Der 1970 verstorbene japanische Autor Yukio Mishima sehnte sich nach autoritären Verhältnissen zurück und hat viele Fans in der Neuen Rechten. Sein neu übersetzter Roman „Der Held der See“ ermöglicht gleichwohl einen kritischen Blick auf die verdrängte Gewaltgeschichte der japanischen Gesellschaft.

(© Kein & Aber)
Oberflächlich betrachtet, ist es der Stoff für einen Jugendroman, für eine tröstliche Geschichte allemal, sofern man traditionelle Rollenbilder zugrunde legt: Ein 13-jähriger Junge, dessen Vater früh verstorben ist, lebt allein mit seiner Mutter. Da sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau und oft abwesend ist, wird er nicht zuletzt von der Haushälterin erzogen. Die Mutter lernt einen Seemann kennen, die beiden verlieben sich. Der Mann signalisiert, dass er dem Jungen ein Vater sein möchte, ist bereit, sich emotional auf ihn einzulassen. Von nun an könnte alles so schön sein. So kommt es aber nicht. Im Gegenteil.
Der Roman „Der Held der See“ erzählt von Ryuji, der seine Vision vom vermeintlich abenteuerlichen Leben an Bord eines Handelsschiffes zugunsten einer Frau und einem bürgerlichen Lebensstil aufgeben will. Und von dem Halbwaisen Noboru, der Ryuji umso glühender verachtet, je weniger dieser noch den von dem Jungen vor sich hergetragenen heroischen Idealen entspricht. Gemeinsam mit seinen Freunden ersinnt Noboru einen Plan, wie sich die „Ehre“ Ryujis wieder herstellen lässt.
Von den Vorgaben, wie dieser Roman zu lesen sei, lässt sich, angesichts all dessen, was über die Biografie seines Autors Yukio Mishima bereits geschrieben worden ist, nur schwer abstrahieren. Die Übersetzerin Ursula Gräfe schreibt in ihrem Nachwort, dass dabei „die Verzweiflung des Autors über die vermeintliche Verwestlichung Japans, über den herrschenden Mangel an Heldentum“ zu bedenken sei.
Mishima, der am vergangenen 14. Januar hundert Jahre alt geworden wäre, hat sich im November 1970 im Alter von 45 Jahren das Leben genommen. Zuvor war er mit einigen Gleichgesinnten in das Hauptquartier der japanischen Streitkräfte eingedrungen, hatte einen General als Geisel genommen und die anwesenden Soldaten mit einer glühenden Rede für einen Putsch zur Wiederherstellung des kaiserlichen Imperiums zu begeistern versucht. Als diese ihn nur verhöhnten, beging er an Ort und Stelle rituellen Selbstmord: Er schlitzte sich den Bauch auf, ehe ein Gefolgsmann ihm mit einem Samurai-Schwert den Kopf abschlug.
In der Neuen Rechten erfreut sich Mishima seit Jahren großer Beliebtheit; in seinen politischen Schriften ließ er keinen Zweifel an seiner rechtsextremen Haltung. Auch in dem Roman findet sich vieles wieder, was man aus den Texten reaktionärer Autoren wie Léon Bloy, Georges Sorel oder Ernst Jünger kennt: Propaganda der Tat, Mystifizierung der Gewalt, Ästhetisierung des Opfers, Ablehnung alles Bürgerlichen. Und doch lässt sich „Der Held der See“ über weite Strecken hinweg als Roman lesen, der solche Haltungen nicht ästhetisch überhöht, sondern den einzelnen Figuren, ihren Biographien und fragilen Selbstentwürfen zuordnet und damit eine kritische Betrachtung stimuliert.
Deutlich wird das nicht zuletzt an der Beschreibung von Noborus Teenagerbande: Alle diese Jungen sind „Kinder aus gutem Hause“, alle kurz vor Vollendung des 13. Lebensjahrs und wild entschlossen, sich in „absoluter Gefühllosigkeit“ zu üben: sexuelle Eindrücke, extreme Gewalt – jede emotionale Regung angesichts solcher Impulse wollen sie sich abtrainieren; sie entwickeln eine Kälte, die sie mit Stolz erfüllt. Ihr Anführer, von allen nur „Nummer eins“ genannt, beschreibt die Gruppe als „Hüter und Vollstrecker“ der Ordnung in einer Welt, die sie als „leer“ erfahren. An anderer Stelle spricht Mishima aus, woher diese Empfindung stammt: „Seine Vorstellungen von der allumfassenden Leere und Nichtigkeit der Welt speisten sich zum Teil aus der Trostlosigkeit seines Zuhauses“, liest man über den Anführer: „ein zutiefst einsamer Junge, der mit dreizehn Jahren bereits alle Bücher im Haus gelesen hatte und sich ständig langweilte“.
Die Clique um Noboru versucht die von ihr erlebte Leere mit einer Verhaltenslehre der Kälte zu kompensieren.

Yukio Mishima hält eine Rede auf dem Balkon des Gebäudes der Selbstverteidigungsstreitkräfte in Tokio, um die anwesenden Soldaten zum Sturz des japanischen Kabinetts zu überreden. Kurz darauf nimmt er sich das Leben. (© ANP inzake sfa222/ nationaalarchief.nl/CC-BY-SA-3.0-NL)
Der „ennui“, aus dem die Mitglieder der Bande auszubrechen versuchen, ist einer, der aus ihren Beschädigungen resultiert. Wenig legt in dem Buch nahe, das diese auf einer „Verwestlichung“ basieren. Viel eher rücken die Widersprüche der Moderne und die Gewaltgeschichte der japanischen Gesellschaft in den Blick, die kaum zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (das Buch ist im Original 1963 erschienen) durch Verdrängung, auch der eigenen Verbrechen, gekennzeichnet war. Eines der an eine Sperrholzwand gekritzelten Graffitis, die sich die Jungen gegenseitig vorlesen, steht sinnbildlich dafür: „Lasst uns alles vergessen und verantwortungslos sein.“
Die Väter, die diese Gesellschaft hervorgebracht hat und die Mishima in seinem Buch präsentiert, sind abwesend: Entweder sind sie tot oder dabei zu arbeiten und Karriere zu machen. Wo sie auftauchen, fangen sie an zu prügeln, verteilen Ohrfeigen und schlagen auch mal mit der Faust. „Schläge sind nicht das Schlimmste“, wird Noboru mehrmals von seinen Freunden belehrt, die ihn beglückwünschen, gar als „Auserwählten“ bezeichnen, weil sein Vater bereits gestorben ist.
Der reale Ohnmacht angesichts solcher Eltern und der Verhältnisse, aus denen sie entstammen, werden Größenfantasien entgegengesetzt, um Selbstermächtigung zu simulieren. „Es liegt bei uns, Dinge zu erlauben. Die Lehrer, die Schule, die Väter, die Gesellschaft, wir lassen diesen ganzen Müll zu. Und zwar nicht, weil wir machtlos sind“, so der Anführer der Gruppe, dem Mishima wenige Seiten zuvor noch eine „kraftlose Kinderfaust“ zugeschrieben hat: „Erlauben ist unser Vorrecht, und wenn wir Mitgefühl hätten, könnten wir das alles nicht so kaltblütig zulassen.“
Ähnlich wie die Generation nach dem Ersten Weltkrieg im Deutschland der Weimarer Republik ist auch die Clique um Noboru auf der Suche nach Orientierung. Um die empfundene Leere zu kompensieren, greifen sie zu einer „Verhaltenslehre der Kälte“ (Helmut Lethen), die auf Distanz und Härte gegenüber anderen und sich selbst setzt. Soweit sie sich artikuliert, scheint ihre Opposition weniger gegen eine „Verwestlichung“ Japans denn gegen eine „Verbürgerlichung“ des Lebens gerichtet zu sein. (Es ist nicht frei von Ironie, dass heute gerade im sogenannten „Westen“ nicht wenigen beides als synonym – und als gleichermaßen verachtenswert – gilt.)
Entsprechend ist das schlimmste Verbrechen, das Ryuji zur Last gelegt wird – abgesehen von dem Versuch, ein Vater für Noboru zu sein – dass er sich gegen ein Leben vermeintlicher Abenteuer und für ein „von Haushaltsrechnungen, von Wochenendausflügen“ geprägtes entschieden hat: Für den Kreis um Noboru ist dieser „Geruch des Alltags“ gleichbedeutend mit dem „Verwesungsgeruch, den die Menschen an Land mehr oder weniger an sich trugen“.
Die Haltung, die Mishima der Gruppe von Kindern zuschreibt, ist auch aus den Autobiographien von Freikorps-Mitgliedern wie Ernst von Salomon und aus Büchern von Autoren wie Ernst Jünger bekannt. Wie diese Reaktionäre in ihrer Abscheu gegen die Bürgerlichkeit der Weimarer Republik sehen auch Noboru und seine Freunde sich als Beschützer einer von Zersetzung bedrohten Ordnung: „Ihr wisst, was unsere Pflicht ist. Schrauben, die sich gelockert haben und herausgefallen sind, müssen wieder festgezogen werden, auch mit Gewalt oder gegen ihren Willen. Sonst versinkt die Welt im Chaos“, lässt Mishima den Anführer der Gruppe sagen.
Auch der an den Autoren der europäischen Dekadenz belesene Mishima wird sich spätestens im Laufe der 1960er-Jahre ganz und gar jener Ordnung verschreiben, die er in der Wiederherstellung der politischen Macht des Kaisers und des japanischen Militärs zu erkennen meint. In seinem Roman „Der Held der See“ jedoch wird diese Haltung noch nicht ungebrochen, im Sinne eines reaktionär-antibürgerlichen Manifests, präsentiert. Hier liefert der Autor Material, durch das ein Nachdenken über die Folgen einer beschwiegenen, verdrängten gesellschaftlichen Gewaltgeschichte und die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft möglich wird. An diesen Verhältnissen drohen die Romanfiguren zu zerbrechen: Leer ist nicht die Ordnung, sondern die Welt der Heranwachsenden, die von ihren Eltern und ihrer Umwelt oftmals kaum Zuwendung, sondern nur emotionale Distanz, Misshandlung und Gleichgültigkeit erfahren.
So erinnert dieser Roman Mishimas in vielerlei Hinsicht weniger an einen faschistoiden Ästhetizismus, sondern an die untergründige Gesellschaftskritik von Michael Hanekes Film „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ (2009), die ähnlich geschundene, diabolische Charaktere zum Thema hat.
Weit entfernt davon, eine irgendwie fremdartige, „exotische“ Kulturgeschichte zu liefern, legt Mishima in seinem Buch Fragmente des mit dem Kapitalverhältnis universal gewordenen Zusammenhangs von gesellschaftlichen Widersprüchen und Ideologiebildung frei. Die Kinder in Mishimas Roman panzern sich geistig, so wie der Schriftsteller, der sich als schmächtig empfand, ab Mitte der 1950er-Jahre mit exzessivem Krafttraining einen Körperpanzer aufzubauen begann. Weil Ryuji den Sinn seines eigenen Panzers zu hinterfragen beginnt und Schwäche zeigt, wird er zu Bedrohung des mühsam zusammengehaltenen Selbstbildes von Noboru und seiner Bande. Sein Schicksal ist besiegelt.