Psychiatrische Versorgung: Systemversagen

Der Suizid einer Frau wirft Fragen auf: Nicht nur weil eine vermeintliche „Psychologin“ versagte; es war das ganze System, das sie im entscheidenden Moment allein ließ. Warum es in Luxemburg eine Reform der psychischen Krisenversorgung braucht.

Menschen in suizidalen Krisen brauchen ein Versorgungsnetz, das sie auffängt. (Foto: Jon Tyson/Unsplash)

Eine Frau stirbt durch Suizid. Laut einem Bericht der „Luxembourg Times“ von Anfang März, die mit einer Freundin der Frau sprach, litt sie an Depressionen und Suizidgedanken und wurde von einer selbsternannten „Psychologin“ behandelt. Die Geschichte ist haarsträubend. Jean, so ihr Pseudonym im Artikel, ist eine Frau in den 40ern, Wissenschaftlerin, Mutter, naturverbunden und seit einiger Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Als sie Antidepressiva bekommt, verschlechtert sich ihr Zustand: ein bekanntes Risiko in der Anfangsphase der Medikation. Weil ihr Therapeut nicht erreichbar ist, sucht sie über der Webseite Doctena nach Unterstützung – und gerät an eine vermeintliche Psychologin, die jedoch keine fachliche Qualifikation besitzt. Diese „diagnostiziert“ einen Fluch und bietet stattdessen ein Gebetsritual an. Jean lehnt ab, fühlt sich danach aber schlechter als vorher. Sie sucht Hilfe im Krankenhaus, wird abgewiesen und begeht noch am selben Tag Suizid. Der Fall ereignete sich Anfang des Jahres. Als er in die Medien gelangt, wird die altbekannte Forderung nach einer gesetzlichen Regulierung des Psycholog*innenberufs erneut laut. Ende April springt selbst ADRenalin, die Jugendvereinigung der ADR, auf den Zug auf – eine gute Gelegenheit, sich als Partei gesellschaftlicher Fürsorge zu inszenieren.

Doch was an den Forderungen und seiner medialen Aufbereitung zu wünschen übrig lässt, ist nicht das Anliegen an sich. Das bestreitet niemand  – weder die Société luxembourgeoise de psychologie (SLP), noch die politische Opposition. Selbst die Regierungsparteien haben das Vorhaben anerkannt: Im Koalitionsvertrag kündigte die CSV-DP-Regierung an, „den Beruf des Psychologen regulieren“ zu wollen, im Rahmen einer umfassenderen Überprüfung des Psychotherapeutengesetzes und gegebenenfalls notwendiger Anpassungen. Die Regulierung des Psycholog*innenberufs ist lange überfällig. Doch das rechtfertigt nicht, dass alle anderen Versäumnisse in diesem Fall in einem Halbsatz abgehandelt werden. Die Scharlatanin, die sich als Psychologin ausgibt, ist nur ein Teil des Problems und verdeckt dabei ein komplettes Systemversagen der psychiatrischen Versorgung in Luxemburg.

Die Regulierung des Psycholog*innenberufs ist lange überfällig. Doch das rechtfertigt nicht, dass alle anderen Versäumnisse in diesem Fall in einem Halbsatz abgehandelt werden.

Warum bekommt Jean während einer laufenden Psychotherapie ein Antidepressivum verschrieben, ohne dass für die kritische Anfangsphase ein Sicherheitsnetz mitgedacht wird? Wieso wird eine Frau mit diagnostizierten Depressionen, die akut suizidal ist, vom Krankenhaus abgewiesen? Es geht um mehr als eine einzelne Scharlatanin, es geht um grobe Fahrlässigkeit und unterlassene Hilfeleistung durch ein Versorgungssystem, das versagt hat. In Luxemburg fehlt es an einer flächendeckenden Akutversorgung bei psychischen Krisen. Abhilfe könnte ein Modell wie der in Deutschland etablierte Sozialpsychiatrische Dienst schaffen: Ein aufsuchender Krisendienst mit multiprofessionellen Teams, der Menschen in seelischen Notlagen schnell, unbürokratisch und möglichst im gewohnten Umfeld unterstützt. Finanziert wird dieses System überwiegend kommunal, ergänzt durch Landesmittel und Projektförderungen – öffentlich getragen, stabil, niedrigschwellig. Demgegenüber stehen in Luxemburg Vereine, die hauptsächlich durch das Engagement von Ehrenamtler*innen funktionieren, wie das „Kanner-Jugendtelefon“ und „SOS Détresse“. Letzterer verzeichnet laut aktuellem Jahresbericht 2024 bei suizidalen Kontakten einen Anstieg von 40 Prozent. Neben der überfälligen Regulierung des Psycholog*innenberufs braucht es grundlegende Reformen in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung. Für Jean kommen sie zu spät.

Wenn Sie Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Hilfe braucht: In Luxemburg hilft das Kanner-Jugendtelefon unter 116 111, anonym und kostenlos. Auch SOS Détresse (45 45 45) oder www.prevention-suicide.lu bieten Unterstützung.

Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , , , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Die Kommentare sind geschlossen.