organisatorischer Vorkehrungen. Haben Sie das Gefühl, dass die psychische Gesundheit ausreichend mitbedacht wird?


Sacha Bachim: Es wird in der Tat vor allem über Organisatorisches kommuniziert. Aus den wenigen existierenden Studien über Ausgangssperren geht hervor, dass die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit wesentlich durch die Kommunikation beeinflusst werden. Je transparenter, verständlicher und empathischer kommuniziert wird, desto geringer sind die Konsequenzen für die Psyche. Es liegt auf der Hand, dass aus psychologischer Sicht eine schnellstmögliche Aufhebung der Ausgangsbeschränkung notwendig ist, nur ist das zurzeit nicht umsetzbar. Aufgrund der vielen Grenzarbeiter gestaltet sich eine Lockerung der Maßnahmen hierzulande besonders schwierig. Es ist zudem ungewiss, wie es sich auf die Psyche auswirken würde, wenn die Ausgangssperre aufgehoben und dadurch deutlich mehr Menschen erkranken und sterben würden. So oder so ist jede Option zurzeit suboptimal. Es ist wichtig, dass jetzt so schnell wie möglich Etappen präsentiert werden, wie wir aus der aktuellen Situation wieder herauskommen und dass diese auch eingehalten werden. Das lässt sich ebenfalls aus existierenden Studien ableiten: Jetzt eine Lockerung anzukündigen, die immer wieder hinausgezögert wird, würde sowohl der psychischen Verfassung der Bevölkerung als auch dem Vertrauen in die Regierung schaden.

Wer leidet im Moment besonders stark unter der Ausgangsbeschränkung?


Die Auswirkungen sind von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Je nachdem, ob man von Zuhause aus arbeiten oder nicht arbeiten kann, ob man alleine in einer kleinen Wohnung oder mit der Familie in einem großen Haus mit Garten wohnt, ob man unter Existenzängsten leidet oder eine sichere Arbeitsstelle hat, ob eine psychiatrische Erkrankung vorliegt oder nicht, ist der Stresslevel jeweils ein völlig anderer. Für Menschen mit Angststörungen besteht das Risiko einer Verschlechterung ihres Zustands. Ich habe aber auch festgestellt, dass manche meiner Patienten jetzt weniger Angst haben, da die Ausgangsbeschränkung ihnen die Illusion eines Schutzes vermittelt. Auch auf Depressionen wirkt sich die Ausgangsbeschränkung negativ aus: Die Isolierung ist einer der Hauptfaktoren einer depressiven Spirale. Durch die Ausgangssperre kann eine Depression also zusätzlich verstärkt werden. Ähnlich verhält es sich mit Phobien: Eine meiner Patientinnen leidet unter einer Spinnenphobie und hat zurzeit viel mehr Zeit, um über ihre Angst nachzudenken. In Anbetracht der Lage hört sich das vielleicht trivial an. Für eine Person mit einer spezifischen Phobie ist eine Ausgangssperre aber äußerst schlimm. Auch die Situation von Menschen mit Zwangsneurosen könnte sich verschlechtern dadurch, dass sie sich zurzeit bestätigt fühlen in ihrem Drang, sich ständig die Hände zu waschen und zu desinfizieren. Dass uns das zurzeit ständig eingetrichtert wird, macht es Zwangsneurotikern umso schwerer, diese Verhaltensweisen anschließend wieder aufzugeben. Studien zeigen zudem, dass durch Isolation posttraumatische Belastungsstörungen und Substanzmissbrauch zunehmen. Zahlen aus dem Ausland belegen, dass zurzeit dort viel mehr Alkohol gekauft wird. In Spanien war ein Anstieg von 80 bis 90 Prozent festzustellen. Der soziale Kontakt über Skype-Apéros ist ja an sich etwas Gutes, es besteht jedoch das Risiko, dass der Konsum steigt. In der aktuellen Situation entfallen manche Barrieren: Im Homeoffice fällt es nicht auf, wenn die Flasche mit dem Alkohol täglich auf dem Schreibtisch steht.

Auch für Senior*innen ist die aktuelle Situation besonders schwer …


Das ist ein sehr trauriges Thema. Ich bin in einer Arbeitsgruppe aktiv, die sich mit Problematiken rund ums Alter befasst. In den letzten zwei Jahren haben wir eine Reihe Pilotprojekte gestartet, um die Isolierung und Suizidalität von Senioren zu reduzieren, auch in Pflegeheimen. Die bisherigen Resultate waren sehr positiv. Umso trauriger ist es jetzt, alle sozialen Aktivitäten einstellen zu müssen. Es ist auch nicht angenehm für das Pflegepersonal, die negativen Auswirkungen der Ausgangsbeschränkung auf die Senioren mitansehen zu müssen. Angesichts dessen befinden wir uns in einem moralischen Dilemma, in dem es um Leben oder Tod geht. Auf www.covid19-psy.lu finden sich zwei Einträge, wo auf die spezifische Situation von Senioren eingegangen wird. Es ist schon beeindruckend, wenn man sich vor Augen hält, dass im Normalfall jahrelang an einer Sensibilisierungskampagne gearbeitet wird. Besagte Internetseite indes wurde innerhalb von zwei Wochen aus dem Boden gestampft. Daran zeigt sich, dass diese Krise auch positive Effekte haben kann. Es ist zu hoffen, dass sich daraus späterhin eine Öffnung ergibt, langjährige Forderungen endlich umzusetzen.

Quelle: Gordon Johnson/pixabay.com

Die da wären?


Es wäre zum einen wünschenswert, dass psychotherapeutische Behandlungen von der Krankenkasse rückerstattet werden. Zum anderen mangelt es in Luxemburg zurzeit an Krisenzentren. Eine Person, die eine schwerwiegende psychiatrische Krise erlebt, kann zurzeit zwar in einer Notaufnahme vorstellig werden, es gibt aber keine einheitlichen Prozeduren für solche Fälle. Es besteht kein zentralisiertes Hilfsangebot. Es gibt momentan nur in Esch/Alzette ein Krisenzentrum. Da besteht also noch viel Nachholbedarf. Umso mehr, je länger diese Krise andauert.

„Es ist zu hoffen, dass nach der Krise langjährige Forderungen endlich umgesetzt werden.“

Psychologische Beratung kann zurzeit ausschließlich per Telefon oder Videokonferenz stattfinden. Greifen viele Menschen auf dieses Angebot zurück?


Im liberalen Bereich ist zurzeit festzustellen, dass viele Patienten es vorziehen, ihre Therapie für die Dauer der Ausgangsbeschränkung auszusetzen. Nur zehn Prozent meiner Patienten nehmen Telefongespräche in Anspruch. Das könnte mit der angesprochenen Problematik zusammenhängen, dass Psychotherapien nicht von der Krankenkasse rückerstattet werden. Es ist womöglich des Geldes wegen, dass viele eine eingeschränkte Form der Therapie ablehnen. In Strukturen mit gratis Hilfsangeboten ist eine solche Tendenz nämlich nicht überall festzustellen, da hat die Anzahl der Anfragen nicht abgenommen. Ich muss aber zugeben: Ein psychologisches Gespräch per Telefon ist gewöhnungsbedürftig, auch für die Therapeuten. Auch wenn wir uns schnell umgewöhnt haben, bleibt eine gewisse Barriere zwischen Therapeut und Patient unweigerlich bestehen.

Wie wirkt sich die Krise noch auf Ihre Arbeit aus?


Ich bin Verhaltenstherapeut und ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit ist die Expositionstherapie, die jetzt natürlich nicht mehr in gleicher Weise möglich ist wie zuvor. Mit einer Patientin, die unter Angststörungen leidet, führe ich die Exposition jetzt durch Imaginationsübungen durch. Sich mental mit einer Angst zu konfrontieren, kann schon dazu beitragen, dass sie abnimmt. Das ist eine Methode, um zu gewährleisten, dass erzielte Fortschritte nicht einfach verloren gehen. Auch bei der Behandlung von Depressionen ist jetzt Kreativität gefragt. In einer ersten Phase geht es nämlich darum, den Isolationskreislauf zu durchbrechen, rauszukommen, unter Leute zu gehen. Jetzt müssen Alternativen gefunden werden, die ähnliche Ressourcen aktivieren, wie etwa Videokonferenzen oder sportliche Aktivitäten, denen alleine nachgegangen werden kann. Eine weitere Problematik, die sich stellt, ist, dass manche Medikamente wie etwa verschiedene Antidepressiva zurzeit nicht mehr auf Lager sind. Der Umstieg auf ein neues Medikament ist aber nicht so einfach, wenn der Psychiater diesen nur telefonisch überwachen kann.

Kann eine solche Ausnahmesituation auch positive Auswirkungen habe?


Meine Patienten, die zuvor unter einem hohen Stresspensum litten, erleben die aktuelle Phase durchaus als etwas Positives. Ein Beispiel dafür ist ein Workaholic, der plötzlich mit Yoga angefangen hat und darin total aufgeht, und viel mehr Zeit mit seiner Familie verbringt. Manche meiner Patienten berichten, dass sie angefangen haben, ihre Lebensprioritäten zu überdenken und das Gefühl haben, als neuer Mensch aus dieser Krise herauszugehen. In dem Sinne können Krisen durchaus positive Auswirkungen haben, auch wenn diese oft erst rückblickend erkannt werden können.

Eine Liste luxemburgischer Beratungsstellen finden Sie hier: woxx.eu/beratung

Sacha Bachim ist freiberuflicher Verhaltenstherapeut. Er ist unter anderem auf Ängste, Depressionen, Suchtverhalten, Verhaltensstörungen, Trauma, Trauer und Verlust spezialisiert. Seit 2014 unterstützt Bachim zudem die Präventionsstelle „Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale“.


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