Mit Nazis für die Freiheit demonstrieren?

Der „Sturm“ auf den Reichstag konnte zwar dank Polizeieinsatz verhindert werden, trotzdem ist die Querfront, die sich da bildet in vielerlei Hinsicht bedenklich.

(Screenshot Facebook)

Das Schwurbel-Virus, das mit Corona in unsere Gesellschaften Einzug gehalten hat, ist mitunter infektiöser als das eigentliche Virus. In Zwischenzeit dürften alle über mindestens eine Person in ihrem Umfeld mit Verschwörungstheorien rund um den Lockdown, die Maskenpflicht oder die reine Existenz des Virus in Berührung gekommen sein. Oder aber mit Personen, die Sympathien hegen für jene, die am Samstag in Berlin demonstrierten – ob nun Nazis, Antisemit*innen und Reichsbürger*innen mitliefen oder nicht.

Das Problem ist dabei nicht nur, dass wer da mitläuft, sich mit Rechtsextremen verbündet, sondern auch umgedreht: Indem sich die Rechtsextremen in die Ränge besorgter Bürger*innen, Kinder, Esoteriker*innen und einigen Linken einreihen konnten, wurden sie von letzteren auch noch salonfähig gemacht. Allein dieser Aspekt ist brandgefährlich, denn nur durch konstante Verharmlosung können diese Tendenzen die Demokratie erodieren und schlussendlich wieder einmal abschaffen.

Dabei vereint all diese Menschen ein diffuses Gefühl – die Angst, nicht ernst genommen zu werden und von „denen da oben“ angelogen, kontrolliert zu werden durch eine gleichgeschaltete Medienmaschine. Eine Maschine, die sie, die Querdenker*innen, gnadenlos diffamiert, sobald sie ihre, aus dem Internet zusammengeschusterte Meinung laut sagen. Man wähnt sich in einer Diktatur, darf aber trotzdem demonstrieren. Das ist an sich schon ein Hohn, angesichts der aus Hygienegründen abgesagten Gedenkveranstaltung an die Mordopfer von Hanau am Wochenende zuvor. Offenbar ist es wichtiger, Schwurbler*innen freien Auslauf zu garantieren, als an neun Menschen zu erinnern, die dem Amoklauf eines rechtsextremen Terroristen zum Opfer fielen. Dass diese Demonstration größtenteils rechtsextrem war und nicht nur von ein paar Neonazis unterwandert wurde, ist mehr als einmal recherchiert und dargelegt worden – etwa im preisgekrönten Fakt-Checker-Blog „Volksverpetzer“. Auch der ehemalige luxemburgische Rad-Profi Benoît Joachim lief bei der Demo mit, wie aus seinem Facebook-Profil zu ersehen ist. Und der ehemalige RTL- und DNR-Animateur Bas Schagen hat sich ebenfalls in den sozialen Netzwerken zu Wort gemeldet, um die Presse zu attackieren und der Gleichschaltung zu beschuldigen.

Der Mangel an Transparenz der Autoritäten ist das Benzin, das die Verschwörungsmaschine am Laufen hält.

Was die Querfrontler*innen aber nicht akzeptieren, ist wenn ihrer Meinung Fakten entgegengesetzt werden, die diese zumindest relativiert. Denn, nein, es ist nicht verboten, sondern sogar angemessen, den Maßnahmen der Regierungen in der Corona-Krise kritisch gegenüberzustehen, wie die woxx es in ihrer Berichterstattung über die Corona-Gesetze auch gemacht hat. Und auch die teilweise Gedankenlosigkeit, die verschiedene Regierungen wie die luxemburgische, an den Tag gelegt haben, wenn es darum ging, Grundrechte auszuhebeln, muss benannt werden. Am Schlimmsten aber ist der Mangel an Transparenz der Autoritäten, denn dieser ist das Benzin, das die Verschwörungsmaschine am Laufen hält. Wenn von einem Tag auf den anderen Zahlen verschwinden oder bereinigt werden, wenn im Frühling noch niemand eine Maske tragen sollte und ein paar Monate später jeder sie aufsetzen muss, wenn der Presse Möglichkeiten zum Hinterfragen und Recherchieren entzogen werden – dann werden auch die Zweifler*innen in ihren teilweise wirklich irren Ansichten bestätigt. Denn unter ihnen sind viele, denen jetzt erst auffällt, wie erschreckend wenig sie in den westlichen Demokratien noch mitzubestimmen haben, wie erodiert ihr Handlungsfreiraum wurde und wie viel Macht die Wirtschaft über ihr Leben hat. Doch damit hat Covid-19 nichts zu tun: Dieser Prozess heißt Neoliberalismus und ist schon lange dabei, von unten nach oben umzuverteilen. Und der sieht nichts lieber als Menschen, die sich gegenseitig die Schuld zuschieben. Denn eine auseinandergerissene Gesellschaft kann ihm nichts mehr anhaben. In dem Sinne: Ja, es gibt „da oben“ Menschen die undemokratisch vorgehen und denen es ein Graus ist, ihren Wohlstand zu teilen – es sind jene, die wie Jeff Bezos, am meisten am Virus verdient haben. Und die sehen nichts lieber als eine Gesellschaft, die sich selbst zerfleischt, während sie in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können. 


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