Pandemie, Energie, Krieg, Inflation – die Krisen der letzten Jahre sorgten für eine ungewöhnliche Legislaturperiode. Die woxx-Analyse der Abstimmungsergebnisse zeigt, dass die Parteien näher zusammengerückt sind.
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Ob Oppositionsbank oder Regierungsparteien – in den letzten fünf Jahren herrschte oft erstaunliche Einigkeit im Parlament. (Fotos: Chambre des députés)
Seit Kurzem sind der Eigenanbau und der heimische Konsum von Cannabis unter bestimmten Bedingungen in Luxemburg legal. Die Verabschiedung dieses neuen Gesetzes haben vermutlich die meisten Menschen mitbekommen. Doch welche Abgeordneten haben wie darüber abgestimmt? Wer das als mündige Bürger*in erfahren möchte – möglicherweise auch, um diese Erkenntnis in sein*ihr Wahlverhalten einfließen zu lassen –, begibt sich vermutlich auf die Website des Parlaments. Die präsentiert sich seit einigen Monaten in neuem Gewand und sieht nun deutlich moderner aus. Übersichtlich ist sie leider immer noch nicht.
Wer das Schlagwort „Cannabis“ eingibt, sieht als erstes Resultat eine Nachricht darüber, dass das neue Waldgesetz verabschiedet werden soll. In dem Artikel findet sich nichts zu Cannabis. Wer nicht zu schnell aufgibt und mittels Filterfunktion die „Dossiers législatifs“ auswählt, findet irgendwann das Gesetzesprojekt mit der Nummer 8033. Ein Tortendiagramm zeigt an, wie abgestimmt wurde: 38 Ja-Stimmen gegen 22 Nein-Stimmen. Ein Klick zeigt eine Übersicht, welche Parteien wie abgestimmt haben, außerdem lässt sich mit einem weiteren Klick das Geheimnis entlocken, welche Abgeordneten wie abgestimmt haben. Nicht unbedingt übersichtlich, muss man doch jede Fraktion oder „Sensibilité politique“ einzeln anklicken. Die Funktion existiert außerdem nur für Gesetze, die innerhalb des letzten Jahres abgestimmt wurden, alle älteren Texte haben keine Grafik. Eine bessere Übersicht bietet ohnehin das „Bulletin de vote“, das als offizielle Dokumentation über die Abstimmung fungiert. Das ist irgendwo unter dem Punkt „Activités liées au dossier“ versteckt.
Um ein Bild davon zu bekommen, wie einig oder uneinig sich die Parteien im Luxemburger Parlament sind, hat die woxx diesen Prozess für jede der etwa 735 Abstimmungen der letzten Legislaturperiode wiederholt. Eine Aufgabe, die mit der neuen Parlamentswebsite leider nicht wesentlich einfacher wurde. Zwar gibt es lobenswerterweise einige Daten der parlamentarischen Arbeit bereits als „Open Data“ in maschinenlesbarer Form, die Abstimmungsergebnisse liegen jedoch nur zum Teil vor. Die Coronapandemie hat die Aufgabe nicht leichter gemacht: Von manchen Sitzungen, die unter eher chaotischen Zuständen in mehreren kleineren Versammlungssälen des Parlaments durchgeführt wurden, fehlen die „Bulletins de vote“. Zu der Zeit, als die Chamber auf den größeren und Covid-sichereren Saal des Cercle Cité auswich, veränderte sich das Layout der Bulletins mehrmals. Statt nach Fraktionen geordnet standen die Abgeordneten hier in alphabetischer Reihenfolge – was eine rasche, strukturierte Erfassung der Abstimmungen auf einen Blick erschwerte. Der Anblick der schief eingescannten, handschriftlich korrigierten Abstimmungsergebnisse aus dem „richtigen“ Parlamentsgebäude war danach beinahe ein gern gesehener Anblick.
Wie bereits vor fünf Jahren wurde die Arbeit durch ein eher überraschendes Ergebnis belohnt: Die Parteien sind sich erstaunlich oft einig. Über die ganze Legislaturperiode geschaut wurden rund 55 Prozent der Gesetzesvorhaben einstimmig angenommen. Das ist ein sehr hoher Wert, auch verglichen mit den fünf Jahren davor, denn damals lag der Wert bei rund 44 Prozent. Hatte man also das Gefühl, die Pandemie hätte für „Spaltungen“ gesorgt, so lässt sich das durch diese Zahlen nicht bestätigen. 2020 stimmte das Parlament sogar beinahe 58 Prozent der Gesetze in trauter Einigkeit. Auch die aufkommende Wahlkampfstimmung wurde 2023 nicht für Kampfabstimmungen genutzt, denn zwischen Januar und Juli wurden 60 Prozent der Gesetzesvorhaben einstimmig beschlossen.
Kuschelstimmung am Krautmaart
Es ist aber mitnichten so, dass bei den übrigen 45 Prozent der Gesetzesvorhaben die Opposition geschlossen gegen die Regierung gestimmt hätte: Das berühmt-berüchtigte „31-zu-29“-Szenario kam in lediglich 5 Prozent der Abstimmungen vor. Auch hier ist zu beobachten, dass die Stimmung in der Chamber kuscheliger geworden ist: Vor fünf Jahren waren es 8 Prozent der Abstimmungen, bei denen die Regierungsparteien alleine auf weiter Flur standen.
Wesentlich öfter stimmte also mindestens eine Partei mit den drei Parteien der Regierungskoalition. Die größte Oppositionspartei CSV, die zumindest versucht, den Ton gegenüber LSAP, DP und Déi Gréng zu verschärfen, hat dabei wohl die meisten Übereinstimmungen: Zu rund 88 Prozent stimmte sie mit „Ja“, wenn Regierungsprojekte zur Abstimmung standen. Diese Stellung hätte die Piratepartei ihr beinahe streitig gemacht: Bei 84 Prozent der gestimmten Gesetze waren Sven Clement und Marc Goergen auch dafür. Zwischen Januar und Juli 2023 lag die Zustimmung sogar bei etwa 92 Prozent. Der Verdacht liegt recht nahe, dass die Piratepartei in Aussicht auf starke Zugewinne bei den Wahlen im Oktober schon einmal signalisieren wollte, dass sie ja zur ganz guten Koalitionspartnerin tauge.
Die ADR stimmte bei 75 Prozent der Abstimmungen mit „Ja“, Déi Lénk ist mit 70 Prozent Zustimmungsrate zu Regierungsprojekten die „rebellischste“ aller Oppositionsparteien. Diese Ergebnisse waren bereits vor fünf Jahren sehr ähnlich, wobei Déi Lénk damals noch bei lediglich 60 Prozent Zustimmung lag. Die oft in liberalen Kreisen populäre „Hufeisentheorie“, nach der sich radikal linke und extrem rechte Parteien im Grunde gut verstünden, lässt sich auch in Luxemburg nicht bestätigten: In lediglich vier Prozent der Abstimmungen waren Déi Lénk und ADR sich als einzige Parteien in ihrer ablehnenden Haltung einig.
Enthaltung, das sanfte Nein
Die hohe Zustimmung zu den Projekten der Regierung erstaunt eigentlich, denn immerhin gibt es keinen direkten Anreiz, den politischen Gegner*innen zu helfen. Bis auf die Verfassungsreform, bei der eine Zweidrittelmehrheit vonnöten ist, waren DP, LSAP und Déi Gréng nicht auf die Opposition angewiesen. Oft ist das Argument hierfür, dass es sich beim größten Teil der Gesetzesprojekte um „technische“ Gesetze handelt, die oftmals auch internationale Verträge ratifizieren. Aber auch hier gilt: Es gibt keine Not, die Regierung zu unterstützen. Möglicherweise ist es neben echter Zustimmung auch manchmal die Illusion, mit der eigenen Ja-Stimme etwas zum politischen Prozess beigetragen zu haben.
Außerdem besteht die Gefahr, die Wähler*innen könnten die Ablehnung eines populären Gesetzes übelnehmen. Das lässt sich gut an den Covid-Gesetzen illustrieren: Während die Gesetze über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie meist umstritten waren, so herrschte bei den Hilfspaketen und Ausnahmeregelungen in der Regel traute Einigkeit. Doch: Wenn man die Corona-Maßnahmen der Regierung, wie etwa Ausgangssperren ablehnt, wäre es dann nicht auch logischer, die Ausnahmeregelungen, die diese Maßnahmen erträglicher machen sollen, ebenfalls abzulehnen?
Um ihre Ablehnung ausdrücken, haben die Oppositionsparteien zwei Optionen: Sie können gegen ein Gesetzesprojekt stimmen oder sie können sich enthalten. Da sich die drei Koalitionsparteien in eiserner (und ebenso notwendiger) Fraktionsdisziplin üben, gibt es keine taktischen Gründe, eine Enthaltung einzusetzen. Verfolgt man die Debatten im Parlament, hat man oft das Gefühl, die Parteien nutzten die Enthaltung als eine Art der „sanfteren“ Form der Ablehnung. Auch die Farbgebung der Tortendiagramme auf der Website der Chamber legt diese Interpretation nahe: Nein-Stimmen sind rot, Ja-Stimmen grün und Enthaltungen gelb eingefärbt.
Das führt dazu, dass die Möglichkeit, sich einer Abstimmung zu entziehen, begrenzt sind. Abgeordnete, die sich tatsächlich „enthalten“ wollen, greifen oft zu dem Trick, den Saal zu verlassen. Als das Parlament inmitten der Pandemie über das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA tranchierte, verließen die Abgeordneten der CSV geschlossen den Saal. Damit konnten sie der Abstimmung entkommen und so versuchen, der Zivilgesellschaft glaubhaft zu machen, dass sie zwar nicht gegen CETA stimmen wollten, aber auch nicht so ganz dafür waren. Wer diese Geschichte nicht kennt, kann sich aus den Aufzeichnungen des Parlaments schlecht einen Reim darauf machen.
Konsens statt Kampfabstimmungen
Ein Problem, das der Ex-ADR-Abgeordnete Roy Reding mit seiner Ein-Mann-Fraktion nochmal verschärft hat. Wenn Reding durch Abwesenheit glänzt, ist das ein politisches Zeichen oder war er „nur“ nicht da? Da die meisten Abgeordneten eine Stimmübertragung an ihre Fraktionskolleg*innen geben können, fällt eine Abwesenheit in den Abstimmungsergebnissen nicht sonderlich auf. Ist man aber alleine oder in einer sehr kleinen Delegation wie Déi Lénk oder die Piratepartei zu zweit verhindert, gibt es diese Möglichkeit nicht.
In größeren Parlamenten ist es trotz Fraktionszwang üblich, dass regelmäßig Abgeordnete gegen die Mehrheit ihrer Partei stimmen. Die Spannung der Kampfabstimmungen im Europaparlament, bei denen man im Vorfeld nie so genau weiß, wie sie ausgehen, kommt durch diese Dynamik zustande. In Luxemburg gibt es selten Abweichler*innen. In der letzten Legislaturperiode war Roy Reding, der mittlerweile seine eigene Partei gegründet hat, jener Abgeordnete, der am öftesten gegen die Linie seiner eigenen Partei stimmte.
Er tat dies zum Beispiel bei einer Version des Covid-Gesetzes, das am 21. Juni 2021 abgestimmt wurde. Bei der – nicht besonders häufig vorkommenden – separaten Abstimmung über einzelne Artikel kam es bei Déi Lénk zu einem kuriosen Ereignis: Während Myriam Cecchetti gegen den Artikel stimmte, enthielt sich ihre Kollegin Nathalie Oberweis lediglich. Was hier die „Parteilinie“ war, ist nicht festzustellen. Bei der Abstimmung über das Gesetz, das die umstrittene EU-Urheberrechtsreform inklusive „Uploadfilter“ in nationales Recht umsetzen sollte, enthielt sich Viviane Reding, obwohl der Rest der CSV-Fraktion sich für das Gesetz aussprach.
Die Resultate der woxx-Analyse zeigen deutlich: Die Luxemburger Politik ist sich sehr oft einig. Das bedeutet einerseits, dass es eine große Mehrheit für einen Großteil der Politik gibt, die von der Regierung vorgegeben wird. Andererseits deutet es aber auch auf das hin, was die Abgeordneten ohnehin nicht müde werden zu betonen: Ein Großteil der parlamentarischen Arbeit findet in den Kommissionen statt. Leider heißt das auch, dass diese Arbeit im Verborgenen stattfindet und die Öffentlichkeit das Aushandeln von Kompromissen und die Herstellung von Konsens nicht nachvollziehen kann. Das macht es für die Wähler*innen im Oktober umso schwieriger, sich für eine Partei oder einzelne Kandidat*innen zu entscheiden.