Der Kunstbegriff der russischen Moderne zielte darauf ab, eine neue Welt zu schaffen. Eine Ausstellung im Brüsseler Designmuseum zeigt, wie dies in der Praxis die graphische Gestaltung revolutionierte – und dem radikalen Konzept zugleich den Stachel gezogen hat.
Als der russische Dichter Wladimir Majakowski 1923 von einem Atelierbesuch bei Pablo Picasso zurückkehrte, meinte er abschätzig, der Maler habe sich „offenbar bereits damit abgefunden, dass er nie mehr etwas anderes als Bilder machen wird“.
Die von Majakowski in einem Reisebericht festgehaltene Episode verdeutlicht paradigmatisch, worin sich die westliche und die russische Avantgarde der damaligen Zeit fundamental unterschieden haben. Gemeinsam war beiden die Aufwertung der Kunst. Doch allein die russische Moderne ging davon aus, dass die Kunst eine zentrale Macht- und Handlungsinstanz in der Gesellschaft ist, also nicht nur mittelbar auf sie einwirkt, indem man beispielsweise „Bilder macht“, sondern unmittelbar eine neue Wirklichkeit konstruiert. Daher rührt auch der um 1913 erstmals verwendete Name „Konstruktivismus“, unter dem eine der zentralen Strömungen der russischen Avantgarde bekannt geworden ist.
Der Wille und die Überzeugung, wonach es gelingen könne, die bestehende Realität radikal zu transformieren, wurde auch von den Akteuren der russischen Revolution geteilt, unter denen frühe ProtagonistInnen des Konstruktivismus wie Alexander Rodtschenko, Valentina Kulagina und El Lissitzky zahlreich und prominent zu finden waren. Zwar kam der künstlerische Umbruch dem politischen und sozialen um einige Jahre zuvor, doch die innere Beziehung der beiden Entwicklungen ist dadurch nicht in Frage gestellt.
Sieht man von der personalen Verquickung der künstlerischen und der sozialen Revolution in Russland, ab, mag die radikale Differenz von westlicher und russischer Avantgarde zunächst verwundern. Schließlich sind beide gekennzeichnet durch die Abkehr von der Nachahmung der Wirklichkeit und die Hinwendung zur Abstraktion, durch die beständige Zuspitzung formaler Lösungen als Ausdruck eines theoretisch-utopischen künstlerischen Programms.
Im Westen ist dieses Programm jedoch geprägt durch eine philosophisch begründete Relativierung des Wirklichkeitsbegriffs und durch eine Aufwertung des Kunstwerkes als einer autonomen Existenz. Diese Kunstautonomie jedoch hat ihren Preis. Denn wer die Kunst als unabhängige Sphäre verstanden wissen will, spricht ihr damit zugleich die Möglichkeit ab, unmittelbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzugreifen. Damit bleibt nur der mittelbare – mentale und intellektuelle – Einfluss auf die Mitglieder der Gesellschaft als künstlerisches Wirkungsfeld, weshalb sich auch von einer „Wirkungsästhetik“ sprechen lässt. Diese zielt, etwa mit der drastischen Darstellung der Auswirkungen des Krieges, auf die Affekte des Publikums, so in den Bildern von Otto Dix, oder, wie im epischen Theater Bertolt Brechts, auf dessen Vernunft.
Vom Bild zum Kunst-Ding
In dieser Wirkungsästhetik sah die russische Avantgarde das Fortleben eines ausgedienten Kunstkonzepts. Der Konstruktivismus stellte dem eine „Wirklichkeitsästhetik“ gegenüber, denn man wollte die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand künstlerischen Handelns machen und neu schaffen. Das Kunstprodukt sollte nicht länger nur auf die Gesellschaft einwirken. Das „Kunst-Ding“ selbst sollte die menschliche Lebenspraxis durch seine Existenz unmittelbar verändern, denn, so der russische Kunsttheoretiker Alexei Gan 1922 in einem programmatischen Aufsatz, man wolle die „Wirklichkeit nicht darstellen, nicht abbilden, nicht interpretieren, sondern sie real bauen“.
Ähnlich hatte bereits Karl Marx den rein philosophischen Materialismus seines Zeitgenossen Ludwig Feuerbach kritisiert. Marx hatte Feuerbach entgegengehalten, die Philosophen hätten die Welt bisher nur verschieden interpretiert; es gelte jedoch, diese zu verändern. Doch der ästhetische Maximalismus der russischen Avantgarde griff nicht nur auf Marx zurück. Er beinhaltete auch slawophile und mystisch-religiöse Momente.
So wird der Einfluss der Bildkonzeption der ostkirchlichen Ikonentradition deutlich. Anders als das westkirchliche Heiligenbild, ist die Ikone eben nicht nur Abbild, sondern Verkörperung des Göttlichen – in der Ikone sind Urbild und Abbild also substanziell identisch. Sie ist „wirklich“; das macht ihre Wirkungsmacht und Verehrungswürdigkeit aus. Zudem knüpft der Konstruktivismus an Vorstellungen russischer Philosophen wie Wladimir Solowjew oder Nikolaj Berdjajew an, der die menschliche Schaffenskraft als „Anthropodizee“, als Fortsetzung des göttlichen Schöpfungsprozesses in menschlicher Verantwortung begriffen wissen wollte.
Die russische Avantgarde wandte sich also gegen einen traditionellen Begriff von Kunst-Ästhetik, der gegenüber der wirklichen Dingwelt als bloß scheinhaft, als „schöner Schein“ nachrangig ist. Ästhetik sollte nicht länger als gesonderte Sphäre existieren, sondern in der gesellschaftlichen Realität und deren radikaler Transformation aufgehoben werden. Es ist eine Konzeption, die dem Autonomiestatus der Kunst diametral entgegenstand und sich in diesem Sinne als Anti-Ästhetik begreifen lässt.
Diese Grundlagen des Konstruktivismus werden in der aktuellen Ausstellung „The Paper Revolution – Soviet Graphic Design & Constructivism (1920-1930’s)“ im Brüsseler Designmuseum ADAM lediglich angedeutet. Aus Anlass des 100. Jahrestages der Russischen Revolution organisiert, konzentriert sie sich auf den konstruktivistischen Beitrag zur Schaffung der Sowjetgesellschaft. Wie im Beiheft, das BesucherInnen durch die Ausstellung leitet, treffend bemerkt, wurde keines der teils größenwahnsinnig anmutenden konstruktivistischen Projekte tatsächlich realisiert. Und so zählen Flugblätter, Buchumschläge und Plakate zu den wenigen Hinterlassenschaften, die gesellschaftlich wirkungsmächtig und „zum Gesicht des Sowjet-Staates“ werden sollten, und genau sie werden in der Brüsseler Ausstellung gezeigt.
Die Ausstellung umfasst sieben Schaukästen, einige Plakate und ist beschränkt auf einen einzigen Raum. In acht verschiedenen Themen beleuchtet sie die verschiedenen ästhetischen Aspekte des Konstruktivismus, darunter die Bedeutung der Typographie und der Fotomontage für die graphische Gestaltung, sowie den Einfluss des durch Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ bekannt gewordenen Suprematismus als eines radikalen Versuchs, Kunst mittels geometrischer Abstraktion von sämtlichen Gegenstandsbezügen und damit von der alten Welt zu befreien. Abgesehen von den genannten Exponaten, bleibt man beim Besuch der Ausstellung stark auf das rot auf weiß gedruckte Begleitheft verwiesen. Wen man die Lesebrille vergessen hat, wird sich das Vergnügen beim Besuch der Ausstellung daher in engen Grenzen halten.
Vom Kunst-Ding zur Propaganda
Nicht nur in den Sektionen zur Bedeutung der Bilder, der Fotografie und der Magazincover wird indes deutlich, dass der Konstruktivismus im Dienste des Sowjet-Staates wesentlich der eigentlich bekämpften Wirkungsästhetik verhaftet blieb. Denn Mitte der 1920er-Jahre setzten sich die graphischen Gestaltungsprinzipien des Konstruktivismus immer erfolgreicher durch und erwiesen sich, wie etwa die Fotomontage, als effiziente Methoden zur Beeinflussung der Massen. Arbeitstechniken von konstruktivistischen Pionieren der Collage wie Gustav Klucis wurden massiv kopiert und verkamen zum Klischee.
Im Rückblick bedeutete dies, wenn auch von den Protagonisten des Konstruktivismus uneingestanden, den Abschied vom Anspruch der Kunst als Neuschaffung der Wirklichkeit. Hatte der Avantgarde-Theoretiker Ossip Brik 1919 der beeinflussenden Ideenkunst noch entgegengehalten, ein „Künstler, der Ideen produziert, beweist gar nicht; er überredet nur“; brechen die Konstruktivisten wenige Jahre später unerklärt mit ihrem wirklichkeitsästhetischen Anspruch von Ding-Kunst zugunsten von Agitation und Propaganda. „Dieser Schritt wird sich als gleichbedeutend mit der Aufgabe ihrer ursprünglichen Ziele“ erweisen, schreibt die Kunsthistorikerin Verena Krieger hierzu, „und – im Augenblick ihrer scheinbar größten politischen Bedeutung – als Ausdruck ihrer historischen Niederlage“.
Die Hinwendung zur Agitationskunst, darunter herausragende Werke und bis heute wirksame Symbole der russischen Revolution, war jedoch zunehmend auch existenziellen Nöten sowie dem steigenden Druck seitens des Sowjet-Regimes geschuldet, das die KünstlerInnen mehr und mehr zur Anpassung zwang. Letztlich ohne Erfolg: Nicht nur die Avantgarde-Kunst war unter Stalin verpönt, auch viele der KünstlerInnen wurden kaltgestellt, ermordet (von den hier genannten Klucis und Gan), ins Lager gesteckt, in den Selbstmord getrieben (Majakowski) oder, mit dem sozialistischen Realismus, in den künstlerischen Bankrott.
So hat Stalin die Utopie der russischen Avantgarde schließlich in aller Grausamkeit als „unverwirklichbar entlarvt“, wie Verena Krieger schreibt, „indem er demonstrierte, dass es nicht die Künstler sind, die über die gesellschaftliche Gestaltungsmacht verfügen“.
Die Ausstellung „The Paper Revolution – Soviet Graphic Design & Constructivism (1920-1930’s)“ ist noch bis zum 8. Oktober 2017 im Design Museum ADAM in Brüssel (nahe dem Atomium) zu sehen: www.adamuseum.be
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